EINFUHREN Hosen raus
Nummer 5 408 230 wäre etwas für den Winter. Aus blauem, dickem Baumwollgarn, grob gestrickt, mit Reißverschluss am Kragen könnte der Pullover deutsche Männer in der kalten Jahreszeit wärmen - wenn er bald in den Regalen des Handels läge.
Doch dazu wird es nicht kommen. Der Zoll verweigert die Einfuhrgenehmigung - weil der Pullover aus China kommt und EU-Handelskommissar Peter Mandelson Ende Juli einen europaweiten Importstopp für chinesische Strickwaren verhängt hat. Und so hängt Nummer 5 408 230 in den Größen S, M, L, XL und XXL in hundertfacher Ausfertigung im Zolllager auf einer Elbinsel kurz vor Hamburg fest, umstellt von Säcken mit Kürbiskernen und Kartons mit Plastikfußbällen.
»Die Situation ist dramatisch. Die Pullover schmoren im Lager vor sich hin, werden unmodern und müssen schlimmstenfalls vernichtet werden«, sagt Uwe Schröder, Geschäftsführer der Modefirma Tom Tailor. Das Hamburger Unternehmen hatte die Herbst- und Winterware vor sechs Monaten in China bestellt. Die Pullis wurden gestrickt, bezahlt und geliefert. Doch nun dürfen rund 100 000 Stück das Zolllager
nicht verlassen. Schröder rechnet mit Umsatzeinbußen in Höhe von 2,5 Millionen Euro.
Vom plötzlichen Importstopp sind von Gerry Weber über Kaufhof, KarstadtQuelle und Otto bis hin zu kleinen Importeuren und Zwischenhändlern alle betroffen, die in China einkaufen oder produzieren lassen. Der Modeverband German Fashion befürchtet branchenweit Verluste im dreistelligen Millionenbereich.
Der Ärger ist besonders groß, weil nach Jahrzehnten der Handelsbeschränkungen im weltweiten Textilhandel im Januar alle Einfuhrquoten gefallen waren. Industrie und Handel hatten sich auf unbegrenzte Mengen günstiger T-Shirts, Blusen und Strickjacken aus China eingestellt. »Noch im Januar wurde uns von der EU-Kommission schriftlich mitgeteilt, es werde nie wieder Einfuhrquoten geben, und nun passiert plötzlich etwas viel Schlimmeres - ein Embargo«, empört sich Schröder.
Was deutschen Firmen nun das Geschäft vermasselt, ist ein Versuch der Europäischen Kommission in Brüssel, der Textilindustrie in Süd- und Osteuropa inmitten der Kleiderflut aus Fernost das Überleben zu sichern. Nach dem Wegfall der Textilhandelsquoten zu Beginn dieses Jahres waren die Einfuhren chinesischer Kleider in die USA und nach Europa sprunghaft angestiegen. So wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres mehr als fünfmal so viele Pullover aus China in die EU eingeführt als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der importierten Hosen vervierfachte sich.
Um den heimischen Markt zu schützen, beendeten die USA das freie Handelsspiel mit China jedoch im Mai wieder und verhängten einseitig neue Textilquoten. In Europa protestierten Länder wie Italien und Spanien, deren Modeindustrie noch zu großen Teilen im Inland fertigt, gegen die Importflut. Auch in Frankreich wurden Ängste vor billiger Konkurrenz aus Fernost geschürt, vom Verlust Tausender Arbeitsplätze war die Rede.
Um eine »Marktzerrüttung« zu verhindern, vereinbarte EU-Handelskommissar Mandelson schließlich im Juni mit dem chinesischen Handelsministerium, die jährliche Zunahme der Textileinfuhren aus der Volksrepublik in bestimmten Kategorien zu begrenzen. Einen Monat später war als Erstes das Kontingent für Pullover und andere Strickwaren ausgeschöpft.
Die Kommission verhängte deshalb ein Verbot für alle weiteren Einfuhren. Pullover, die seit 11. Juni auf dem Weg nach Europa waren, dürfen nicht mehr eingeführt werden. Seit voriger Woche gilt der Importstopp auch für Hosen, die Quoten für Blusen, T-Shirts und Büstenhalter könnten ebenfalls bald erreicht sein.
Süd- und osteuropäische Textilunternehmer hoffen nun auf bessere Chancen für ihre heimischen Erzeugnisse. »Der Wegfall der Quoten zu Beginn des Jahres hat in Ländern wie Italien und Spanien Zehntausende Arbeitsplätze vernichtet. Nun kann dieser Schock abgefedert werden«, sagt Filiep Libeert, Chef der europäischen Bekleidungs- und Textilorganisation Euratex. Die neuen Quoten bieten jedoch nur vorübergehend Schutz. Von 2008 an erlaubt die Welthandelsorganisation WTO keine Beschränkungen mehr.
Die Arbeitsplätze, die in Süd- und Osteuropa erhalten werden sollen, gibt es hierzulande schon lange nicht mehr. Deutsche Modefirmen haben ihre Produktion bereits vor Jahren nach Osteuropa oder Asien verlagert und kaufen 95 Prozent ihrer Ware im Ausland ein.
Nach dem Wegfall der Quoten zum 1. Januar wurde China zum wahren Einkaufsparadies: Der durchschnittliche Einfuhrpreis für Pullover etwa sank um 42 Prozent. Deutsche Modehäuser begaben sich auf Schnäppchenjagd und importierten in den ersten fünf Monaten dieses Jahres Bekleidung im Wert von 1,4 Milliarden Euro - 51 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Für den neuen Brüsseler Textilprotektionismus hat die Branche daher kein Verständnis. »Was hier passiert, ist Planwirtschaft«, schimpft Thomas Rasch, Hauptgeschäftsführer von German Fashion. Der plötzliche Importstopp trifft die Firmen vor allem deshalb hart, weil davon auch Kleider betroffen sind, die vor Monaten in China bestellt wurden und nun bereits in Prospekten und Katalogen beworben werden. »Im Moment herrscht ein ziemliches Chaos«, sagt ein Sprecher des Metro-Konzerns, »es ist damit zu rechnen, dass einzelne Artikel nicht verfügbar sein werden und die Preise hochgehen.«
Bei Esprit sind derzeit Pullover mit einem Warenwert von sieben Millionen Euro blockiert, bei Gerry Weber hängen 200 000 Strickteile im Zoll fest. Vorstandschef Gerhard Weber befürchtet Schadensersatzklagen von Händlern, falls die Ware nicht fristgerecht geliefert werden kann.
Der Europäischen Kommission wirft der Unternehmer Dilettantismus vor: »Es kann doch nicht sein, dass die EU in bestehende Verträge eingreift. Das können nur Eurokraten gemacht haben, die keine Ahnung haben, wie die Zeitplanung in unserer Branche funktioniert.« Verbandschef Rasch fordert den Schutz von Altverträgen und kündigt eine Verfassungsklage an.
In Brüssel wird aufgrund der Proteste nun über eine Flexibilisierung der neuen Quoten nachgedacht. Entscheidungen sind allerdings nicht vor Anfang September zu erwarten.
So lange können die Unternehmen nicht warten. Tom-Tailor-Geschäftsführer Schröder hat bereits Meterware und halb fertiggenähte Hosen aus China nach Indonesien fliegen lassen: »Hosen raus, haben wir gesagt, und rein in Länder, in denen es dieses Quotenproblem nicht gibt.«
JULIA BONSTEIN