Steuergerechtigkeit "Folter kann auch sehr erfolgreich sein"

Für Deutschlands obersten Steuer-Richter heiligt der Zweck nicht alle Mittel: Rudolf Mellinghoff, Präsident des Bundesfinanzhofs, kritisiert den unkritischen Umgang mit angekauften Steuer-CDs, warnt vor Gerechtigkeitswahn und plädiert für eine grundlegende Reform der Erbschaftsteuer.

SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Mellinghoff, als Präsident des höchsten deutschen Finanzgerichts gehören Sie zu den Spitzenverdienern in der Richterschaft der Republik. Wie viel Steuern zahlen Sie auf Ihr Einkommen?

Mellinghoff: Oberste Richter verdienen in Deutschland gutes Geld. Deshalb zahle ich auf einen erheblichen Teil meines Einkommens den Spitzensteuersatz von 42 Prozent, und ich finde das völlig in Ordnung.

SPIEGEL ONLINE: Der Opposition reicht das aber nicht. SPD, Grüne und Linkspartei wollen die Steuern nach der Wahl kräftig erhöhen, weil die Kluft zwischen Arm und Reich im Land wächst. Ist das Vorhaben berechtigt?

Mellinghoff: Das ist eine politische Frage, über die am Ende die Wähler zu entscheiden haben, nicht die Richter. Wenn wir aber der Statistik des Bundesfinanzministeriums folgen, dann finanzieren die oberen zehn Prozent der Steuerpflichtigen schon heute fast 55 Prozent des Einkommensteueraufkommens. Das zeigt, dass die Bürger mit den breiten Schultern hierzulande auch die meisten Steuern zahlen - und das ist auch richtig so.

SPIEGEL ONLINE: Viele meinen, das sei nicht genug. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den vergangenen Jahren weiter auseinandergegangen. Muss das nicht durch das Steuersystem korrigiert werden?

Mellinghoff: Darüber streiten die Parteien, da mische ich mich nicht ein. Nur so viel: Die Einkommensteuer ist keine Umverteilungsteuer. Sie ist dazu da, die Bürger nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der Finanzierung des Staates zu beteiligen. Und das gelingt offenbar ganz gut, wie die Zahlen zeigen. Wir haben derzeit das höchste Steueraufkommen der Geschichte, die Einnahmen des Staates sind in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als die Inflationsrate. Die Bürger führen also einen wachsenden Teil ihres Wohlstands an die Gemeinschaft ab.

SPIEGEL ONLINE: Der Staat hat aber jede Menge wichtige Aufgaben zu erfüllen, von der Bildung bis zur besseren Finanzausstattung der Kommunen. Haben SPD und Grüne nicht recht, wenn sie dafür mehr Geld fordern?

Mellinghoff: Es gibt immer gute Gründe, Geld auszugeben. Die Diskussion darüber, wo man Ausgaben einsparen kann, ist aber mindestens genauso wichtig. Nur ist das für die Politik meistens die unangenehmere Diskussion. Deshalb steigt der Finanzbedarf des Staates ständig. Im Übrigen ist die Frage der steuerlichen Gerechtigkeit nicht nur eine Frage nach den Steuersätzen für Arm und Reich. Mindestens genauso wichtig ist, ob die gesetzlich festgelegten Abgaben auch entrichtet werden. Was nützen gerechte Steuergesetze, wenn die Steuern nicht nach Recht und Gesetz gleichmäßig erhoben werden?

SPIEGEL ONLINE: Machen Sie sich da Sorgen?

Mellinghoff: Allerdings. Wenn ich sehe, wie leicht zum Beispiel große ausländische multinationale Unternehmen ihre Gewinne in Steueroasen verlagern und ihre reale Steuerlast auf nahezu null drücken können, sehe ich erhebliche Probleme. Über solche Fälle sollte man reden, bevor man für die breite Masse die Steuern erhöht. Auch im Inland stellen wir bei vielen Abgaben erhebliche Vollzugsdefizite fest.

SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?

Mellinghoff: Der Bundesrechnungshof hat vor kurzem die Steuerbescheide für Bürger analysiert, die aus beruflichen Gründen zwei Wohnsitze haben. Das Ergebnis war, dass die Steuer in keinem einzigen der untersuchten Fälle korrekt ermittelt worden war.

SPIEGEL ONLINE: Es ist eben nicht so einfach, alle Kostenpositionen korrekt zu erfassen. Trotzdem muss man es versuchen, wenn man dem Einzelfall gerecht werden will.

Mellinghoff: Der Versuch, jedem Einzelfall gerecht zu werden, führt eben nicht immer zu einer gerechten Besteuerung. Die teilweise übertriebene Sehnsucht nach Einzelfallgerechtigkeit trägt zu der gegenwärtigen Misere bei. Im Bestreben, jedem Sonderfall gerecht zu werden, haben wir das Steuerrecht so kompliziert gemacht, dass es kaum noch vollziehbar ist. Ein Beispiel ist die steuerliche Berücksichtigung der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Hier wäre es sinnvoll, allein auf die tatsächliche Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abzustellen. Wir leisten uns aber komplizierte Sonderregelungen.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Mellinghoff: Unser Steuerrecht sieht eine ergänzende Ausnahme vor, wonach auch längere Strecken berücksichtigt werden können, wenn sie verkehrsgünstiger sind. In der Folge überlegt natürlich jeder, ob er nicht eine längere Fahrtstrecke geltend machen kann, und die Finanzämter müssen prüfen, ob das gerechtfertigt ist. Auf diese Weise überfordern wir den Staat, denn wir haben gar nicht genügend Finanzbeamte und Geld, um jeden einzelnen Fall zu überprüfen. Die bessere Strategie wäre, unser Steuerrecht mit Hilfe von mehr Pauschalen und Typisierungen einfacher zu machen.

SPIEGEL ONLINE: Aber da ist doch in den vergangenen Jahren einiges geschehen. Der Gesetzgeber hat eine Reihe von Vergünstigungen, Subventionen und Ausnahmeregeln abgeschafft.

Mellinghoff: Sie haben recht. In Teilbereichen hat der Gesetzgeber erste Schritte unternommen. Das Problem ist nur, dass an anderer Stelle neue komplizierte Regeln hinzugekommen sind. Beispiele sind Sonderregelungen für Unternehmen wie die Besteuerung der Funktionsverlagerung oder die sogenannte Zinsschranke. Hierbei handelt es sich um hochkomplexe Regelungen mit neuen Begrifflichkeiten und schwierigen Abgrenzungsfragen. Im Übrigen darf man auch nicht vergessen, dass die Kommunen ständig neue Steuern erfinden, wie zum Beispiel die Bettensteuer, die Pferdesteuer oder andere Bagatellabgaben.

SPIEGEL ONLINE: Den Befürwortern höherer Steuern geht es doch nicht um ein paar Bagatellabgaben oder Ausnahmeregelungen. Sie wollen die Vermögensteuer wieder einführen, um auch die Superreichen der Republik stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen. Was halten Sie davon?

Mellinghoff: Ob eine Vermögensteuer eingeführt wird oder nicht, ist eine politische Entscheidung, die ich als Richter nicht zu bewerten habe. Allerdings sehe ich Probleme, wenn nicht das gesamte Vermögen einer Person gleichmäßig erfasst wird. Wenn zum Beispiel das Betriebsvermögen oder das unternehmerische Vermögen ausgenommen werden, wird es zu komplizierten und schwierigen Abgrenzungsfragen kommen. Unabhängig von den Vollzugsproblemen stellen sich dann auch Gerechtigkeitsfragen.

SPIEGEL ONLINE: SPD und Grüne wollen die Steuer doch nur deshalb auf große Privatvermögen konzentrieren, um keine Arbeitsplätze zu gefährden. Was ist dagegen einzuwenden?

Mellinghoff: Natürlich ist gegen ein solches Ziel nichts einzuwenden. Es stellt sich aber die Frage, ob dies gelingen kann. Man muss sich auch immer die Frage stellen, wie jemand reagiert, wenn er hört, dass nur das Privatvermögen, nicht aber das Unternehmensvermögen besteuert wird.

SPIEGEL ONLINE: Mit welcher Reaktion rechnen Sie?

Mellinghoff: Natürlich wird jeder versuchen, betriebliches oder unternehmerisches Vermögen zu bilden. Und dann stellen sich komplizierte Abgrenzungsfragen, denn es ist sehr schwer, eine klare Grenze zwischen Privatvermögen und unternehmerischem Vermögen zu ziehen. Gesetzgeber und Rechtsprechung müssen dann viele Abgrenzungsfragen klären; zum Beispiel: Gehören nur die Anteile an einer Personengesellschaft oder auch die Aktien an einem großen Konzern zum Unternehmensvermögen? Und ändert sich an der Beurteilung etwas, wenn ein mittelständischer Betrieb an die Börse geht? In dem Moment, wo Sie versuchen, Vermögensarten unterschiedlich zu behandeln, stellen sich Abgrenzungsfragen.

SPIEGEL ONLINE: Aus ähnlichen Gründen hält Ihr Gericht die Erbschaftsteuer für grundgesetzwidrig und hat sie zur Klärung dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Wäre Ähnliches auch für eine wiedereingeführte Vermögensteuer zu erwarten?

Mellinghoff: Das kann ich nicht sagen, weil ja noch überhaupt kein Gesetz vorliegt. Wenn allerdings verschiedene Vermögensarten unterschiedlich behandelt werden, muss diese Differenzierung gut begründet und nachvollziehbar sein. Das ist aber nach Auffassung des Bundesfinanzhofs bei der Erbschaftsteuer nicht der Fall. Im Gegenteil, hier gibt es erhebliche Gerechtigkeitsdefizite. Wenn zum Beispiel 100 Wohnungen im Privatvermögen vererbt werden, kann eine hohe Erbschaftsteuer anfallen. Werden aber 400 Wohnungen in einem Immobilienunternehmen vererbt, kann die Erbschaftsteuer nahezu vollständig vermieden werden, obwohl man bei 400 Wohnungen eine höhere Leistungsfähigkeit unterstellen darf. Man muss kein promovierter Steuerjurist sein, um zu erkennen, dass ein solches Ergebnis nicht stimmen kann.

SPIEGEL ONLINE: SPD und Grüne wollen auch den Zugriff auf Vermögen im Ausland. Mit dem Ankauf von Steuer-CDs aus der Schweiz wollen sie Steuerflucht bekämpfen. Ist das legitim?

Mellinghoff: Bei Schwarzgeldkonten in der Schweiz geht es nicht um Steuergestaltung, sondern um Steuerhinterziehung. Die gehört hart bestraft. Da sind sich auch alle einig. Aber hier stellt sich eine andere Frage im Rechtsstaat: Ist jede Ermittlungsmethode erlaubt? Ist es richtig, wenn die Finanzverwaltung Daten für etliche Millionen erwirbt, die möglicherweise rechtswidrig oder strafbar erlangt wurden?

SPIEGEL ONLINE: Und, ist es eine richtige Maßnahme?

Mellinghoff: An dieser Vorgehensweise stört mich am meisten, dass der Bundestag nicht ansatzweise darüber debattiert hat, dass es bis heute aus meiner Sicht keine hinreichende gesetzliche Ermächtigung für den Ankauf dieser Daten durch die Finanzverwaltung gibt. Das Problem besteht ja nicht nur in Bezug auf das Ausland. Auch aus deutschen Unternehmen werden den Finanzämtern immer wieder Datenträger angeboten, die Steuerhinterziehung belegen sollen.

SPIEGEL ONLINE: Das Verfahren war doch sehr erfolgreich.

Mellinghoff: Aber nicht jeder Erfolg heiligt die Mittel. Folter kann auch sehr erfolgreich sein. Dennoch will niemand sie als Mittel der Beweiserhebung einführen. Der Staat begibt sich in eine rechtliche Grauzone. Eine Zeitung hat berichtet, dass in einem Fall die Daten auf den CDs nicht ausreichten und dass der Informant aufgefordert wurde, zusätzliche Daten und Informationen zu beschaffen. Es kann doch nicht sein, dass der Staat zu Straftaten anstiftet, um seine Steueransprüche durchzusetzen. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig.

SPIEGEL ONLINE: Dürfen die Daten denn dann überhaupt genutzt werden?

Mellinghoff: Wenn der Staat planmäßig und dauerhaft zu solchen Maßnahmen anstiftet, dann kann es durchaus sein, dass ein Gericht einmal ein Verwertungsverbot solcher CDs erlässt.

SPIEGEL ONLINE: Ist es schon planmäßig, wenn der Staat ankündigt, dass er alles ankauft?

Mellinghoff: Auch darüber werden einmal die Gerichte zu befinden haben. Generell gilt: Der Staat sollte stets den rechtsstaatlich einwandfreien Weg einschlagen und Wildwest-Manieren vermeiden.

SPIEGEL ONLINE: Der Fiskus ist, wenn es um neue Steuern geht, sehr erfindungsreich. Gegenwärtig steht die Finanztransaktionsteuer, die die Banken an den Kosten der Finanzkrise beteiligen soll, hoch im Kurs.

Mellinghoff: Da stellen sich unzählige Fragen. Fest steht jedenfalls schon jetzt, dass die dadurch ausgelöste Steuerlast nicht nur bei den Banken landet. Die Institute werden vielmehr versuchen, die neue Steuer auf ihre Kunden abzuwälzen. Dadurch kommt es zu ganz unterschiedlichen Belastungen der Bankkunden.

SPIEGEL ONLINE: Wäre es da nicht gerechter, die Politik würde die Kreditinstitute direkt zur Kasse bitten?

Mellinghoff: Die Frage müssen Sie den Politikern stellen, als Präsident des Bundesfinanzhofs ist mir da eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Auf jeden Fall wäre es problematisch, unterschiedliche Anlageformen mit unterschiedlichen Steuersätzen zu belegen. Das führt zwangsläufig zu Ausweichreaktionen und beeinflusst Anlageentscheidungen. Darüber hinaus stellen sich Fragen einer gleichmäßigen Besteuerung.

SPIEGEL ONLINE: Die jetzige Bundesregierung ist mit dem Ziel angetreten, das Steuerrecht einfacher und gerechter zu machen. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Mellinghoff: In einigen Bereichen ist sie tatsächlich vorangekommen, zum Beispiel bei der Vereinfachung des steuerlichen Reisekostenrechts.

SPIEGEL ONLINE: Ein imposanter Fortschritt.

Mellinghoff: Bei den großen Themen, die sie sich vorgenommen hatte, etwa der Bereinigung der Mehrwertsteuer mit ihren beiden unterschiedlichen Tarifen, hat sie ihre Absicht aufgegeben. Während dieser Legislaturperiode war die Bewältigung der Euro-Krise das dominierende Thema der Finanzpolitik. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis.

SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Mellinghoff, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Christian Reiermann und Michael Sauga
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