Thomas Fricke

Kampf gegen die Inflation Wo Christine Lagarde recht hat – und wo nicht

Thomas Fricke
Eine Kolumne von Thomas Fricke
Inflationsrisiken hin oder her: Höhere Zinsen der EZB wären die absurdeste Antwort auf die akut höheren Lebenshaltungskosten. Es gibt bessere Wege, die Kaufkraft zu schützen.
EZB-Chefin Lagarde

EZB-Chefin Lagarde

Foto: THOMAS LOHNES / AFP

Das Gezeter ist groß. Seit Monaten melden die Statistikämter hohe Inflationsraten. Und Europas Zentralbankchefin will trotzdem keine höheren Zinsen in Aussicht stellen – wie das nach hergebrachtem Lehrbuch bei Inflation doch angesagt wäre. So oder so ähnlich polterten Kritiker, schon bevor Christine Lagarde am Donnerstag ihre entsprechend entspannte Grundhaltung kundgetan hat. Ist das nicht irre?

Die erste gängige Antwort lautet, dass die Inflation derzeit eben auch nur vorübergehend höher liegt – wegen vorübergehend höherer Energiepreise und des einen oder anderen Steuereffekts. Und deshalb auch ohne höhere Zinsen zurückgehen wird. Sehr wahrscheinlich. Die zweite Antwort könnte heißen: Selbst wenn das nicht ganz so schnell ginge, würden höhere Zinsen das Problem gar nicht lösen – dafür aber gravierende Nebenschäden mit sich bringen. Gut möglich, dass es deutlich bessere Mittel gegen Kaufkraftschwund gibt – und eine andere Lösung für Europas Währungshüter.

Geht es nach den Lehrbüchern, entsteht Inflation, wenn die Wirtschaft überhitzt und zu viel Geld ausgegeben wird – mehr als die Unternehmen an Angebot leisten können. Dann kann es sinnvoll sein, die Zinsen anzuheben, Kredite so zu verteuern und damit schuldenfinanzierte Ausgaben zu bremsen. Solange, bis die Konjunktur so weit heruntergefahren ist, dass die Unternehmen vor lauter Absatzmangel keine Preise mehr anheben können und wollen.

Logisch. Das hat allerdings mit der Gemengelage im zweiten Jahr dieser historischen Pandemie wenig zu tun. Zumindest im Euroraum. Erstens überhitzt die Konjunktur gerade nicht; die Auftragseingänge für die Industrie sinken, die Wirtschaft hätte im Schnitt sogar noch zehn Prozent Kapazitäten frei, schätzt das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) in seiner neuen Prognose. Zweitens gibt es auch keine klassischen Anzeichen von Inflationsspiralen. Wenn die Preise steigen, hat das vielmehr mit zwischenzeitlich gesenkten und wieder angehobenen Mehrwertsteuersätzen zu tun. Und mit einer im Januar eingeführten CO₂-Steuer. Und mit pandemiebedingten globalen Lieferengpässen, die Unternehmen dazu verleiten, die Preise zu erhöhen. Und vor allem mit drastisch gestiegenen Kursen für Öl und andere Rohstoffe an den internationalen Märkten.

Nimmt man die Energiepreise aus der Rechnung, wird klar, dass es beim Rest der Preise gar keine so dramatische Teuerung gibt – die liegt dann mit rund zwei Prozent zumindest nicht viel höher als üblich.

Würden höhere Zinsen auf hiesige Geldeinlagen und Kredite an irgendeinem dieser Dinge etwas ändern? Unwahrscheinlich. Das würde weder die Anhebung der Steuern rückgängig machen, noch technisch an Lieferengpässen im Suezkanal oder dem Hafen in Rotterdam etwas ändern, wo sich die Container stauen. Und auch die Trends an den internationalen Energiemärkten wären sicher nicht sonderlich beeindruckt. Es sei denn, und hier wird’s kritisch, wenn die Zinsen dazu führen, dass eben weniger ausgegeben und investiert wird, die ohnehin schwächelnde Konjunktur kippt und sich die Nachfrage so an die krisenbedingt vorübergehend eingeschränkten Bedingungen anpasst – nach unten: Inflationsbekämpfung durch eine herbeigeführte Krise; und ohne Behebung der Ursachen. Darauf kommt man wahrscheinlich nur als Ökonom alter Schule.

Das wäre ein bisschen so wie wenn der Arzt gegen Prellungen am Oberschenkel immer gleich Amputation verschreibt (klar, rein fiktives Beispiel). Da ist danach zwar die Prellung weg. Aber eben auch das schöne Bein. Nicht optimal.

Und grotesk: weil Notenbanken ohnehin mit dem Problem umgehen müssen, dass sie nach klassischer Lehre nur einen ganz allgemein wirkenden Zins anheben und senken können – nicht mehrere, von denen einer nur für Branchen gilt, die Preise treiben, und andere nicht. So eine Zinskeule würde umso absurder wirken in einer Lage, in der die neue Ampelregierung gerade über günstigere Abschreibungen versucht, die Unternehmen zu mehr Investitionen in Klimarettung und Digitalausstattung zu treiben.

Am Ende gäbe es im Zweifel Umsatzkrisen und mehr Arbeitslose – und weniger Ausgaben fürs Klima. Und dazu möglicherweise auch noch Panik an den Finanzmärkten, da die Portfolios bisher so zusammengestellt sind, dass sie bei anhaltend niedrigen Zinsen Rendite bringen.

All das könnte passieren, ohne dass dadurch zwingend die Inflation weg wäre. Dabei haben schon die vorliegenden Engpässe gereicht, um die »Erholung vorerst auszubremsen«, so die Kieler Ökonomen. Ohne Zinskeule.

Das wird auch durch den gelegentlichen Verweis auf angeblich strukturell angelegte Inflationsgefahren nicht besser. Inflationsneurotiker unken ja gern, dass wegen nachlassenden Globalisierungsdrucks und zunehmenden Fachkräftemangels die Löhne wieder schneller zu steigen »drohen«. Eine Gefahr? Das wäre nach ein paar Jahrzehnten Billiglohndruck ein Menschheitserfolg – weil so etwas auf Dauer keine Gesellschaft aushält. Wenn es an Fachkräften mangelt, muss nach Adam Marktwirtschaft Riese der Lohn auch attraktiver werden. Das wird auch nicht gleich Hochinflation mit sich bringen. Alles andere ist alt-liberale Hochideologie. Die traut sich selbst Friedrich Merz heute nicht mehr zu vertreten.

Was wirklich helfen würden

Deswegen muss man angesichts höherer Preise nicht in Fatalismus erstarren – und die Leute mit teureren Rechnungen stehen lassen, gerade bei den Energiepreisen. Da braucht es nur eben andere Mittel als den ollen Leitzins, der mehr zu schaden als zu nutzen droht – und die Ursachen nicht behebt.

Wenn Pandemiefolgen zu diesen Ursachen zählen, dann hilft derzeit alles gegen Inflation, was uns die nächsten Wellen erspart – und die Lieferengpässe auflöst. Wozu auch die eine oder andere Maßnahme zum Abbau von Handelsbarrieren beitragen könnte.

Ebenso helfen würde, jetzt nicht unbedingt die nächsten Abgaben zu erhöhen – oder mal wieder Mehrwertsteuern zu senken und wieder anzuheben. Der Würzburger Ökonom Peter Bofinger schlägt stattdessen vor, die CO₂-Steuern immer dann wieder zu senken, wenn die Rohöl- und Energiepreise wie jetzt allzu abrupt gestiegen sind – weil dann ja über die Markt-Energiepreise bereits Anreize gegeben werden, fossile Energien einzusparen. Und die Abgabe umgekehrt umso stärker anzuheben, wenn Energiepreise und Anreize mal wieder abstürzen. Der Vorteil: Für Verbraucher wie Wirtschaft könnten Benzin und andere fossile Energien stetig und planbar teurer werden, statt erratisch je nach Laune auf den Rohstoffmärkten oder in den Palästen von Ölproduzenten wie Russland oder Saudi-Arabien zu schwanken – mit den derzeit zu beobachtenden Panikfolgen.

Nach Bofingers Diagnose wäre es gut, angesichts der derzeit ohnehin hohen Energiepreise selbst die für Januar geplante Anhebung der klimapolitisch an sich ja vernünftigen CO₂-Steuer so lange auszusetzen, bis der Kurshöhenflug vorüber ist.

Das mag Anhänger drastischer CO₂-Preispolitik erschrecken. Auf Dauer könnte es aber sogar fürs Klima vernünftiger sein. Es bringt ja nichts, wenn die Leute nicht mehr mitziehen und wegen Kaufkraftschwunds die zart wachsende Akzeptanz solcher Klimapolitik wieder dahin ist – und die Notenbank zugleich noch dazu gedrängt wird, ihre Zinsen anzuheben. Wenn das nur dazu führt, dass auch die (privaten) Investitionen in die Klimarettung am Ende gebremst werden. Für den viel zitierten Umstieg auf eine klimaneutrale Wirtschaft ist es wahrscheinlich wichtiger, dass das langfristig planbar ist – und die Weltenrettungschancen nicht mit den Kapriolen an den Energiemärkten schwanken.

Wenn etwas an der Haltung der Euro-Notenbanker womöglich nicht stimmt, dann ist es weniger die Einschätzung der Inflation. Problematisch ist und war schon immer, dass die Währungshüter Geld über die Finanzwirtschaft in Umlauf zu bringen versucht haben. Was das Problem mit sich brachte, dass das Geld dann doch ziemlich viel in Aktien oder Immobilien investiert wurde. Finanzzauber.

Die Alternative wäre (gewesen), den Menschen das Geld direkt zukommen zu lassen, sagen die britisch-amerikanischen Ökonomen Mark Blyth und Eric Lonergan . Dann wäre schon viel mehr Geld auch real ausgegeben worden – und es gäbe im Zweifel auch guten Grund, die Zinsen bei robusterer Wirtschaftslage wieder anzuheben.

All das wäre in jedem Fall sinnvoller und glorreicher, als jetzt nach Lehrbuchformeln aus vorpandemischen Schönwetterzeiten einfach mal rumtata die Leitzinsen gegen eine womöglich nur vorübergehend höhere Inflation anzuheben – und die Leute mit weniger Geld dastehen zu lassen.

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