Henrik Müller

Krieg, Knappheiten und kollektive Irrtümer Warum wir uns auf eine lange inflationäre Phase einrichten müssen

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Lange wiegelten die Notenbanker ab: die hohe Inflation – ein vorübergehendes Phänomen. Doch nun steigen die Preise weiter mit einer Rate von 7,5 Prozent. Lässt sich die Preisdynamik noch aufhalten?
EZB-Turm in Frankfurt am Main: Nicht die einzige Notenbank, die die Inflation unterschätzt hat

EZB-Turm in Frankfurt am Main: Nicht die einzige Notenbank, die die Inflation unterschätzt hat

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Frank Rumpenhorst / dpa

Es ist noch gar nicht so lange her, da beschwerten sich Führungsfiguren der Europäischen Zentralbank (EZB) öffentlich über allzu kritische Berichterstattung. Journalisten würden das »Gespenst der Inflation« an die Wand malen, gab EZB-Direktoriumsmitglied Isabell Schnabel im Herbst zu Protokoll : Man beobachte eher eine Normalisierung der Verhältnisse, die Medien in Deutschland aber würden Ängste der Bürger schüren, ohne die Gründe hinter den Preisbewegungen zu erklären.

Das war im September. Die Verbraucherpreise in Deutschland stiegen damals bereits mit einer Rate von 3,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aber der Preisdruck werde schon nachlassen, wenn die Lieferengpässe durch die Pandemie erst mal ausgestanden seien und der statistische Sondereffekt durch die zeitweilige Mehrwertsteuersenkung wegfalle – so lautete die Standardstory der Notenbanker: alles »vorübergehend«, alles unter Kontrolle.

Dieser Tage hat Schnabel ein weiteres Interview gegeben und sagte dem »Handelsblatt« , sie halte die Inflation für »extrem hoch«. Die Preise sind zuletzt mit einer Jahresrate von 7,5 Prozent gestiegen. Nicht nur Energie und Lebensmittel werden teurer, die Preisdynamik hat längst Güter und Dienstleistungen in der Breite erfasst. Umfragen zeigen, dass die Bürger inzwischen mit dauerhaft höheren Inflationsraten rechnen. Gewerkschaften wie die IG Metall fordern folgerichtig mehr als acht Prozent Lohnzuschlag . Längst zeichnen sich jene Zweitrundeneffekte ab, die Inflation zu einem Selbstläufer machen, der sich nur schwer wieder einfangen lässt. Schnabel gibt sich kämpferisch: Reden sei jetzt nicht mehr genug, »wir müssen handeln«.

Ich fürchte allerdings, dass es inzwischen zu spät ist, um die Preisdynamik rasch wieder einzufangen. Womöglich müssen wir uns auf eine lange inflationäre Phase einrichten.

Irrtümer der Notenbanken

Klar, die EZB hat nicht als einzige Notenbank die Inflation unterschätzt. Ähnlich weit daneben lagen die US-amerikanischen Federal Reserve Bank und die Bank of England.

Dennoch sind diese kollektiven Irrtümer bemerkenswert. Denn man musste wahrlich kein Prophet sein, um die Gefahr eines Inflationsschubs nach Abflauen der Coronapandemie frühzeitig zu erkennen.

Dass die gigantischen Krisenprogramme der Notenbanken und Regierungen auf eine Wirtschaft stoßen würden, deren Produktionsmöglichkeiten nach der Pandemie schmaler ausfallen würden, dass dann die Notenbanken energisch auf die Bremse treten müssten – an dieser Stelle haben wir es erstmals im März 2020 diskutiert, und danach immer wieder.

Larry Summers, einst US-Finanzminister unter Bill Clinton, sprach vor einem Jahr vom Szenario einer überschießenden Inflation in den USA und einem folgenden Crash an den Finanzmärkten, weil irgendwann die Zinsen rasch und heftig steigen müssten. Summers sagte ziemlich genau vorher, was derzeit an den Börsen abzulaufen scheint.

Und was tat die EZB? Sie hatte die Option, die Inflationserwartungen frühzeitig einzufangen, ein konkretes Ausstiegsszenario aus den Krisenprogrammen zu entwerfen, erste Schritte einer geldpolitischen Straffung einzuleiten und zu kommunizieren – etwa ein Ende der »negativen Einlagezinsen«, jener Strafgebühren auf Zentralbankguthaben, die auf Dauer die Banken schwächen.

Stattdessen verkündeten die Notenbanker, alles sei auf gutem Weg. Kein Grund zur Sorge. Die Geschichte vom stabilen Geld wurde immer wilder, je weiter sich die Fakten davon entfernten. Die vermeintliche Gewissheit, wonach die Preisstabilität mittelfristig gewährleistet sei und die Zinsen niedrig bleiben würden, bestimmte das Handeln.

Die EZB war mit dieser Haltung nicht allein, die US-amerikanische Federal Reserve lag noch weiter daneben. Aber das macht die Sache nicht besser.

Zeitenwende in der Weltwirtschaft

Die Sorglosigkeit, mit der die Notenbanken die Inflation im vorigen Jahr laufen ließen, fußt auf den Erfahrungen zuvor. Seit der Finanzkrise von 2008 konnten EZB, Fed & Co. praktisch so viel Geld in die Wirtschaft pumpen, wie sie wollten, ohne dass die Inflation nennenswert gestiegen wäre. Die offene, globalisierte Wirtschaft sorgte für ein schier unendlich flexibles Angebot, egal wie viele flüssige Mittel sich in die Märkte ergossen.

Dass diese Ära zu Ende geht, zeichnet sich schon länger ab: Donald Trumps Handelskrieg und Großbritanniens Ausstieg aus der EU deuteten bereits eine Fragmentierung der Weltmärkte an. Der Covid-19-Schock tat sein Übriges, weil er offenbarte, wie fragil die internationalen Produktionsverflechtungen sind – und dass Unternehmen manche Produkte besser in der Nähe einkaufen sollten, auch wenn’s teurer kommt. Die Pandemie hat Verschiebungen in den Wirtschaftsstrukturen angestoßen. Die Ära des hochflexiblen Güterangebots geht zu Ende.

All das ist seit Langem zu beobachten. Ab vorigem Spätsommer zog dann die Inflation tatsächlich messbar an. Spätestens da wäre es an der Zeit gewesen, allmählich gegenzusteuern. Doch die Notenbankerinnen und -banker verpassten den richtigen Zeitpunkt und versuchten stattdessen, den Preisanstieg wegzumoderieren. Das ging schief. Spätestens seit Anfang des Jahres ist unübersehbar, dass die Inflation nicht vorüberzieht wie ein paar dunkle Wolken, aus denen am Ende doch kein Regen fällt.

Jetzt allerdings stecken wir Europäer in einem ganz anderen Szenario. Und das macht es noch schwieriger, die Inflation einzudämmen.

Notenbanken als Abschreckung

Seit dem 24. Februar ist die EZB eine Notenbank im Krieg. Zwar ist die EU nicht direkt an Kämpfen in der Ukraine beteiligt, aber wir sind eindeutig Partei im Angesicht des russischen Angriffskriegs. Boykotte und Embargos sind auf dem Weg. Russland, der größte Energieexporteur der Welt, soll teilweise vom Weltmarkt abgeklemmt werden.

Das hat massive wirtschaftliche Auswirkungen. Das gesamtwirtschaftliche Angebot wird eingeschränkt, Energie und andere Rohstoffe werden knapp und teuer. Die steigenden Energiekosten treiben die Inflationsdynamik zusätzlich an. Auf eine Wirtschaft, die ohnehin mit Liquidität überversorgt war, wirkt jetzt auch noch ein geopolitischer Schock ein.

Dazu kommt: Im Krieg verändert sich die Rolle der Notenbanken. Normalerweise sind sie primär für Preis- und Finanzstabilität zuständig. »In Kriegszeiten« hingegen werde »Unterstützung bei der Staatsfinanzierung« zur zentralen Aufgabe, wie der britische Ökonom Charles Goodhart vor einigen Jahren in einem historischen Rückblick  resümiert hat. Andere Ziele der Notenbanken müssten dahinter zurückstehen.

So wurden die Notenbanken von England und Frankreich einst gegründet, um bei der Kriegsfinanzierung zu helfen. Britanniens Aufstieg zur Weltmacht im 18. und 19. Jahrhundert wäre ohne die Unterstützung der Bank of England kaum möglich gewesen.

Geld ist womöglich die ultimative Ressource im Krieg: Ein Staat, dem mitten im Kampf die finanziellen Mittel ausgehen, hat schon verloren. Eben deshalb hat Wladimir Putin sein Land seit Jahren auf maximale finanzielle Widerstandsfähigkeit getrimmt.

Konkret heißt das in der Gegenwart: Die EZB hat jetzt dafür zu sorgen, dass kein Eurostaat Pleite geht. Sie ist, so gesehen, Teil der westlichen Abschreckung.

Römische Schuldscheine

Der heikelste Fall ist Italien. Das Land schiebt einen Schuldenberg von 2,7 Billionen Euro vor sich her, deutlich höher als der Deutschlands. Seit Langem leidet die italienische Wirtschaft unter blutarmem Wachstum und schrumpfender Bevölkerung. Die Abhängigkeit von russischen Gasimporten macht eine Rezession im Falle eines Lieferstopps wahrscheinlich, was die Schuldentragfähigkeit noch weiter infrage stellt.

Dass die Börsen Italiens Staatsfinanzen sehr genau im Blick haben, zeigt sich am Zinsabstand gegenüber deutschen Bundesanleihen: Weil Anleger fürchten, römische Schuldscheine seien mit einem höheren Pleiterisiko behaftet, ist der »Spread« zuletzt wieder merklich gestiegen. Sollte Italiens Glaubwürdigkeit weiter leiden, kann eine destruktive Eigendynamik einsetzen: Steigende Zinsen könnten die im Krieg notwendige Aufnahme neuer Schulden stark verteuern – und damit die fiskalische Glaubwürdigkeit Italiens weiter unterminieren.

Was Roms Position ein Stück weit absichert, ist die Struktur der Verbindlichkeiten: Mehr als zwei Drittel der ausstehenden Schulden sind langfristig fest verzinst oder liegen bei der Zentralbank. Nur ein Drittel unterliegt dem Risiko rasch steigender Zinsen und Inflationsraten, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) gerade vorgerechnet hat . Zudem hilft der EU-Corona-Hilfsfonds, aus dem Italien fast 200 Milliarden Euro bekommt. Damit lassen sich öffentliche Investitionen finanzieren, ohne dass sie direkt Italiens Staatshaushalt belasten und der Finanzminister dafür Geld am Kapitalmarkt auftreiben muss.

Das Dilemma der Notenbanker

An Italien lässt sich das Dilemma ablesen, in dem die EZB jetzt steckt. Der Schuldenberg ist so groß, dass er letztlich nur durch die Notenbank glaubwürdig abgesichert werden kann. Die Mittel des Euro-Rettungsschirms ESM, der künftig in einen »Stabilitätsfonds« umgebaut  werden könnte, reichen dafür nicht aus. Andere Eurostaaten stehen vor ähnlichen Problemen, aber Italien ist wegen seiner Größe der komplizierteste Fall.

Steigende Zinsen verteuern die Neuverschuldung des Staates. Würde die EZB jetzt heftig auf die Bremse treten, um die Preisdynamik zu dämpfen, womöglich sogar beginnen, Anleihen in ihrem Besitz wieder auf den Markt zu werfen (»quantitative tightening«), könnte dies die Schuldentragfähigkeit massiv schwächen. Nato-Staaten, die im Konflikt mit Russland an den Rand der Pleite geraten, wären sicherheitspolitisch ein Fiasko. So weit darf es nicht kommen.

Inflation hingegen erleichtert über die Jahre die Lasten hoch verschuldeter Staaten, zumal wenn deren ausstehende Verbindlichkeiten fest verzinst sind. Tastet sich die EZB langsam voran, erhöht nur ganz allmählich die Zinsen und kauft immer mal wieder Anleihen auf, um eine Ausweitung der Spreads zu begrenzen, könnte sie zur »Unterstützung der Staatsfinanzierung« beitragen. Die Inflation würde sich womöglich auf einem höheren Niveau als gewohnt einpendeln, vielleicht bei fünf oder sieben Prozent statt bei unter zwei Prozent.

Halten wir das aus? Inflation ist eine Bürde, die gerade die ärmeren Schichten der Bevölkerung hart trifft, zumal wenn die Wirtschaft kaum wächst . Geldentwertung gefährdet die gesellschaftliche und politische Stabilität im Westen, wie das starke Abschneiden der Rechtspopulisten bei den Frankreich-Wahlen kürzlich unterstrichen hat.

Einfache Auswege gibt es nicht. Und je länger der Konflikt mit Russland dauert, desto schwieriger wird die Abwägung zwischen der Stabilität des Geldwerts und der Staatsfinanzen. Der Job der Notenbanker ist extrem anspruchsvoll geworden. Hätten sie früher gegengesteuert, hätten sie jetzt einen Glaubwürdigkeitsbonus, immerhin. Aber schwierig wäre die Situation so oder so. Es gibt Gespenster, die sind gekommen, um zu bleiben.

Die wichtigsten Termine der bevorstehenden Woche

Kiel/Berlin – Nachlese – Ergebnisresümee nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein.

Peking – Globalisierung im Rückwärtsgang? – Chinas Zoll legt neue Zahlen zum Außenhandel vor.

Konzernergebnisse I – Geschäftszahlen von Biontech, Infineon, Hochtief, PostNL.

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