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KONJUNKTUR Kaltes Grausen

In zwei Kernbereichen der deutschen Wirtschaft mehren sich die Krisensymptome: Autobauer und Chemieindustrielle machen sich auf Unterbeschäftigung und Gewinnverfall gefaßt.
aus DER SPIEGEL 48/1973

Für den Vorstandsvorsitzenden von Bayer-Leverkusen Kurt Hansen steht »im Augenblick alles kopf«. Hans Georg Janson, Leiter der technischen Direktionsabteilung bei Hoechst, jammert mit: »Die petrochemische Welt hat sich in den letzten zwei Wochen grundlegend geändert.« Und auch Bernhard Timm, Chef der BASF, hält mit beim Lamentieren: »Die schöne Ruhe der Vergangenheit ist hin«

Seit der Ölstrom aus Arabien dünner fließt, seit erkennbar wurde, daß Westdeutschlands Wirtschaft verletzbar, seine Überflußgesellschaft in Gefahr ist, machen die Topmanager der Chemie-Giganten an Rhein und Main in Nostalgie.

»Manches Plastik-Spielzeug«. sinniert etwa ein vorweihnachtlich gestimmter Hansen, »wird man wohl wieder aus Aluminium machen,« Und sein designierter Nachfolger, Herbert Grünewald, der im Juli 1974 die Leitung des Kunststoff-Konzerns übernehmen soll, assistiert: »Vielleicht wird Papier als Verpackungsmaterial wieder interessant.«

Der Katzenjammer der Chemie-Industriellen, deren Branche Börsianer und Wirtschaftsforscher stets zu den zukunftsreichsten. wachstumsträchtigsten Sektoren im Lande zählten, kam über Nacht. »Recht stolze Zahlen« meldete Bayer-Chef Hansen. als er unlängst die Geschäfte seines Unternehmens in den ersten neun Monaten dieses Jahres lobte.

Im weltweiten Boom jener Zeiten, als das Öl reichlich und billig floß, buchte Bayer noch eine knappe Milliarde Mark Brutto-Gewinn. Mehr Dralon und Perlon, mehr Weichmacher und Plastikmasse wurden produziert als je zuvor in der Firmengeschichte, und annähernd 2000 neue Mitarbeiter wurden in jüngster Zeit verpflichtet.

Doch schon im Sommer, als die Amerikaner wegen ihrer Fehlplanungen einen Vorgeschmack der Energie-Krise verspürten, zeigten sich erste Knappheitssymptome auf dem für Chemiefabriken entscheidenden Rohstoffmarkt Mineralöl. Seither, insbesondere seit dem Beginn des Ölboykotts, gab etwa Bayer runde 50 Millionen Mark mehr für petrochemische Rohprodukte aus. »Und wie das weitergehen wird«, so Hansen, »wissen wir nicht. Die Lage ändert sich täglich.«

lm Dezember ändert sie sich aufs neue. Durch den Boykott des Rotterdamer Hafens kommen jetzt rund 30 Prozent weniger Leichtbenzin (Naphtha) Hauptrohstoff für die Petrochemie, die Vorstufe der Kunststoff- und Faser-Chemie, nach Deutschland. »Wenn das kurzfristig ist«, so Shell-Chemie-Chef Franz Hansen, »wird es keine gewaltigen Störungen hervorrufen.« Aber: »Im Dezember müssen wir wohl um fast 20 Prozent kürzen.«

Für Naphtha. dem aus Rohöl gewonnenen Grundstoff für fast alle Kunststoffe und -fasern, zahlten die Bayer-Leute beispielsweise im Januar dieses Jahres noch 80 Mark pro Tonne -- vergangene Woche lag der Preis schon bei 300 Mark. »Langfristig zu planen«, resignierte der Bayer-Chef. »ist momentan völlig unmöglich. Selbst unter Freunden kann uns heute keiner mehr definitive Preis- oder Lieferzusagen geben.« Genau daran aber muß dem Konzern gelegen sein: Etwa 50 Prozent der Bayer-Produkte sind ohne Rohöl einstweilen nicht zu machen. »Sicher« ist sich Bayers Grünewald denn auch, daß »Massen-Kunststoffe und Massen-Fasern teurer werden« -- weil bei ihrer Herstellung Öl der wesentliche Kostenfaktor ist.

Noch skeptischer ist die Konkurrenz in Ludwigshafen. BASF-Manager glauben weder daran, ihre Preise unter Kontrolle noch ihre Anlagen unter Volldampf halten zu können. An ihrem Umsatz von über 15 Milliarden Mark macht der Kunststoffbereich allein einen Anteil von etwa 18 Prozent.

Zwar meldete BASF-Chef Timm vorletzte Woche ähnlich stolze Gewinne wie sein Konkurrent Hansen, Doch zugleich bekannte er, sein Konzern sei den Arabern gegenüber »verwundbar«. Etwa 80 Prozent aller BASF-Produkte hängen -- direkt oder indirekt -- am Öl. Einschließlich seiner europäischen Tochtergesellschaften verbraucht der pfälzische Trust jährlich rund 25 Millionen Tonnen Erdöl -- etwa ein Fünftel der von westdeutschen Raffinerien verarbeiteten Gesamtmenge.

Im Ludwigshafener Verwaltungshochhaus der BASF wird deshalb hektisch an Plänen gearbeitet, das Produkte-Programm zu ändern und die Kunststoff-Fertigung zugunsten weniger öliger Artikel wie Pflanzenschutzmittel, Farben oder Arzneien einzuschränken. Noch schlechter steht es um die Frankfurter Chemie-Firma Hoechst. die ebenfalls mit annähernd 80 Prozent ihrer Produktion auf Öl angewiesen ist. Doch im Gegensatz zu Bayer und BASF verfügt Hoechst über keinerlei eigene Raffinerie-Kapazitäten.

Unterhält Bayer mit dem englischen Mineralöl-Konzern BP noch die gemeinsame petrochemische Tochter Erd-Ölchemie GmbH, verfügt die BASF sogar durch ihre Tochtergesellschaft Wintershall über vier Raffinerie-Anlagen in Deutschland und Belgien -- so besitzt Hoechst lediglich Lieferverträge mit fremden Unternehmen (vorwiegend mit dem amerikanischen Öl-Trust Caltex).

In diesen Verträgen, so Hoechst-Direktor Janson, »gibt es aber immer die Force-Majeure-Klausel -- Liefereinschränkungen in unverschuldeten Notlagen. Da die Mineralölunternehmen aber keine festen Lieferzusagen riskieren (Janson: »Die zucken mit den Achseln und sagen, sie müßten erst in Amerika nachfragen"). befindet sich das Unternehmen in einer »unglaublich unsicheren Phase«. Während sich Bayer-Chef Hansen des Erdöls immerhin »noch bis Januar« sicher ist, sehen sich die Hoechst-Chemiker bereits »im Dezember in einer Klemme.

»Eine gewisse Dramatik«. befürchtet der Frankfurter Chemie-Konzern, könnte bei seiner Tochtergesellschaft Kalle eintreten. Der 8000 Mitarbeiter starke Betrieb für Folien und Verpackungsmaterialien« deren Erdöl-Anteil etwa 50 Prozent ausmacht, könnte gezwungen sein, schon in wenigen Monaten einzupacken. »Kürzungen bis zu 50 Prozent«, so Karl Harbarth, Geschäftsführer des Gesamtverbandes Kunststoffverarbeitende Industrie, seien in -- zwischen von den Chemieproduzenten, den Mitgliedsfirmen seines Verbandes. angekündigt. Dubios schließlich sind auch jene fünf Prozent des Umsatzes, die mit der Automobilindustrie abgewickelt werden -- neben Lacken liefern sie Kunststoffe und Fasern für Sicherheitsgurte, Sitzbezüge und Armaturen und Verkleidungen. Besorgt fragte Bayer-Chef Hansen die Kollegen, wie sich die »möglichen negativen Auswirkungen ... nach partiellem Fahrverbot« auf die chemische Industrie niederschlagen werden.

In der Tat: Schlimmer als die von Rohstoff- und Energiemangel bedrohte chemische Industrie wird der Ölboykott die Autobranche treffen, von der runde 3,5 Millionen Beschäftigte leben: Fließbandarbeiter und Buchhalter, Kaufleute und Ingenieure, Tankwarte und Karosserieklempner. Elektromonteure und Lackierer, Gummimischer und Polsterer. Kaum einer von ihnen wird völlig ungeschoren davon kommen, denn ihren Finanziers, Westdeutschlands 17 Millionen Autofahrern, verschlägt es zunehmend die Kauflust.

Auch ohne Tempo 100 und Sonntagsfahrverbot hat es sie schwer erwischt: Steigende Autopreise und Reparaturkosten, hohe Versicherungsprämien und ein engmaschiges Netz neuer Vorschriften und

Sicherheitsbestimmungen, verstopfte Straßen und fehlende Parkplätze vergällen die Lust an den eigenen vier Rädern (siehe Titelgeschichte Seite 28). Schon im Oktober, als die Folgen des Nahostkonflikts kaum abzuschätzen waren, interessierten sich sehr viel weniger Autofahrer für ein neues Gefährt. »Für die Auftragseingangsziffern«, so klagte der Verband der Automobilindustrie in einem Brief an die Bundesregierung, »ergaben sich im Oktober dieses Jahres gegenüber dem gleichen Monat des Vorjahres« für die Orders westdeutscher Kunden »folgende Veränderungsraten: Pkw/Kombi -31 Prozent. Nutzfahrzeuge -42 Prozent«.

Freilich -- diese Schreckensmeldungen waren für Westdeutschlands Autobauer schon einen Monat später Traumzahlen. Insbesondere die Hubraum- und PS-starken Limousinen finden kaum noch Interessenten. Klaus-Dieter Banzhaf, Vorstandsmitglied bei Ford: »Die großen Modelle gehen kaum noch.« Bei Opel. so die Branchenhäme, stehen inzwischen rund 30 000 unverkäufliche Autos -- vorwiegend mit einem Hubraum über 1,7 Liter -- auf Halde. Außenseiter haben ohnehin kaum eine Chance. So klagt Walter Fuchs, Verkaufsleiter bei Fiat-Heuler in Frankfurt: »Für unsere großen Modelle interessiert sich keiner mehr.« Der Sprecher der Deutschen Fiat in Heilbronn Werner Jänicke: »Die allgemeine Kauflust ist nicht mehr vorhanden.«

Selbst Daimler-Benz, das bis vor wenigen Wochen von Interessenten für die neuen Modelle der S-Klasse viel Geld und viel Geduld (Lieferfristen bis zu 10 Monate) verlangen konnte, ist sich seiner Absatzchancen nicht mehr sicher. Allein in der vorvergangenen Woche gingen 50 Prozent weniger Kauforders für die großen Modelle ein als in der Vergleichswoche des Vorjahres. Die Nobelmarke hielt es gar für angezeigt. auf angeblich niedrige Verbrauchsziffern ihrer Luxuslimousinen zu verweisen. In einem Presse-Statement warb die Unternehmensleitung unter der Überschrift »Leistungsstarke Motoren sind sparsam« mit Verbrauchskennziffern, die zwar allen Erfahrungen von Mercedes-Fahrern widersprechen. aber »bei Testfahrten über eine Gesamtstrecke von mehr als einer Million Kilometer mit Hunderten von Fahrzeugen immer wieder gemessen« sein sollen. Bei Tempo 100 verbraucht die 8-Zylinder-Limousine 350 SE lediglich 12,1 Liter

Fahrer dieses Typs berichten freilich von Verbrauchswerten um die 18 Liter bei normalem Betrieb.

Kaum eine Autofabrik wird nach Ansicht von Branchenkennern im Januar Kurzarbeit vermeiden können. Nur Sparmodelle wie der VW 1200 oder im Ausland begehrte Autos wie die Mercedes-Karossen haben für die nächsten Wochen reelle Chancen.

»Die großen Zeiten der Automobilindustrie sind wohl vorbei«, sinnierte ein Daimler-Benz-Direktor, als er erfuhr, daß beim Hauptaktionär. der Flick-Gruppe, inzwischen geprüft wird, ob Autounternehmen überhaupt noch Investitionen für Produktionserweiterungen verdienen könnten.

Das Ergebnis ist kaum zweifelhaft. Denn alle Zeichen stehen auf Krise: in der Automobilindustrie und ihren einigen tausend Zulieferbetrieben. bei den Chemiegiganten und den vielen mittelständischen Kunststoff- und Kunstfaserverarbeitern. Längst schlägt die Ölmalaise bei Reifenherstellern und Lackfabriken durch. So sieht sich Günter Huth, Geschäftsführer der Hamburger Rostschutzmittel- Firma Dinol, von »vielen, vielen Sorgen« geplagt. Und Walter Pastors, Einkaufschef der Lackfabriken Wiederhold in Hilden, verzweifelt: »Wenn ich mich umschaue« sehe ich nur Verknappung und erhebliche Verteuerungen.«

Sogar bei den langlebigen Verbrauchsgütern wie Fernsehern oder Kühlschränken kann die sich ausbreitende Krisenfurcht für Absatzstockungen sorgen. Erstes Indiz: Nachdem sie monatelang ihre Sparbücher geplündert hatten, begannen die Bundesbürger, nun wieder Geld für die befürchteten schlechten Zeiten zurückzulegen. Fast alle Sparkassen registrierten höhere Einlagen ihrer Kundschaft. Kaum ein Wirtschaftsforscher von Rang riskiert noch präzise Prognosen für Konjunktur und Preise, Löhne und Beschäftigung.

Selbst die Gewerkschaften sind uneins. Da schon in den nächsten Wochen viele Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung durcheinander geraten könnten, schaffen selbst die unmittelbar betroffenen Arbeiterorganisationen weder eine einheitliche Analyse noch eine solidarische Strategie.

Die IG Bergbau und Energie, Vertretung der einst höchstbezahlten Arbeiter, der Bergleute, prophezeit »das kalte Grausen« (IGBE-Zeitschrift »Einheit"). »Die Autoproduktion geht zurück, weil man ohnehin nicht fahren kann. Direkt und indirekt würden davon über drei Millionen Arbeitsplätze betroffen, und die auf Ölrohstoffe angewiesene Chemie wird nicht mehr voll produzieren können.«

In der Hoffnung auf ein Comeback der seit 15 Jahren geschmähten heimischen Kohle mahnte IGBE-Vorsitzender Adolf Schmidt vorsichtshalber hei der Bundesregierung neue Staatszuschüsse für Zechen und Kumpel an. Denn: Nur durch einen »stärkeren Einsatz der heimischen Energieträger Braun- und Steinkohle« sei größtmögliche Sicherheit in der Stromerzeugung zu erreichen.

Genau an diesen Perspektiven ist die LG Metall nicht interessiert. Wenige Wochen vor ihrer Lohnrunde mit den Metallarbeitgebern, vornehmlich der Automobilindustrie« bestehen die IG-Metaller darauf, alle Krisenfurcht herunterzuspielen. Zwar gaben ihre Experten in einem eigens für die Spitzenfunktionäre vorbereiteten Gutachten zu, daß die Automobilindustrie vor schweren Zeiten stehe. Aber zu moderaten Lohnforderungen sei dennoch kein Anlaß: Ein »Kaufkraftstoß« sei gerade um die Jahreswende wichtig. IG-Metall-Vize Hans Mayr trotzig: »Wir lassen uns nicht von angeblich neutralen Wissenschaftlern oder von Interessenten aus dem Regierungslager Knüppel zwischen die Beine werfen.«

Was die Metaller einstweilen noch nicht berücksichtigt haben: Gerade im Januar ist vermutlich ein hart geführter. lang andauernder Streik genau das, was die Unternehmer sich wünschen. Ein Opel-Manager: »Dann sparen wir viel Geld.«

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