Indien Die größte Mehrwertsteuerreform der Welt

Indiens Mehrwertsteuersystem passte auf keinen Bierdeckel: Alle 29 Bundesstaaten hatten eine eigene Abgabe. Nun gibt es eine Reform, die einen Wirtschaftsboom auslösen könnte.

Das größte Problem der indischen Wirtschaft zeigt sich an den Grenzen zwischen den Bundesstaaten des Milliardenlandes: Zu jeder Tages- und Nachtzeit stehen dort Tausende Lastwagen in langen Schlangen. Der Grund für den Dauerstau ist Indiens hochkomplexes Steuersystem: Alle indischen Bundesstaaten und die Zentralregierung erheben jeweils verschiedene indirekte Steuern und Abgaben. Das führt dazu, dass Gütertransporte an jeder innerindischen Grenze gestoppt und zur Kasse gebeten werden.

Doch mit den langen Schlangen im Leerlauf tuckernder Lkw soll es nun bald vorbei sein: Anfang August verabschiedete das Parlament in Neu-Delhi die Einführung einer landesweiten Mehrwertsteuer. Zwar waren sich Indiens Parteien im Prinzip schon lange einig, dass eine allgemeine und einheitliche Mehrwertsteuer eingeführt werden sollte. Doch aus politischem Kalkül blockierten sowohl die Kongresspartei als auch die BJP von Regierungschef Narendra Modi zehn Jahre lang abwechselnd die Neuerung - je nachdem wer gerade in der Opposition war.

Nun ist der Knoten durchschlagen: Ein Land, eine Steuer. Die einheitliche indirekte Steuer auf Waren und Dienstleistungen (GST) soll die 29 Bundesstaaten und sieben so genannten Unionsterritorien zu einem einzigen großen Wirtschaftsraum zusammenschweißen. Die enorme Bürokratie soll abgebaut und der Warenfluss damit deutlich beschleunigt werden. Spediteure rechnen schon mit bis zu 50 Prozent weniger Kosten, wenn ihre Lkw nicht an jedem Schlagbaum halten müssen.

Steuerreform dürfte Wachstum beschleunigen

Modis Regierung zögerte keinen Augenblick, die Einigung als Meilenstein auf ihrem wirtschaftsfreundlichen Kurs zu feiern. Der Premierminister nannte die Reform eine "wahrhaft historische Gelegenheit". Finanzminister Arun Jaitley lobte die Maßnahme gar als "größte Steuerreform seit der Unabhängigkeit" Indiens von Großbritannien im Jahr 1947. Auch indische Experten jubelten. Mihir Sharma, ein bekannter Wirtschaftsjournalist, nannte die Reform "komplett revolutionär".

Ökonomen sagen Indien aufgrund der Reform ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von bis zu zwei Prozent jährlich voraus: Die neue Mehrwertsteuer könnte Indien zur am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der Welt machen.

Modi würde das helfen: Seinen enormen Wahlerfolg 2014 verdankte er auch der Tatsache, dass viele desillusionierte Inder seinen Versprechen auf bessere Bildung, mehr Arbeitsplätze und schnellere Entwicklung Indiens glaubten. Indiens

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Steuerreform in Indien: Eine für alle

Foto: ARUN SANKAR/ AFP

Wirtschaftsleben wird durch eine Vielzahl von Hindernissen erschwert: Ineffiziente Bürokratie, hohe Inflation und die allgegenwärtige Korruption machen jede Unternehmung zum Kraftakt.

Bevor sich etwas ändert, muss die neue Steuer aber erst einmal umgesetzt werden. So muss die indische Verfassung geändert werden - mindestens die Hälfte aller Regionalparlamente muss dem zustimmen. Immerhin scheint das einigermaßen sicher. Ob die Steuer - wie von der Regierung geplant - jedoch schon ab April 2017 erhoben werden kann, ist fraglich. Noch sind viele Detailfragen ungeklärt, die eine eigens eingerichtete Kommission in den kommenden Monaten beantworten soll.

Bereits durchgesickert: Alkohol, Immobilien und Treibstoff sollen von der GST ausgenommen werden. Ganze Branchen fordern Ausnahmeregelungen: Anbieter von Solarstromanlagen wollen ebenso von der Einheitssteuer ausgenommen werden wie Tourismusunternehmen und Telekommunikationskonzerne.

Kritikern geht die angestrebte Reform nicht weit genug

Die Höhe des Steuersatzes ist ebenfalls noch nicht festgelegt. Die Regierung peilt 17 bis 18 Prozent an. Die Bundesstaaten, für die die indirekte Steuer die einzige Einnahme sein wird, fordern einen höheren Satz von mehr als 20 Prozent. Wirtschaftsfachleute und sozial engagierte Politiker plädieren dagegen für einen niedrigen Satz - die Mehrwertsteuer belastet vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten.

Kritikern geht die Reform nicht weit genug. Sie fordern vor allem eine Generalüberholung der Einkommensteuer. Deren Hauptproblem ist die laxe Zahlungsmoral der Inder. Im Mai veröffentlichte Daten zeigen, dass gerade mal ein Prozent der Bürger des 1,3 Milliarden-Einwohner-Landes das Einkommen versteuert.

Keine Regierung ist dieses Problem bisher ernsthaft angegangen. Denn wenn fast jeder Wähler ein Steuersünder ist, ruft keiner den Steuerfahnder.


Zusammenfassung: Indien hat zum ersten Mal eine allgemeine, einheitliche Mehrwertsteuer, die für alle Bundesstaaten gilt. Die Reform des hochkomplizierten indischen Steuersystems könnte dem Land einen Wirtschaftsboom bringen. Allerdings sind wichtige Einzelheiten der neuen Steuer noch nicht geklärt.

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