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»Herr Leiding wird zur Verfügung stehen«

aus DER SPIEGEL 1/1975

SPIEGEL: Herr Birnbaum, keine zwei Monate nachdem Sie den Vorsitz des Volkswagen-Aufsichtsrats übernommen hatten, brach in Wolfsburg eine Führungskrise aus, Leiding reichte seinen Rücktritt ein. Warum?

BIRNBAUM: Ich habe schon nach der letzten Präsidialsitzung am 20. Dezember gesagt, daß Herr Leiding aus gesundheitlichen Gründen uni seinen Rücktritt gebeten hat. Es ist bezweifelt worden, ob es nur gesundheitliche Gründe oder auch andere Motive gewesen sind, die Herrn Leiding zu diesem Antrag veranlaßt haben.

SPIEGEL: Gesundheitliche Gründe waren es sicherlich nicht. Herr Leiding fühlt sich nach eigenen Angaben durchaus gesund und leistungsfähig. Für seine Entscheidung müssen andere Motive ausschlaggebend gewesen sein.

BIRNBAUM: Dazu kann ich nur sagen. daß große Dinge oft viele Ursachen haben. Sicher hat Herr Leiding für seinen Wunsch, den Vorsitz an andere weiterzugeben, mehrere Gründe gehabt ...

SPIEGEL: Vor allem einen: Er meinte, daß er angesichts der Haltung des Aufsichtsrats und einzelner Vorstandskollegen nicht garantieren könne, daß der Konzern so straff und eindeutig geführt wird, wie es die derzeitige Autoflaute im allgemeinen und die angespannte Finanzlage des Volkswagen-Konzerns im besonderen eigentlich erfordern. Verhindert der Aufsichtsrat, in dem die Vertreter der sozial-liberalen Koalition von Bonn und Hannover und die Repräsentanten der Belegschaft über die Mehrheit verfügen, unternehmerische Entscheidungen in Deutschlands größtem Auto-Unternehmen?

BIRNBAUM: Nun, der Aufsichtsrat des Volkswagenwerks ist nicht wesentlich anders zusammengesetzt als der anderer großer deutscher Unternehmen. Wie Sie wissen, bin ich Vorstandsvorsitzender der bundeseigenen Salzgitter AG, deren Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zu 50 Prozent aus Vertretern der Belegschaft, der Betriebsräte und Gewerkschaften zusammengesetzt ist. Und da unser Aktionär die öffentliche Hand ist, ist auch die Bundesregierung in unserem Kontrollorgan prominent vertreten. Und dieser Salzgitter-Aufsichtsrat stand in den letzten sechs bis acht Jahren vor schwierigen Entscheidungen, die stets nach unternehmerischen Gesichtspunkten gefällt wurden.

SPIEGEL: Genau das scheint in Wolfsburg nicht möglich zu sein. Außenstehende mußten zu der Meinung kommen, daß in Vorstand und Aufsichtsrat des Konzerns mehr gegen- als miteinander gearbeitet wurde.

BIRNBAUM: Ja, das mag sein. Aber ich bestreite ganz entschieden, daß daran die Zusammensetzung des Aufsichtsrats schuld war. Ich bin durchaus der Meinung, daß es mit diesem Aufsichtsrat in Wolfsburg gelingen muß und gelingen wird, den innerbetrieblichen Frieden wiederherzustellen. Ich verstehe darunter das intensive, konstruktive Gespräch zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, zwischen Vorstand und Betriebsrat und zwischen Vorstand und den beiden Großaktionären Bund und Niedersachsen. Ohne einen Konsens im Grundsätzlichen wird es nicht möglich sein, die für dieses große Unternehmen notwendigen Entscheidungen zu treffen.

SPIEGEL: Angenommen, die Autoflaute hält an und das Exportgeschäft läuft so mühsam und verlustreich wie derzeit, dann käme der Volkswagen-Konzern kaum daran vorbei, seine Kapazität zurückzunehmen ...

BIRNBAUM: Das ist richtig.

SPIEGEL: Würde der von Ihnen geleitete Aufsichtsrat zum Beispiel Massenentlassungen hinnehmen?

BIRNBAUM: Ich bin sicher, daß sich der Aufsichtsrat, daß sich die Gewerkschaften und Betriebsräte bereitfinden werden, über die offenen Fragen zu diskutieren. Ich stand in Salzgitter vor demselben Problem, und da ist es auch möglich gewesen.

SPIEGEL: Auch Leiding hatte Studien über die Kostenersparnis durch teilweise Betriebsstillegungen anfertigen lassen. Wird es in nächster Zeit bei VW zu Massenentlassungen kommen?

BIRNBAUM: Diese Frage kann ich Ihnen jetzt nicht schlüssig beantworten. Es gibt verschiedene Alternativen. So könnte man zum Beispiel in einem Betrieb die Kapazität ganz stillegen oder bei sämtlichen Werken die Kapazität gleichmäßig zurücknehmen. Aber diese verschiedenen Möglichkeiten sind im Augenblick noch nicht spruchreif.

SPIEGEL: Im Volkswagenwerk gibt es eine Studie über die Kostenvorteile einer weitgehenden Betriebsstillegung des Werkes Neckarsulm.

BIRNBAUM: Diese Studie kennt der Aufsichtsrat nicht. Ich höre zum ersten Mal, daß eine solche Studie existieren soll.

SPIEGEL: Angenommen. die Aufsichtsratsmehrheit würde darauf bestehen, den jetzigen Beschäftigungsstand trotz der dann fälligen größeren Verluste zu halten ...

BIRNBAUM: Das ist keine Alternative, die Sie hier zur Diskussion stellen. Ich komme ja aus einem Staatsbetrieb, aus dem Salzgitter-Konzern, und ich weiß, daß der Bund seine Unternehmen nach unternehmerischen Gesichtspunkten geführt sehen will. Das heißt: Die Gewinn-und-Verlust-Rechnung muß in Ordnung sein. Eine ständige Subventionierung ist kein Ausweg.

SPIEGEL: Sie haben Salzgitter saniert, als es in der Bundesrepublik keinerlei Arbeitslosenprobleme gab.

BIRNBAUM: Das ist nicht richtig. Ich habe 1966 und 1967 in Berlin unsympathische Entscheidungen durchsetzen müssen, als ich die Deutschen Industriewerke mit Zustimmung der Bundesregierung liquidierte.

SPIEGEL: In Salzgitter, wo insgesamt über 20 000 Mitarbeiter gehen mußten, haben Sie erst später saniert, in einer Zeit, als der Arbeitsmarkt leergefegt war.

BIRNBAUM: Ich kann nur wiederholen, der Bund hat niemals Wünsche der von Ihnen angesprochenen Art geäußert. Wir haben schließlich die Werft Finkenwerder in Hamburg mit einigen Tausend Beschäftigten zugemacht. Sicherlich fallen solche Entschlüsse nicht leicht. Aber bei offener und eingehender Beratung mit den Gewerkschaften wird ein Vorstand nach meiner Erfahrung immer das tun können, was er für geboten hält.

SPIEGEL: Zu Beginn des Jahres erhöhte VW die Preise um 3,5 Prozent. Waren auch die Gewerkschafter im Aufsichtsrat damit einverstanden?

BIRNBAUM: Darüber ist der Aufsichtsrat im Dezember unterrichtet worden. Die Entscheidung lag natürlich beim Vorstand.

SPIEGEL: Zur Zeit läuft die Lohnrunde an. Werden die Volkswagen danach noch einmal teurer?

BIRNBAUM: Ich weiß nicht, was die Lohnrunde uns bringen wird. Aber es ist klar, daß durch Erhöhung der Personalkosten die Erträge wieder belastet werden.

SPIEGEL: Leiding hatte jahrelang Streit mit seinem Finanzchef Friedrich Thomée und dem für das Personalressort zuständigen Vorstandsmitglied Peter Frerk. Wird Leidings Nachfolger -- vermutlich der bisherige Chef von Rheinstahl, Toni Schmücker -- sich einen Vorstand nach eigener Wahl wählen können?

BIRNBAUM: Zunächst zu dem von Ihnen genannten Namen. Ich kann Ihre Vermutung nicht bestätigen, weil das erstens aktienrechtlich unzulässig und zweitens gegenüber dem Kandidaten unfair wäre. Unabhängig davon, der Vorstandsvorsitzende eines solchen Unternehmens wie Volkswagen hat eine ganz besondere Verantwortung und deshalb auch das Recht, bei der Entscheidung mitzuwirken, wer hinter und neben ihm stehen soll im Vorstand.

SPIEGEL: Müssen auch andere Vorstandsmitglieder gehen?

BIRNBAUM: Das kann ich nicht ausschließen. Aber darum geht es im Augenblick nicht. Wir müssen die Probleme schön nacheinander lösen. In der von Ihnen angesprochenen Frage muß ich zunächst einmal mit Herrn Leidings Nachfolger sprechen. Ich bin kein Freund von übereilten oder gar emotionalen Entscheidungen.

SPIEGEL: Aber Sie neigen zu der Ansicht, daß die Führungskrise im VW-Konzern nicht nur ein Problem Vorstandschef ist, sondern den gesamten Vorstand betrifft?

BIRNBAUM: Das Problem ist zur Zeit nicht aktuell. Ich bemühe mich jetzt um einen Vorstandsvorsitzenden und werde die Dinge immer nacheinander lösen.

SPIEGEL: Angenommen, der Kandidat würde von Ihnen weitgehende Entscheidungsfreiheit fordern, etwa auch die Genehmigung zur Stillegung ganzer Werke. Könnte der Aufsichtsrat solche Bedingungen akzeptieren?

BIRNBAUM: Dieser Wunsch ist von dem Betreffenden nicht geäußert worden. Im übrigen könnte ich diesen. Wunsch auch gar nicht erfüllen, weil dazu die Zustimmung des gesamten Aufsichtsrats erforderlich wäre.

SPIEGEL: Hat sich der Kandidat das Recht ausbedungen. den Vorstand neu zu besetzen?

BIRNBAUM: Nein, nein. Das kann ich nur klar mit Nein beantworten.

SPIEGEL: Wann wird Ihrer Meinung nach in Deutschlands größtem Auto-Unternehmen wieder ein aktionsfähiger Vorstand regieren?

BIRNBAUM: In aller Kürze. Wir werden am 10. Januar einen neuen Vorstandsvorsitzenden bestellen, der voraussichtlich Anfang Februar sein Amt antritt. Herr Leiding wird durch einen Sondervertrag für die gesamte Modellpolitik zur Verfügung stehen für zwei bis drei Jahre. Damit ist die Kontinuität gesichert. Und ich bin der festen Überzeugung, daß wir in wenigen Wochen einen deutlichen Schritt nach vorn machen und damit die Basis für die erforderlichen strukturellen Entscheidungen schaffen werden.

SPIEGEL: Was meinen Sie mit strukturellen Entscheidungen?

BIRNBAUM: Wir sehen doch, daß die Kapazitäten des Volkswagenwerks heute nur mit knapp 60 Prozent ausgelastet sind. Bei den Schwierigkeiten des Unternehmens handelt es sich nicht nur um konjunkturelle Einflüsse. Uns stellt sich das Problem, das Sie vorhin anschnitten: Ist es möglich, die vorhandene Kapazität auf Dauer durchzuhalten?

SPIEGEL: In der Kontroverse um Leiding hat der Plan eines Volkswagenwerkes in Amerika eine wichtige Rolle gespielt. In letzter Zeit scheint das Topmanagement eine billigere Lösung vorzuziehen, nämlich die Zusammenarbeit mit einem der amerikanischen Autokonzerne, mit Chrysler.

BIRNBAUM: Das ist eine Alternative, die zur Diskussion steht. Der Bau eines neuen Automobilwerks auf der grünen Wiese würde etwa eine Milliarde Dollar kosten, das Modell, das Sie andeuteten. wäre erheblich billiger. All diese Dinge wird der neue Vorstandsvorsitzende anpacken müssen.

SPIEGEL: Und sich damit vermutlich die gleichen Probleme aufladen, die Leiding verschlissen. Das Land Niedersachsen wird versuchen, das Amerika-Projekt zu Fall zu bringen, um Entlassungen des vornehmlich für den Export produzierenden VW-Zweigwerkes Emden zu verhindern. Vermuten Sie, daß der Aufsichtsratsvorsitzende Birnbaum leichteres Spiel hat, wenn er erst seinen neuen Vor. standsvorsitzenden im Amt weiß?

BIRNBAUM: Ich war mir von Anfang an darüber im klaren, daß ich eine schwierige, aber auch eine reizvolle unternehmerische Aufgabe übernommen habe. Und ich neige zu der Auffassung. daß es möglich sein sollte, dieses Unternehmen in fünf Jahren strukturell wieder auf die Beine zu stellen.

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