PROZESSE Im Grenzbereich
Zwei Jahre lang saß die Hausfrau Karin Räth, 43, fast jeden Mittwoch im Gerichtssaal 101 des Augsburger Landgerichts als Schöffin auf der Richterbank. Stumm verfolgte sie einen der größten deutschen Wirtschaftsprozesse, das Verfahren gegen Axel Glöggler, 38, einst Finanzchef im Textilkonzern seines Vaters Hans.
Doch nach 120 Verhandlungstagen -- es geht um Betrug und Untreue im Zusammenhang mit der Pleite des Konzerns -- wurde die stille Schöffin munter: Sie könne es »nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, die Verhandlungsführung des Gerichts weiter hinzunehmen«. Was aber ihr Gewissen so belastete, mochte sie der Öffentlichkeit nicht verraten.
In einem Brief an Bayerns Justizminister Karl Hillermeier offenbarte sie ihre Nöte und brachte damit den langen Prozeß abrupt zu einem vorläufigen Ende: Die drei Berufsrichter lehnten sich selbst als befangen ab, da der Vorgang geeignet sei, »aus der Sicht des Angeklagten Mißtrauen gegen die Unvoreingenommenheit zu rechtfertigen«.
Der »Eklat von Augsburg«, so Glögglers Verteidiger Sepp-Jörg Zoglmann, ist einmalig in der deutschen Justizgeschichte: Noch nie ist ein Gericht geschlossen und zudem auf Initiative eines Laien-Beisitzers zurückgetreten.
Ebenso ungewöhnlich ist, daß ein Verfahren in einem so späten Verhandlungsstadium platzt. Etwa 1000 Seiten Gerichtsprotokolle, etliche teure Sachverständigen-Gutachten, mehrere Dutzend Zeugenvernehmungen, rund eine Million Mark an Prozeßkosten -- offenbar alles vergebliche Mühe.
Der plötzliche Abbruch kommt der Justiz wahrscheinlich gar nicht ungelegen. Denn im Verlauf der langwierigen Sitzungen wurde immer deutlicher, daß sich Staatsanwaltschaft und Gericht auf einen Prozeß eingelassen hatten, der kaum mehr zu bewältigen war.
Schon während der Ermittlungen kamen die Augsburger Wirtschaftsstaatsanwälte mit der komplizierten Materie nicht mehr zurecht und mußten die Führung an ihre Münchner Kollegen abtreten. Doch auch die von den Münchnern verfaßte Anklageschrift zeigte schon in den ersten Verhandlungsrunden schwere Mängel.
So hatten die Ermittler für den Zeitpunkt des Konzern-Zusammenbruchs eine Überschuldung des Unternehmens von rund 150 Millionen Mark errechnet. Die Rechnung, so ein Gutachten der Deutschen Allgemeinen Treuhand AG, entspreche jedoch »weder den gesetzlichen Vorschriften noch den allgemein anerkannten Grundsätzen der Konzernbilanz«. Auch der vom Gericht hinzugezogene Wirtschaftsprüfer Eugen Gold fand heraus, daß die Firmengruppe eher im Plus, höchstens aber »im Grenzbereich der Verschuldung« gewesen sei.
Damit aber war den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft ein entscheidendes Argument entzogen. Denn die Anklage wegen Untreue und Betruges gründete darauf, daß Glöggler Junior als Vorstand der Textilfirmen HFI, Erba und AKS der Konzernholding seines Vaters Gelder aus diesen Firmen zugeschoben hatte -- obwohl er von der drohenden Konzernpleite gewußt habe.
Nach den Gutachten, so die Meinung des Glöggler-Verteidigers Zoglmann, »hätte man die Akten eigentlich schließen können«. Doch das Gericht machte weiter und verlor allmählich den Überblick. Pannen in der Verhandlungsführung häuften sich.
Schon im Vorverfahren waren der Verteidigung wegen Schlampigkeit des Behördenapparats Stellungnahmen zweier Wirtschaftsprüfer vorenthalten worden. Während des Prozesses dann ließ der Vorsitzende Rudolf Kempter den Schöffen ein Gutachten aushändigen, das noch gar nicht vorgetragen worden war.
»Nur durch Zufall«, so Zoglmann, entdeckten Glögglers Anwälte, daß der Sachverständige Gold in einem Gutachten die »Memoiren« des alten Glöggler ausgewertet hatte -- ein glatter Verstoß gegen die Strafprozeßordnung. Denn die Lebenserinnerungen des nach Kanada geflüchteten und von Interpol gesuchten Seniors waren weder durch die Anklageschrift noch per Gerichtsbeschluß in den Prozeß eingeführt worden.
»Die aktenmäßige Behandlung der Memoiren«, so die Münchner Justizpressestelle, war denn schließlich auch der Grund für die Befangenheit der Richter. Aber wohl nicht der einzige.
Denn im Laufe der letzten Verhandlungsmonate, meint Mit-Verteidiger Bernd Braun, »sind wir einem Freispruch so nahe gekommen«. So war der Glöggler-Sohn nach 15 Monaten Untersuchungshaft zunächst freigelassen worden, schließlich erhielt er sogar den einkassierten Reisepaß zurück und mußte sich nicht einmal mehr bei der Polizei melden.
Ein glatter Freispruch aber hätte für Bayerns Wirtschaftsminister Anton Jaumann peinliche Folgen haben können. Denn dann wäre sein damaliger Eingriff in die Firmenpolitik des Glöggler-Konzerns nur noch schwer zu rechtfertigen.
Jaumann hatte 1975 den alten Glöggler aus dem Unternehmen gedrängt, den Konzern zerschlagen und nur einzelne Firmen mit Staatsbeteiligung weitergeführt. Bei einem Freispruch, meinen zumindest die Verteidiger, hätte Glöggler berechtigte Schadenersatzforderungen gegen den bayrischen Staat.
Daß Jaumann noch, wie beantragt, als Zeuge auftreten muß, braucht er indessen wohl nicht mehr zu befürchten. Es ist wenig wahrscheinlich, daß der Prozeß gegen Glöggler junior noch zum geplanten Ende kommt.
Im Laufe des Verfahrens nämlich kam auch heraus, daß der Vorsitzende Richter Kempter drei Monate lang als Staatsanwalt bei den Glöggler-Ermittlungen mitgewirkt hatte -- ein offenkundiger Gesetzesverstoß.
Damit ist, so Glöggler-Anwalt Braun, schon der Eröffnungsbeschluß, mit dem das Gericht die Anklage zuließ, hinfällig: Die Staatsanwaltschaft könnte nun mit einer schlichten Verfügung das ganze Verfahren einstellen -die Kosten trägt die Staatskasse.
S.74Mit seinem Verteidiger Braun.*