Henrik Müller

Höhere Lebenshaltungskosten Hauptsache Inflation

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Die Notenbanken sorgen sich um die Steuerungsfähigkeit der Wirtschaft - und setzen alles daran, steigende Preise zu liefern. Vielen Bürgern dürfte das überhaupt nicht gefallen.
Fed-Chef Jerome Powell auf einer Pressekonferenz (Archiv): Die Dinge eine Zeit lang laufen lassen

Fed-Chef Jerome Powell auf einer Pressekonferenz (Archiv): Die Dinge eine Zeit lang laufen lassen

Foto: Kevin Lamarque / REUTERS

In dieser Woche kündigte Jerome Powell, Chef der US-Notenbank Fed, an, künftig höhere Inflationsraten anzustreben. Manchmal jedenfalls. Auf Zeiten mit sehr schwacher Preisdynamik, so wie derzeit, sollen Phasen mit mehr Inflation folgen. 

Künftig will die Fed nicht mehr unbedingt gegensteuern, wenn die Preissteigerungsraten über zwei Prozent steigen, sondern die Dinge eine Weile laufen lassen. Der Zwei-Prozent-Schwellenwert soll nur noch im längerfristigen Mittel gelten.

"Viele finden es kontraintuitiv, dass die Fed die Inflation nach oben drücken will", sagte Powell beim diesjährigen Notenbanker-Treffen in Jackson Hole  in Wyoming. Das ist keine Untertreibung.

Steigende Lebenshaltungskosten gehören zu den größten persönlichen Sorgen der Bürger. Auch in Europa: Kein anderes Thema treibt die Bürger in ihrem privaten Erleben so stark um wie steigende Preise, wie sich aus der Eurobarometer-Umfrage  vom Herbst ergibt.

Dennoch bemühen sich Notenbanken seit Jahren um höhere Inflationsraten. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat bei ihren Maßnahmen gegen die Corona-Rezession noch mal nachgelegt. EZB-Chefökonom Philip Lane erklärte  die europäische Krisenantwort in Jackson Hole unter anderem damit, das mittelfristige Inflationsziel von knapp zwei Prozent erreichen zu wollen.

Wörtlich hieß es, man wolle "pandemiebezogene Abwärtsrisiken für den Inflationspfad neutralisieren". Das bedeutet, die EZB strebt höhere Inflationsraten als derzeit an. (Achten Sie am Montag und Dienstag auf neue Zahlen für Deutschland und die Eurozone insgesamt).

Nun gehört Popularität nicht unbedingt zum Jobprofil eines Notenbankers. Früher, als die Inflationsraten immer wieder in die Höhe schossen, machten sie sich regelmäßig unbeliebt, wenn sie die Zinsen anhoben und damit das Wachstum abwürgten. Heute, da die Preissteigerungen extrem gering sind, geben sie sich entschlossen, die Inflation anschieben zu wollen. Es ist nie leicht.

Steigende Preise oder steigende Schulden?

Das wichtigste Argument der Notenbanker gegen niedrige Inflation ist ein technisches: Sie sorgen sich um die Steuerungsfähigkeit der Wirtschaft. Bei Null-Inflation - oder gar Deflation, also sinkendem Preisniveau – und entsprechend ultraniedrigen Zinsen können Notenbanken die Wirtschaft in Krisenzeiten nicht mehr unterstützen.

Deshalb kaufen die großen Zentralbanken derzeit so viele Wertpapiere wie noch nie. Die Zinsen sind bei null, für Einlagen bei der Notenbank sind in der Eurozone und anderswo sogar Strafgebühren fällig. Also pumpen die Notenbanken Geld direkt in die Finanzmärkte. Doch auf Dauer scheint dieses Instrument an Wirkung zu verlieren – weshalb die Aufkaufvolumina immer weiter steigen müssen, um noch Effekte zu erzielen.

Sollten die Inflationsraten so niedrig bleiben wie derzeit, sagt Fed-Chef Powell, dann "hätten wir im wirtschaftlichen Abschwung weniger Spielraum, die Zinsen zu senken und die Beschäftigung zu unterstützen, was unsere Fähigkeit, die Wirtschaft zu stabilisieren, weiter vermindern würde". Anderswo macht man sich ähnliche Sorgen.

Dazu kommt ein weiteres Problem, über das Notenbanker nicht so gern sprechen: Die Schulden von Staaten, Unternehmen und Privatbürgern waren schon vor der Corona-Rezession hoch – eine Spätfolge der Finanzkrise von 2008/09. Nun sind die Verbindlichkeiten noch weiter in die Höhe geschossen. Inzwischen stellt sich die Frage, wie sich die finanzielle Lage ganzer Volkswirtschaften auf Dauer stabilisieren lässt.

Der beste Ausweg sähe so aus: moderate Inflation, verbunden mit ordentlichem Wirtschaftswachstum. Eine boomende Wirtschaft könnte aus den Schulden einfach herausexpandieren. Das hat schon früher funktioniert: In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verschafften sich die USA und Großbritannien, beide zunächst hoch verschuldet, auf diese Weise finanziellen Spielraum.

Leider lässt sich dieser Trick nicht so einfach wiederholen. Das Beispiel Japans zeigt, dass auch eine Kombination aus extrem expansiver Finanz- und Geldpolitik nicht zwingend ausreicht, um Wirtschaftswachstum und Preisdynamik stark genug anzuheizen und die Schuldenlast zu senken. Japans Staatsschulden lagen voriges Jahr bei 240 Prozent der Wirtschaftsleistung (zum Vergleich Deutschland: 70 Prozent). Die Inflationsrate betrug im Schnitt der vergangenen zehn Jahre knapp unter 0,5 Prozent. Ende offen. Dennoch verfolgen nun viele Länder eine Strategie, die der japanischen ähnelt. Sind wir auf dem falschen Weg?

Die historische Norm: Preisstabilität

Wenn man das Inflationsgeschehen über sehr lange Zeiträume betrachtet, sind deutliche Strukturbrüche erkennbar. Das Land, für das die längste Zeitreihe vorliegt , ist Großbritannien. Sie beginnt 1661. Da Großbritannien die erste Volkswirtschaft war, die den Sprung zur Industrialisierung schaffte und über lange Zeit als weltweit führend galt, sind die Ergebnisse über Großbritannien hinaus interessant.

In den Daten lassen sich diverse Phasen erkennen. Die erste dauert ziemlich lange, etwa bis Mitte des 19. Jahrhunderts. In dieser Ära schwanken die Raten wild zwischen Inflation und Deflation: Da steigen die Preise mal um 15 Prozent in einem Jahr und sinken im folgenden um 14 Prozent.

Getrieben wird dieses Auf und Ab von den Agrarpreisen: In einer überwiegend armen, landwirtschaftlich geprägten Volkswirtschaft, in der die Menschen einen großen Teil ihrer Einkommen für Lebensmittel aufwenden müssen, schlagen gute und schlechte Ernten brutal auf die gesamten Lebenshaltungskosten durch. Auch die beginnende Industrialisierung sorgt für kurze, harte Schwankungen: starke Nachfrage in einem Jahr, Überproduktion, volle Lager und Entlassungen im nächsten.

Im langfristigen Durchschnitt jedoch herrschte Preisstabilität. In der Zeit zwischen 1661 und Mitte des 18. Jahrhunderts lag die Inflationsrate im Schnitt bei 0,5 Prozent jährlich, in der Ära der frühen Industrialisierung (etwa 1750 bis 1850) bei 0,7 Prozent, in den folgenden Dekaden bis zum Ersten Weltkrieg dann bei durchschnittlich 0,2 Prozent.

In der Zeit zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und 1913 geschieht jedoch etwas Interessantes: Die Ausschläge werden geringer. Es tritt eine Beruhigung der makroökonomischen Größen ein. Wirtschaftshistoriker bezeichnen diese Phase heute als erste Globalisierung. Nationale Überproduktion konnte ins Ausland verkauft werden, temporäre Knappheiten ließen sich durch Importe lindern. Offene Grenzen und feste Wechselkurse (im Rahmen des Goldstandards) sorgten für eine große Beruhigung der makroökonomischen Größen und damit auch der Preise.

Nach der ersten Globalisierung

Beendet wurde diese Ära durch den Ersten Weltkrieg: Die Grenzen schließen sich, die Umstellung auf Kriegsproduktion und -finanzierung lässt die Inflation in die Höhe schießen. Ähnliches wiederholt sich im Zweiten Weltkrieg.

Nach den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts beginnen die westlichen Volkswirtschaften abermals, miteinander Handel zu treiben, wenn auch zaghaft. Die Währungen sind in den Fünfziger- und Sechzigerjahren an den Dollar gebunden, der wiederum durch Gold gedeckt ist. Die Inflation ist in diesen Jahren moderat.

Diese Phase endet Anfang der Siebzigerjahre, als das System der Gold-Dollar-Bindung zusammenbricht und dann auch noch die Ölkrisen von 1973 und 1979/80 für gehörigen Preisdruck sorgen. In Deutschland steigen die Inflationsraten in der Spitze auf sieben Prozent, in Großbritannien gar auf 23 Prozent.

Ab den Achtzigerjahren lernen die Notenbanken nach und nach, die Inflation in den Griff zu bekommen. Unterstützt wird dieser Prozess durch die wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors, auch des staatlichen, der geringeren Preisschwankungen unterliegt, sowie durch die zweite Globalisierung ab den Neunzigerjahren.

Es beginnt eine erneute Ära der großen Beruhigung, ähnlich wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Offene Grenzen und intensiver Wettbewerb begrenzen den Spielraum für Preis- und Lohnsteigerungen. Die Inflationsraten sind nun wieder niedrig, zwischen den westlichen Volkswirtschaften nähern sie sich an. Es ist die Zeit, als sich die Zwei-Prozent-Norm durchzusetzen beginnt.

Nach der Finanzkrise von 2008/09 und der folgenden schweren Rezession setzt sich dieser Trend fort: Die Inflationsraten gehen im Trend weiter zurück, selbst in Ländern mit akuter Arbeitskräfteknappheit wie der Bundesrepublik. Voriges Jahr stiegen die Verbraucherpreise in den USA und in Großbritannien um 1,8 Prozent, in der Eurozone um 1,2 Prozent. Die Notenbanken versuchen nun, das Zwei-Prozent-Ziel von unten anzusteuern.

Auf diese Konstellation trifft die Coronakrise: ein zunächst herber Einbruch der Wirtschaftsleistung, verbunden mit – vermutlich – nachhaltigen Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen.

"Wir würden nicht zögern, zu handeln"

An den Finanzmärkten zeigt sich derzeit ein gespaltenes Bild: Einerseits scheint die Erwartung zu herrschen, dass die Inflationsraten weiter sinken werden – was sich an der negativen Verzinsung vieler Anleihen ablesen lässt. Andererseits haben offensichtlich viele Anleger Sorge vor einer Geldentwertung – was den historisch hohen Goldpreis erklären würde. Wer hat recht?

Ich tippe darauf, dass das zweite Lager richtig liegt. Natürlich bin ich keineswegs sicher.

Der Rückblick in die Geschichte der Inflation deutet darauf hin, dass Preisstabilität, langfristig gesehen, die Norm ist. Es wäre also denkbar, dass wir dorthin zurückkehren. Dafür sprechen auch ein paar aktuelle Entwicklungen: Die Alterung der Gesellschaften im Westen und in vielen Schwellenländern dämpft die Nachfrage, weil die Bürger mehr sparen, das heißt: tendenziell weniger nachfragen. Dazu kommt die rasch fortschreitende Digitalisierung, die ebenfalls tendenziell Preise und Löhne drückt.

Dagegen spricht, dass Inflation typischerweise einhergeht mit politischen Stresssituationen. Im 20. Jahrhundert führten die beiden Weltkriege und die Ölkrisen zu beschleunigter Geldentwertung. Zusammenbrüche von Staaten ließen in einigen Ländern gar die gesamte Geldordnung implodieren.

Tatsächlich ist die Gegenwart geprägt von schweren Krisen: Das bisherige internationale System samt globaler Institutionen ist in Auflösung begriffen. Das Ringen zwischen den USA und China um Vorherrschaft wird die Präsidentschaft Donald Trumps überdauern. Ob die Globalisierung sich fortsetzt, ist eine offene Frage. Würden Grenzen abermals geschlossen, könnte dies die Inflation schüren.

Bislang entlädt sich der Liquiditätsdruck, den die Notenbanken erzeugen, eher auf den Kapital- als auf den Gütermärkten: Aktien, Anleihen, Immobilien werden teurer, während die gemessenen Lebenshaltungskosten weitgehend stabil bleiben. Aber unsicher, wie die Weltlage ist, können sich die Rahmenbedingungen ziemlich radikal ändern – mit rasch steigenden Preisen als möglicher Folge.

Fed-Chef Powell hat ein solches Szenario offenkundig im Hinterkopf. "Sollte sich exzessiver Inflationsdruck aufbauen", beteuerte er in Jackson Hole, "würden wir nicht zögern, zu handeln." Aber das ist, angesichts des politischen Drucks und der hohen Schulden, leichter angekündigt als getan.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Berlin - Auf der Flucht – Während der mutmaßliche Hauptdrahtzieher des Wirecard-Skandals nach wie vor auf der Flucht ist, setzt sich der Finanzausschuss des Bundestags zur Sondersitzung zusammen.

Wiesbaden – Die Preise im August – Das Statistische Bundesamt gibt die Inflationsrate für August bekannt.

Genf – Abgang – Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO) Azevêdo gibt sein Amt auf. Ein Nachfolger steht noch nicht fest.

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