Michael Sauga

Politische Folgen der Geldentwertung Der soziale Sprengstoff der Inflation

Michael Sauga
Eine Kolumne von Michael Sauga
Die politische Linke klagt über die Schere zwischen Arm und Reich – und schweigt über die Inflation. Das ist ein Widerspruch.
Olaf Scholz, EZB-Chefin Christine Lagarde (bei einem Finanzminister-Treffen im Februar 2020)

Olaf Scholz, EZB-Chefin Christine Lagarde (bei einem Finanzminister-Treffen im Februar 2020)

Foto: FRANCOIS LENOIR/ REUTERS

Es gab einmal eine Zeit, da verstand sich die politische Linke als Lobby der kleinen Leute. Waren die materiellen Interessen von Geringverdienern, Kleinrentnern oder Sozialleistungs-Empfängern bedroht, fühlten sich Gewerkschafter und Sozialdemokraten, Grüne und Linke zum Eingreifen berufen. »Klassenbewusstsein« nannten das manche von ihnen.

Umso merkwürdiger ist, wie locker das selbst ernannte Fortschrittslager mit einer der aktuell größten Gefahren für die finanzielle Lage der Unterschichten umgeht: der Inflation. Die Ängste davor seien »nicht begründet«, befand der frühere SPD-Chef Norbert Walter-Borjans, als er noch im Amt war. Seine Leute hätten in dieser Frage »keinen Nachholbedarf«, ergänzt IG-Metall-Chef Jörg Hofmann in einem aktuellen SPIEGEL-Interview. Und der Duisburger Ökonom Achim Truger, der für die Gewerkschaften im Rat der Wirtschaftsweisen sitzt, gibt ebenfalls Entwarnung. Zwar werde »die höhere Inflation länger andauern als ursprünglich erwartet«, räumt er ein. Doch »Grund zur Sorge« sehe er »deshalb nicht«. Geldentwertung – für Linke ist das offenbar kein drängendes Problem – und erst recht keine soziale Frage.

Lieber ein Prozent Negativzins als ein Prozent Minuswachstum.

Stattdessen befürworten sie begeistert die Billiggeld-Politik der westlichen Notenbanken, obwohl deren unschöne Verteilungsfolgen seit Langem offensichtlich sind. Während die Guthaben der Kleinsparer durch Niedrig- und Minuszinsen entwertet werden, profitieren die Reichen von der Jagd nach höher rentierlichen Anlagen, die mit der sogenannten unkonventionellen Geldpolitik verbunden ist. Die Topetage bejubelt Aktienhausse und Immobilienboom. Breite Schichten dagegen können sich nicht mal mehr den Kauf einer Eigentumswohnung leisten.

Dass die lockere Geldpolitik die soziale Schieflage befördert, galt der politischen Linken als unvermeidliche Nebenwirkung im Kampf gegen Konjunkturschwäche und Deflation. Lieber ein Prozent Negativzins, so lautete das Motto, als ein Prozent Minus-Wachstum.

Doch inzwischen ist von Konjunkturgefahren keine Rede mehr. Aus dem Anstieg der Vermögen ist eine Inflation der Verbraucherpreise geworden, und selbst glühende Verfechter der Geldflutungs-Politik räumen ein, dass sich die volkswirtschaftliche Bedrohungslage fundamental verändert hat. Mit bis zu sieben Prozent in den USA und fünf Prozent in der Eurozone hat die Teuerung ein Niveau erreicht, das den Lebensstandard breiter Schichten spürbar schmälert.

Allein in Deutschland hat die Inflation die Bürger im vergangenen Jahr rund 80 Milliarden Euro gekostet, so hat die Allianz-Versicherung errechnet; und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Verlust in diesem Jahr eine dreistellige Milliardenhöhe erreicht.

Ein schleichender Wohlstandsfraß hat eingesetzt, der umso zersetzender wirkt, als er sich auf den unteren Stufen der Einkommensskala weit stärker bemerkbar macht als auf den oberen. Während sich die Reichen der Inflation zumindest teilweise entziehen können, indem sie Aktien oder Immobilien erwerben, bekommen die ärmeren Schichten die aktuelle Teuerung mit voller Wucht zu spüren. Energie, Lebensmittel, Mieten: besonders rasant steigen derzeit die Preise jener Güter, die bei Niedrigverdienern einen größeren Anteil am Haushaltsbudget ausmachen als bei Wohlhabenden. »Inflation«, so nannte das der frühere CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm, »ist Diebstahl am kleinen Mann«.

Für Minister Özdemir kann der Anstieg der Lebensmittelpreise nicht hoch genug sein

Eine Erkenntnis, die alles andere als neu, bei den Verantwortlichen in Frankfurt am Main und Berlin aber nicht besonders populär ist. Die Spitzen der Europäischen Zentralbank reden neuerdings viel über Klimaschutz und Nachhaltigkeit, aber kaum über die sozialen Konsequenzen der Geldentwertung. Und die Ampelkoalition feiert sich für eine Mindestlohn-Erhöhung, von der nach Abzug der Inflationsrate nicht viel übrig bleiben wird. Wer in diesen Tagen führenden Politikern der drei Regierungsparteien zuhört, gewinnt nicht gerade den Eindruck, dass sie sich um die Opfer der aktuellen Teuerungswelle allzu viele Gedanken machen würden.

Höhere Lebensmittelpreise? Für Landwirtschaftsminister Cem Özdemir kann der Anstieg kaum hoch genug ausfallen, wie er in seinen Interviews betont. Die Pro-Kopf-Erstattung der CO2-Preise an die Bürger? Steht zwar im Programm von FDP und Grünen, aber nicht im Koalitionsvertrag. Die Berücksichtigung der Inflation im Steuertarif? War ein Dauerbrenner der FDP – solange sie nicht den Finanzminister stellte. Im Übrigen, so lassen die Ampelpolitiker wissen, sind sie für das Thema nicht zuständig. Inflation und Geldpolitik seien Sache der Europäischen Zentralbank (EZB).

Deren Chefin Christine Lagarde wiederum redet das Problem systematisch klein. Noch immer spricht sie von einem vorübergehenden Phänomen, obwohl ihre eigenen Leute für das laufende Jahr erneut eine Geldentwertung voraussagen, die den Zielwert übersteigt. Viel Ökonomen sind überzeugt, dass Energiewende und Arbeitskräftemangel für einen länger anhaltenden Preisdruck sorgen werden. Und in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Neuseeland haben die Zentralbanken das Ruder längst herumgeworfen.

Das ist inzwischen auch hierzulande überfällig. Wer die wachsende Schere zwischen Arm und Reich beklagt, darf über die Inflation nicht schweigen. Sozial ist, was die Preise stabilisiert – und die Teuerungsfolgen mildert. Konkret sollte die Ampel-Regierung überall dort über einen sozialen Ausgleich nachdenken, wo sie selbst die Preise treibt, wie etwa beim Klimaschutz. Und Zentralbank-Chefin Lagarde wäre gut beraten, endlich ein Signal der Entschlossenheit zu senden – und die milliardenschweren Käufe von Staatsanleihen schneller zurückzufahren als bislang geplant.

Andere sind da längst weiter, zum Beispiel Joachim Nagel, der neue Präsident der Bundesbank. »Inflation«, so ließ der Ökonom und Sozialdemokrat bei seiner Antrittsrede wissen, habe »nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Kosten«.

Manchmal zeigt sich Klassenbewusstsein dort, wo man es am wenigsten erwartet.

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