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SCHULDENKRISE Höher und höher

Die Schuldenkrise in der Dritten Welt ist nicht unter Kontrolle zu kriegen. Zunehmend kommen die Banken unter Beschuß der Darlehennehmer. *
aus DER SPIEGEL 6/1987

Der Name des Vereins klingt verheißungsvoll. »Pariser Club« nennt sich jene Einrichtung, bei der sich in unregelmäßigen Abständen Regierungsbeamte, zumeist natürlich Männer, in der französischen Hauptstadt einfinden. Vergnügliche Anlässe sind es jedoch nicht, wenn die Mitglieder sich zusammensetzen.

Im Pariser Club werden Treffen stets dann anberaumt, wenn irgendeinem Land in der Welt die Zahlungsunfähigkeit droht. Der Club, der sich stets mit einer Aura der Diskretion umgibt, existiert seit 1956.

Argentinien war damals in Zahlungsnot geraten, und Frankreich hatte auf Wunsch der Regierung in Buenos Aires eine Gläubigerversammlung einberufen.

Solche Treffen wiederholten sich bei anderen Gelegenheiten. So entstand eine Einrichtung, in der Gläubiger- und Schuldnerstaaten sich arrangieren können, wenn Staatskredite oder staatlich verbürgte Darlehen notleidend werden.

In den sechziger und siebziger Jahren gab es nur wenige Gelegenheiten zu Club-Treffen. Doch seit dem Ausbruch der Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre sind die Mitglieder des Vereins - ein Beamter des französischen Finanzministeriums führt den Vorsitz - praktisch im Dauereinsatz.

Im Januar gab es wieder besonders viel zu tun. Gleich vier Länder auf einmal drängten im Pariser Club darauf, Zinsen zu stunden und Rückzahlungsfristen zu verlängern: Polen, Gabun, die Philippinen und, an vorderster Front, der größte Schuldner der Dritten Welt, Brasilien.

Das Indiz häufiger Treffs im Club ist untrüglich: Entgegen vielen beschwichtigenden Worten von Wirtschaftspolitikern, Notenbankchefs und Profi-Bankern gibt es gegenwärtig keine Aussicht auf ein gutes Ende der Zahlungskrise. Tag für Tag verkünden die Schlagzeilen auf den Wirtschaftsseiten Alarmierendes aus der Dritten Welt.

»Banken müssen sich auf Verluste in Lateinamerika einstellen«, heißt es da oder: »Nigeria mit Zinszahlungen für Handelsschulden in Verzug«, oder: »Manila auf Kollisionskurs mit Banken«. Es ist nicht böser Wille der Verantwortlichen in Afrika, Asien und Lateinamerika, der zu solchen Schlagzeilen führt. Den Ländern fehlt es tatsächlich an den Mitteln, auch nur die Zinsen zu zahlen. »Die unerträgliche Schuldenlast führt in den globalen Ruin«, fürchtet ein Experte wie John Cavanagh vom Institute for Policy Studies in Washington.

Nach einer Serie von Verhandlungen, in denen sie Zahlungsaufschübe und Neudarlehen über Dutzende von Milliarden Dollar vereinbarten, hatten Politiker und Banker geglaubt, das Schuldenproblem im Griff zu haben.

Sie haben in Wirklichkeit das Problem nur immer weiter vertagt. Zu einem radikalen Schnitt - einem Verzicht auf die gewährten Kredite - mögen sich die amtlichen Unterhändler und die Bankiers nicht verstehen.

Die Geld-Profis aus dem reichen Norden des Erdballs erklärten sich bislang

nur zu einem Aufschub bei der Rückzahlung bereit. Und sie gewährten neue Kredite, die häufig einem einzigen, absurden Zweck dienen: Mit dem frischen Geld zahlen die armen Gläubigerländer die Zinsen auf ihre alten Kredite. So aber wachsen die Schulden höher und höher.

Selbst solche Konzessionen wurden von den Gläubigern im Pariser Club bislang nur dann gewährt, wenn das Schuldnerland ein Abkommen mit den Finanzpolizisten vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zustande gebracht hatte. Das IWF-Sanierungsprogramm galt als Bonitätssiegel.

»Eine Umschuldung staatlicher oder staatlich garantierter Kredite«, beteuerte noch im Herbst die Bonner Regierung, »setzt eine Vereinbarung mit dem IWF voraus.«

Mittlerweile ist die internationale Schuldenmisere allerdings so brisant geworden, daß die Clubmitglieder sich nicht mehr an ihre eigenen Spielregeln halten können. Sie kuschten jetzt vor den Brasilianern, die sich seit Monaten weigern, rabiate Sanierungsprogramme des IWF anzunehmen.

So gewähren nun 16 Gläubigerregierungen Brasilien langfristigen Zahlungsaufschub für überfällige Schulden in Höhe von über vier Milliarden Dollar. »Ein großer Sieg der Brasilianer«, freute sich Finanzminister Dilson Funaro.

Nun kommt auf die Banken eine der schwierigsten Umschuldungsrunden zu, die sie bislang zu bestehen hatten. Brasilien fordert auch von den privaten Geldgebern neuerliche Stundung, niedrigere Zinsen und neue Kredite. Darauf aber mögen sich die Banker ohne ein formelles Abkommen Brasiliens mit dem Währungsfonds nicht einlassen.

Ihre Prinzipientreue werden die Banker wohl nicht durchhalten können. Denn trotz mancher Sanierungserfolge manövriert Brasilien am Rande des Bankrotts.

Der Schuldendienst des Landes - Zinsverpflichtungen und Rückzahlungsraten - macht im Jahr rund elf Milliarden Dollar aus. Das ist so viel, wie das Land zuletzt an Handelsüberschüssen erwirtschaften konnte - und dies auch nur, weil die Regierung strenge Importkontrollen verhängt hat. Die Aussichten auf höhere Ausfuhrerlöse werden zunehmend düsterer: Die Weltkonjunktur wird schwächer, und überall schirmen sich die Regierungen gegen Einfuhren ab.

Brasiliens Regierungspartei forderte daher vor kurzem, den Schuldendienst zunächst teilweise einzustellen.

Die Banken werden jedenfalls mit den Brasilianern kein leichtes Spiel haben. Wie selbstbewußt die Lateinamerikaner inzwischen auftreten, bekam die amerikanische Mellon-Bank zu spüren. Das Geldhaus mochte sich nicht in vollem Umfang an einer Umschuldungsaktion einer Reihe von US-Kreditgebern anschließen. Kurzerhand warf daraufhin die Regierung in Brasilia den Mellon-Repräsentanten aus dem Land. Mellon sei eine Bank, begründete Notenbank-Chef Fernao Bracher, »die ihren internationalen Verantwortlichkeiten nicht gewachsen ist«.

Ähnlich direkt sprechen inzwischen auch anderswo in der Dritten Welt die Schuldenmanager über ihre Geldgeber.

Es liege »sehr im Interesse der Banken«, warnte der philippinische Finanzminister Jaime Ongpin, »es nicht zu einem Kampf mit bloßen Fäusten kommen zu lassen.« Manila erhielt gerade vom Pariser Club ein Umschuldungspaket von rund einer Milliarde Dollar. Jetzt müssen zusätzlich die Banken ran, insgesamt 483 Institute. Schulden in Höhe von fast neun Milliarden Dollar sollen auf viele Jahre gestreckt werden.

Längst denken die staatlichen Wirtschaftslenker in der Dritten Welt darüber nach, wie sie den Schuldenberg verkleinern können, ohne Bares zu leisten. Peru beispielsweise, das im vorigen Frühjahr die Zinszahlungen auf zehn Prozent der Exporteinnahmen begrenzte, will künftig auch mit Waren bezahlen. Argentinien möchte Auslandsverbindlichkeiten in Investitionskapital verwandeln. Wie so etwas funktioniert, machte im vorigen Jahr der japanische Autobauer Nissan in Mexiko vor.

Nissan brauchte für die Erweiterung seiner dortigen Betriebsstätte einen großen Betrag in Landeswährung. Zu diesem Zweck kauften die Japaner bei New Yorker Banken mexikanische Staatsschulden im Nominalwert von 60 Millionen Dollar für nur 40 Millionen Dollar. Die mexikanische Zentralbank tauschte dafür Peso im Gegenwert von 54 Millionen Dollar ein.

Alle waren mit dem Geschäft zufrieden. Die Banken konnten, wenn auch mit einem Abschlag, dubiose Mexiko-Kredite zu Bargeld machen. Nissan hatte die Devisen zu äußerst günstigen Konditionen. Mexiko konnte seine Schulden, wenn auch nur geringfügig, verringern, ohne Devisen aufbringen zu müssen. _(Bei Sao Paulo; Slum-Bewohner durchwühlen ) _(eine Müllhalde nach Verwertbarem. )

Für solche Tauschoperationen, bei denen Bankkredite zu Investitionskapital werden, hat sich mittlerweile sogar ein internationaler Finanzmarkt gebildet. Dauerhaft entschärfen läßt sich die Schuldenbombe mit derlei Transaktionen allerdings nicht. Die Pump-Beträge, um die es geht, sind zu gigantisch.

Die Verschuldung der Dritten Welt schnellte von rund 500 Milliarden Dollar 1980 auf jetzt über 1000 Milliarden. Zwischen 1980 und 1985 erhöhte sich der Schuldendienst von 78 Milliarden auf 114 Milliarden Dollar im Jahr. In der gleichen Zeit verringerten sich die Rohstofferlöse vom Kakao bis zum Kautschuk - wichtigste Devisenbringer der Entwicklungsländer - von 104 Milliarden auf 87 Milliarden Dollar.

Die Finanzkrise macht alle Anstrengungen zunichte, das Elend der Bevölkerung zu mildern. Der Lebensstandard für den größten Teil der Menschen sei auf ein Niveau gesunken, urteilte kürzlich die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, »das vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre«.

Die Entwicklungsländer, die auf ausländisches Kapital für ihre eigene Wirtschaft dringend angewiesen wären, sind inzwischen zu Kapitalexporteuren geworden. 1985 wurden Neukredite und Umschuldungen in Höhe von 41 Milliarden mit den Staaten der Dritten Welt vereinbart. Im selben Jahr aber flossen 114 Milliarden Dollar als Tilgung und Zinsen aus den Entwicklungsländern ab.

Das Ungleichgewicht bedroht das filigrane weltweite Finanznetz. Die Geschäftsbanken in der Industrie-Welt sind, wie die Deutsche Bundesbank kühl vermerkte, »gegenüber bestimmten Schuldnerländern Risiken eingegangen, die in keinem Verhältnis zu ihren gesamten Aktiva und insbesondere zu ihrer Eigenkapitalbasis standen«.

Die deutschen Banken stehen noch vergleichsweise gut da. Sie hatten Ende 1985 Forderungen gegenüber Staaten der Dritten Welt in Höhe von 23 Milliarden Dollar. An den Krediten gegenüber den 15 Hauptschuldnerländern waren die deutschen Geldinstitute mit rund sieben Prozent beteiligt. Bei den US-Banken sind es fast 40 Prozent.

Zum Entsetzen vor allem der amerikanischen Bankenszene sprach ausgerechnet Amerikas Finanzminister James Baker aus, was bislang als Tabu galt: Amerikas Banken müßten sich darauf einstellen, Kredite an wichtige Schuldnerländer in Lateinamerika als verloren abzuschreiben.

Bakers Erkenntnis war für das US-Geldgewerbe so brisant, daß der Minister anderntags einen vorsichtigen Rückzieher machte. Doch ein Spitzenbeamter im Finanzministerium blieb dabei: Bei den Lateinamerika-Engagements der Banken »ist der Dollar nicht 100 Cent wert. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, es wäre nicht so«.

[Grafiktext]

SCHULDENTÜRME Schulden gegenüber dem Ausland in Milliarden Dollar, jeweils letzter Stand Brasilien 108 Mexiko 103 Argentinien 50 Venezuela 35 Polen 34 Philippinen 29 Nigeria 20

[GrafiktextEnde]

Bei Sao Paulo; Slum-Bewohner durchwühlen eine Müllhalde nachVerwertbarem.

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