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PETERSBERG Hotte-Hüh

aus DER SPIEGEL 8/1950

Bundeskanzler Adenauer und seine Fachminister mußten sich setzen, als sie nach viereinhalb Stunden vom Petersberg zurückkamen. Die 13 Gebotstafeln, die sie von der alliierten hohen Warte wieder mitbrachten, waren nicht von Pappe. Das diskutierte Memorandum übt die bisher schärfste Kritik an der westdeutschen Wirtschaftspolitik.

Wirtschaftsminister Ludwig Erhard kaute nervös auf seiner Zigarre herum. Er verstand die Welt nicht mehr. Noch vor kurzem hatte ihm ERP-Direktor Paul Hoffman anerkennend die liberale Schulter geklopft. Heute kritisierten ihn die Wirtschaftsberater der Hohen Kommission gerade wegen der Maßnahmen, die ihm das Schulterklopfen eingebracht hatten.

Seit Monaten treibt Paul Hoffman die westeuropäischen Nationalkarren mit lautem Hüh zur Liberalisierung des Warenverkehrs an. Immer das amerikanische Endziel vor Augen, einmal einen geschlossenen Markt Westeuropa ohne komplizierte Zollschranken und Devisen- und Austauschbegrenzungen zu bilden.

Erhard war auf dem besten Wege, Hoffmans Musterschüler zu werden. Nachweislich ging Deutschland bei der Aufhebung der Warenaustausch-Beschränkungen frisch voran So frisch, daß der Devisenbestand unter anderem durch liberalisierte Einfuhren von 500 Millionen DM plus im Juni 1949 auf 1,2 Milliarden minus DM im Januar 1950 zusammengeschmolzen ist.

Die anderen Westeuropäer ließen den Marshall-Stab des freien Handels noch etwas länger im Tornister. England behielt Deutschland gegenüber einen großen Teil seiner Einfuhr-Restriktionen bei (darüber wird jetzt verhandelt). Frankreich verbot teilweise die Metallwareneinfuhr. Andere Partnerstaaten schlossen Deutschland von ihrer Liberalisierung ganz aus.

Hoffman freute sich offensichtlich über den forschen Liberalen Erhard, der den anderen mit gutem Beispiel voranging.

In dem zehnten Gebot machte das alliierte Memorandum jetzt aus dem Hüh ein Hott: »Es ist beunruhigend, festzustellen, daß das Bundesgebiet seine künftigen, durch Exporte entstehenden Einnahmen durch sehr große Importe zu belasten scheint, die nicht notwendig sind. Es ist völlig klar daß die gegenwärtigen Ausgaben für Importe nicht beibehalten werden können«, stand darin.

Professor Erhard hatte für diesen Vorwurf klare Gegenargumente parat »Diese Liberalisierung ist der erste Schritt auf dem Wege zu einem Welthandel, auf dem Deutschland allen Nationen vorangegangen ist. Daß Deutschland diese strukturellen Einseitigkeiten auf sich genommen hat, ist der beste Beweis für seine Friedensbereitschaft'

Den Zwischen-Zeilen-Vorwurf, das deutsche Volk lebe schon wieder zu luxuriös, parierte Erhard mit der Erklärung: »Wenn man heute in den deutschen Läden Apfelsinen, Bananen und Datteln sieht, dann darf man nicht vergessen, daß diese Einfuhren nur durch die Liberalisierung des Handels erfolgt sind. Wenn der Export gesteigert werden soll, muß man den anderen auch abnehmen, was sie verkaufen wollen.«

Der alliierte Paragraph 10 schließt mit der Frage: »Welches sind die überprüften Voranschläge für Export und Import in diesem Jahr? Welche Maßnahmen will die Bundesregierung treffen, um die Exporte zu steigern, durch die dann die notwendigen Importe gedeckt werden können?«

Antwort auf diese Frage sind vorläufig nur kleinlaute 300 Millionen D-Mark, die zur Finanzierung mittel- und langfristiger Exportaufträge in das Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingebaut sind. Außerdem soll zur Förderung des Dollar-Drive künftig für jedes Geschäft nach den USA oder Kanada ein Devisen-Freibetrag in Höhe von 10 bis 20 Prozent des Ausfuhrerlöses vergeben werden.

Neben dem Export ist die westdeutsche Arbeitslosigkeit Hauptpunkt der Kritik vom Petersberg. In Frankreich, England und USA ist es aufgefallen, daß die Bundesregierung mit dem Ansteigen der Arbeitslosenziffer mehr und mehr auf die acht Millionen Vertriebene als »internationales Problem« hinweist.

»Es ist nicht zu bestreiten, daß in der Bundesrepublik heute genügend nutzbringende Arbeit geleistet werden könnte, um alle zu beschäftigen, die arbeiten wollen«, konstatierten die alliierten Wirtschaftsprüfer.

Sie halten das Argument der Bundesregierung, die Beschäftigungslage hinge direkt von einer Auslandshilfe ab, für »wenig überzeugend«. Das Memorandum bezieht sich auf die westdeutschen Berichte an die Marshallplanbehörde Washington, in denen erklärt sei, auch die jetzt vorgesehenen Investitionen könnten ohne ausländische Kapitalunterstützung nicht zur Beseitigung der Kriegsschäden und zur Wiedereingliederung der Vertriebenen ausreichen. Der alliierte Kommentar dazu ist knapp und heftig: Dies kann nur als das Eingeständnis eines vollständigen Fehlschlages angesehen werden.

Kostenlose Ratschläge werden mitgeliefert: »Wenn der Engpaß auf der Finanzierungsseite liegen sollte, müssen Möglichkeiten und Mittel zur Vergrößerung der verfügbaren Fonds für langfristigen Kredit erörtert werden. Und sollte die Gefahr in einer zu starken Nachfrage nach Verbrauchsgütern liegen, müssen Mittel und Wege gefunden werden, um die überschüssige Kaufkraft des Verbrauchers abzuschöpfen oder auf andere Art und Weise zu begrenzen.«

Ganz Hellhörige wittern in den geforderten Beschränkungen den Rückschritt zu Preisstopp und Bewirtschaftungsmaßnahmen. Sogar das Gespräch um die große Koalition kam dabei wieder auf. SPD-Chef Dr. Schumacher fühlte sich zu der Erklärung genötigt, die Frage, inwieweit die SPD in Bonn eine Koalition mit anderen Parteien eingehen werde, könne erst nach Neuwahlen entschieden werden.

Die Verfasser des Memorandums nahmen »weiter zur Kenntnis, daß die Bundesregierung wenig geneigt scheint, die Zahl der Beschäftigten zu vergrößern, da ein Mensch, der mehr arbeitet, mehr Geld ausgeben möchte, als ein Arbeitsloser.« Sie sind darum »nach reiflicher« Ueberlegung zu der Auffassung gekommen, daß die Bundesregierung Wege finden muß, um die Ausgaben der Verbraucher zu verringern.

Durch diesen Passus schimmert vielen Kritikern das englische Austerity-Programm, mit dem die Labour-Regierung in ähnlicher Situation wie Westdeutschland jetzt, im vergangenen Jahr das britische Volk zu Sparmaßnahmen aufrief. Durch Einschränkungen in der Verwaltung und der Dollareinfuhren versuchte England damit seine Außenhandelsbilanz und die innere Lage zu verbessern. Besonders die Dollarimporte von Zucker. Tabak, Baumwolle und Bauholz wurden begrenzt.

Der Erfolg des Programms in England brahte keine endgültige Lösung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Konservativen füllen noch heute ihre Wahlkampfblätter mit Karikaturen, nach denen das mit viel Tamtam angekündigte Programm doch nur »die Geburt eines Mäusleins« gewesen sei.

Laut Paragraph 12 des Petersberger Memorandums haben sich die Berater davon unterrichten lassen, daß auch für eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion in der Bundesrepublik »viel mehr getan werden könnte«.

Der amerikanische dritte Mann unter den Beratern, Robert M. Hanes (gleichzeitig Chef der ECA-Mission in Westdeutschland), erläuterte die Ernährungsaussichten der Bundesrepublik persönlich: »Wenn Deutschland nicht seine eigene Agrarproduktion erhöht, besteht wenig Aussicht, das Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bis 1952 zu erreichen.«

Die Schlußbetrachtungen des alliierten Warnungs-Dokumentes sind düster: Man ist beunruhigt darüber, daß der Oberkommission (bei Ausarbeitung des Memorandums) ein deutsches Programm vorlag, das keinerlei Versprechen für eine bemerkenswerte Wiederbelebung oder eine Konsolidierung bis zum Ablauf des Marshallplanes enthält.

»Das wirtschaftliche Programm der Regierung läßt die Gefahr bestehen, daß Deutschland durch eine ständige Massenarbeitslosigkeit vergiftet wird, die eine ernsthafte Gefahr für ganz Westeuropa darstellen könnte« sind die letzten Worte der 13 Paragraphen.

Konrad Adenauer zerbrach die Gebotstafeln nicht im Zorn, als er vom Petersberg herabstieg zu den Bonnern, die unberührt von Wirtschaftskrisen um das goldene Kalb des Karnevals tanzten. ("Heute Karneval, morgen Krise«, schrieb Londons News Chronicle bissig.) Der westdeutsche Bundeskanzler arbeitet mit seinen Getreuen Wirtschafts-Erhard, Arbeits-Storch, Ernährungs-Niklas und Finanz-Schäffer Gegenargumente und -vorschläge aus

Aber die Veröffentlichung, die durch eine Indiskretion möglich war, blieb peinlich. Auch als die Hohen Kommissare offiziell erklärten, das Memorandum sei ihnen vor Absendung nicht vorgelegt worden und stelle lediglich die Auffassung ihrer Wirtschaftsberater dar.

Adenauer schickte seinen Verbindungsmann Herbert Blankenhorn zu den Alliierten. Blankenhorn ließ sich bei McCloys Stellvertreter, General George P. Hays, melden. Dem sagte er: »Die Bundesregierung bedauert die vorzeitige Veröffentlichung des Memorandums.«

Der General antwortete schlicht: »Ich auch.«

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