JAPAN »Kämpfe, Vati«
Wenn Shigemi Watanabe die Grabstätte ihres Mannes pflegt, sieht sie in der Ferne seinen einstigen Arbeitsplatz - das Stahlwerk von Kawasaki Steel in der japanischen Industriestadt Kurashiki. Dann erfaßt sie wieder der Schmerz über den Selbstmord ihres Mannes, und die Wut auf Kawasaki kommt hoch.
Für den leitenden Angestellten Junichi Watanabe, 41, sollte der 20. Juni 1991 eigentlich ein ganz normaler Arbeitstag werden: Lieferpläne überprüfen, Rationalisierungsvorschläge erarbeiten, nörgelnde Kunden beschwichtigen, die eigene Truppe zur Eile drängen.
Und wie immer sollte es ein langer Tag werden: Üblicherweise arbeitete Junichi von morgens sieben bis gegen Mitternacht. Oft wurde es noch später. Selbst an seinen freien Wochenenden schuftete der Vater zweier Söhne.
Doch an jenem Sommertag beendete Watanabe seinen Dienst ungewöhnlich früh. Nachmittags gegen fünf Uhr verließ er sein Büro, stieg auf das Dach des Firmengebäudes und stürzte sich aus 25 Meter Höhe in den Tod.
Der Selbstmord während der Dienstzeit unterbrach die geschäftige Routine bei Kawasaki Steel nur für kurze Zeit. Mit Überarbeitung, versuchte Watanabes Vorgesetzter die fassungslose Witwe zu beruhigen, habe der Vorfall nichts zu tun. Daß der Kollege besonders hart gearbeitet habe, könne man nun wirklich nicht behaupten.
Als sie diese Worte hörte, sagt Shigemi Watanabe, habe sich ihr Schmerz in Wut verwandelt. Seitdem kenne sie nur ein Ziel: Das Ansehen ihres Gatten zu retten.
»Kawasaki hat Junichi in den Tod getrieben«, sagt sie zornig. Und um zu beweisen, daß ihr Mann wegen seiner extremen Arbeitslast in den Tod sprang, haben sie und ihre Söhne den japanischen Stahlkonzern auf rund 125 Millionen Yen (etwa 1,7 Millionen Mark) Schadensersatz verklagt.
Immer häufiger klagen in Japan Hinterbliebene verstorbener Arbeitnehmer auf Schadensersatz - und immer häufiger mit Erfolg. Viele Angehörige geben sich mit den lapidaren Befunden auf den amtlichen Totenscheinen wie Freitod, Gehirnschlag oder Herzversagen nicht mehr zufrieden. Für sie lautet die wahre Todesursache: »Karoshi« - Tod durch Überarbeitung.
Auf der Anklagebank sitzen nicht nur einzelne Konzerne, es geht um die inhumane Arbeitskultur der gesamten »Japan AG«. Daß japanische Unternehmen ihr Personal gern hart und lange schuften lassen, ist nicht neu.
Doch im Zuge der jüngsten Rationalisierung, mit der auch Japans Unternehmen auf die Globalisierung reagieren, nehme die Belastung einzelner unerträglich zu, kritisiert Rechtsanwalt Kazunari Tamaki, der in Tokio einen Notruf für Angehörige von Karoshi-Opfern betreut.
Angesichts einer im Weltvergleich beneidenswert niedrigen, doch für Japan beunruhigend hohen Arbeitslosigkeit von 3,4 Prozent ist in viele Firmen ein rauher Ton eingekehrt. Wo lebenslange Arbeitsplatzgarantie und automatische Beförderung vorher ein Gefühl von Sicherheit vermittelten, prägt jetzt Angst die Atmosphäre. Es wird geschuftet - oft bis zum Umfallen.
Immer mehr Japaner stöhnen über Streß durch Arbeit und immer mehr begehen Selbstmord, sagt Notrufberater Tamaki. Grenzten die Firmen überzähliges Personal bislang durch Bosheiten aus - indem sie höheren Angestellten etwa einen Besen in die Hand drückten oder ihnen das Telefon wegnahmen -, geht es neuerdings brutaler zur Sache: Angestellte klagen sogar über Schläge ins Gesicht, berichtet die unabhängige Manager-Gewerkschaft in Tokio.
Auch Japans Nationale Polizeibehörde macht »arbeitsbezogene Probleme« für zunehmende Selbstmorde verantwortlich. Allein im Jahr 1995 erhöhte sich die Zahl der Selbstmorde in Japan um 15,5 Prozent, vor allem bei den über 50jährigen. In Tokio kommen immer öfter Pendler zu spät zur Arbeit, weil sich Lebensmüde vor die Züge werfen.
Die ratlose Bahngesellschaft JR rüstete ihre Bahnsteige mit zusätzlichen Neonleuchten aus und ließ die Bahnhofsvorsteher ihrer Chuo-Linie gemeinsam im Shinto-Schrein beten. Doch ohne Erfolg: Erst kürzlich sprang ein hoher Regierungsbeamter vor den Zug. Wegen der Etatberatungen hatte er die Nächte am Arbeitsplatz verbracht.
Auftrieb erhielt die Welle von Karoshi-Prozessen durch ein spektakuläres Urteil vom vergangenen Jahr: Ein Tokioter Zivilgericht verurteilte Japans größte Werbeagentur Dentsu in erster Instanz zur Zahlung von 126 Millionen Yen (rund 1,7 Millionen Mark) Schadensersatz - eine Rekordsumme. Durch ein exzessives Arbeitspensum von schätzungsweise 4000 Stunden im Jahr habe die Firma ihren erst 24jährigen Angestellten Ichiro Oshima in den Selbstmord getrieben, sagte der Richter.
Die Agentur legte gegen das Urteil zwar Berufung ein, doch Japans Regierung beginnt allmählich umzudenken: Das Arbeitsministerium, bisher eher auf seiten der Firmenchefs, wies schon im vergangenen Jahr seine Beamten an, durch Arbeitsstreß bedingte Todesfälle großzügiger als Betriebsunfälle anzuerkennen. Allein im Jahr 1996 registrierte Japans Arbeitsunfall-Versicherung 76 Karoshi-Fälle - 150 Prozent mehr als im Vorjahr.
Für Japan sei die neue Praxis ein Fortschritt, reiche aber noch lange nicht aus, bemängelt Kardiologe Ryozo Okada von der Juntendo-Klinik in Tokio. Allein die Zahl der Karoshi-Opfer, die an Herzversagen sterbe, sei etwa zehnmal höher als offiziell beziffert.
So weigerte sich zunächst das örtliche Amt für Arbeitsstandards in Toyota City, den Herztod eines 53jährigen Klempners als »arbeitsbedingt« anzuerkennen. Der Mann war zu Hause zusammengeklappt, nachdem er in der Woche zuvor 69 Stunden regulär gearbeitet und dazu noch 37 Überstunden und 14 Stunden Nachtarbeit geleistet hatte. Im Januar revidierte das Amt seinen Entscheid - nun erst konnten die Hinterbliebenen Geld von der Betriebs-Unfallversicherung bekommen.
Verläßliche Statistiken oder eine medizinische Definition für den Begriff Karoshi gibt es bislang nicht. Vor allem bei Selbstmorden haben Hinterbliebene nach wie vor praktisch keinen Anspruch auf Betriebs-Unfallrente - es sei denn, sie lassen sich auf langwierige und nervenzehrende Gerichtsverfahren ein.
Die Beweislage ist oft schwierig: Schon wenn sie simple Beweise für den Tod durch Überarbeitung sammeln wollen, stoßen Hinterbliebene auf schier unüberwindbare Hürden. Viele japanische Firmen besitzen keine Stechuhren - so auch Stahlhersteller Kawasaki.
In Japan beginnt der Feierabend meist erst, wenn der Chef sich von seinem Fensterplatz im streng hierarchisch aufgeteilten Großraumbüro erhebt und das Jackett anzieht. Und dann geht es meist nicht nach Hause, sondern auf anstrengende Zechtour durch Kneipen oder Karaoke-Bars.
Im Interesse der betrieblichen Harmonie erwarten viele japanische Firmen vom Personal stillschweigend unbezahlte Gefälligkeitsüberstunden. Über die Mehrarbeit wird nirgends Buch geführt, und auch in der offiziellen Statistik des Arbeitsministeriums taucht sie nicht auf.
Laut Arbeitsministerium arbeiten die Japaner jährlich nur 1930 Stunden. In der Glanzbroschüre des japanischen Außenministeriums »Neues aus Japan« heißt es, damit hätten die Japaner mit einer Wochenarbeitszeit von 39 Stunden sogar mit dem auch in Asien berühmten »Freizeitpark Deutschland« gleichgezogen.
Doch die Rechnung täuscht: Dem japanischen Amt für Management und Koordination zufolge, dessen Statistik neben der bezahlten auch die tatsächlich getane Arbeit erfaßt, arbeiteten die Japaner im Fiskaljahr 1995/96 durchschnittlich 43,4 Wochenstunden - zwölf Minuten länger als im Vorjahr.
Auch beim Urlaub spiegeln die offiziellen Angaben nicht die Realität: So hatte Junichi Watanabe zwar offiziell Anspruch auf 40 Tage bezahlten Jahresurlaub, inklusive der Feiertage. Tatsächlich erschien der pflichtbewußte Angestellte in den letzten sechs Monaten seines Lebens nur an zwei Tagen nicht in der Firma - es waren die gesetzlichen Feiertage.
Vorbei sind die goldenen Zeiten der Hochkonjunktur der späten Achtziger. Mit Poster-Kampagnen ("Ruhe Dich aus, Nippon!") und Entspannungstips drängten amtliche und private Freizeitexperten damals die ungläubigen Landsleute, doch bitte weniger zu arbeiten. Damit wollte die Regierung ausländische Kritik an den arbeitswütigen Japanern entkräften.
Davon redet derzeit kaum noch jemand. Das Arbeitstempo hat spürbar angezogen. Übermüdete Angestellte versuchen ihre letzten Reserven zu mobilisieren: An den Kiosken der überfüllten Pendlerzüge trinken gestreßte Firmen-Krieger sogenannte Genki-Dorinku, Gesundheitsdrinks.
Deren Wirkung ist zweifelhaft, doch immerhin setzte Japans Pharmabranche im Fiskaljahr 1995/96 mit den Muntermachern rund 176,7 Milliarden Yen (rund 2,4 Milliarden Mark) um. »Vor allem ältere Angestellte beruhigt es, wenn sie einen Schluck aus der Flasche nehmen«, sagt Shinkichi Yaegusa von der Pharmafirma Taisho Seiyaku (Marktanteil: 60 Prozent). Ein Mädchen ermuntert im Taisho-Auftrag die Familienväter, den Drink »Ribobitan« zu schlucken. Werbeslogan: »Kämpfe, Vati«.
Für die Hinterbliebenen von Karoshi-Opfern klingen solche Aufforderungen zynisch: Shigemi Watanabe verlor mit dem Ehemann auch den Ernährer der Familie, das billige Apartment in der firmeneigenen Siedlung von Kawasaki mußte sie mit ihren Kindern räumen. Da die Hinterbliebenen-Rente zum Leben nicht reicht, arbeitet sie nun als Verkäuferin in einem Brillengeschäft.
Trotz wirtschaftlicher Not schrecken viele Angehörige von Selbstmord-Opfern vor Karoshi-Prozessen zurück. Anders als im christlichen Westen ist Selbstmord in Japans einstiger Kriegergesellschaft zwar nicht mit religiösen Tabus belegt. Doch wer mächtige Firmen herausfordere, müsse mit peinlichen Schlammschlachten rechnen, sagt Rechtsanwalt Tadashi Fujimoto, der die Klage gegen die Werbeagentur Dentsu vertritt.
So wehrte sich Dentsu mit der Behauptung, ihr junger Angestellter sei wegen Liebeskummer aus dem Leben geschieden. Kawasaki Steel ließ verbreiten, Junichi Watanabe habe im Übermaß dem Alkohol zugesprochen.
Die Kritik gegen solche Praktiken wird immer lauter. Für Japans Manager werde es »Zeit, umzudenken«, fordert das Wirtschaftsmagazin diamond.
Doch bisher debattiert die Nation vor allem mit juristischen und medizinischen Argumenten über Streß am Arbeitsplatz. Die gesellschaftspolitische Diskussion hat gerade erst begonnen. Den braven Firmen-Gewerkschaften geht es noch immer vor allem um das Wohl der Firma. Am Ende von Konflikten im Betrieb siegt meist der Gruppenkonsens.
Auch die geschundenen Beschäftigten trauen sich nur selten, die Schufterei anzuprangern. Die oft nächtelange Maloche wird als heldenhafter Einsatz verklärt. Japans Firmenmenschen fehle zuweilen der nötige Respekt vor sich selbst und den Kollegen, lautet die Diagnose des Herz-Professors Okada. »Wenn einer tot umfällt, rückt eben der nächste nach - wie bei den Samurai-Kriegern.«
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Arbeitslosenquote Japans
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Arbeitslosenquote Japans
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