Kampf um Fahrradschmiede 135 Thüringer trotzen texanischem Fonds
Nordhausen - Das rote Fahrrad ist die letzte Hoffnung. "Strike-Bike" steht in schwarzer Schrift auf dem Rahmen. Bislang gibt es davon nur ein Vorführmodell, ein Herrenrad mit Dreigangschaltung, ein solides, schlichtes Ding, das ein Mitarbeiter der Firma Bike-Systems im thüringischen Nordhausen in ein Auto hievt. Er will damit auf Werbetour fahren und auf die schwierige Situation des Fahrradherstellers aufmerksam machen. Das rote Fahrrad ist vielleicht das letzte, das in Nordhausen gebaut wird.
Das Strike-Bike soll der Beweis werden, dass Bike-Systems sehr wohl wirtschaftlich Fahrräder herstellen kann. "Die Leute von Lone Star halten unser Unternehmen für marode. Aber das stimmt einfach nicht", sagt Heiko Hieronymus, Mitglied des Betriebsrats. Lone Star ist ein texanischer Private-Equity-Investor, der Bike-Systems gekauft hat.
Rund 1800 Stück - Herren- wie Damenmodell - wollen die 135 Mitarbeiter innerhalb einer Woche zusammenschrauben und zum "Soli-Preis" von 275 Euro verkaufen. "Wir wollen zeigen, dass wir wirtschaftlich arbeiten können", sagt Hieronymus. Das ist ein sportliches Ziel, denn die Bestellungen sollen bis Anfang Oktober vorliegen, und die Idee zu dieser Aktion kam der Belegschaft erst vor ein paar Tagen. Viel Zeit, um Werbung zu machen, bleibt nicht.
275 Euro Vorkasse für ein rotes "Strike-Bike"
Besteller müssen die komplette Summe von 275 Euro Vorkasse leisten. "Unsere Lager sind leer, wir brauchen das Geld, um das nötige Material zu kaufen", sagt Ute Pauly, die in der Montage arbeitet. Sollten deutlich weniger als 1500 Bestellungen zusammen kommen, lohnt sich der Aufwand nicht - die Kunden erhalten ihr Geld dann zurück, verspricht ein Flyer. Derzeit ist von 300 festen Bestellungen die Rede. "Scheiße", sagt ein Monteur.
Lone Star hatte die Bike-Systems-Mutter Biria im Dezember 2005 nach eigenen Angaben "mit dem Ziel einer Sanierung" erworben: das Werk im Südharz in Nordhausen und ein weiteres Fahrradwerk im sächsischen Neukirch. Über den Kaufpreis schweigt Lone Star. Erst die "nicht vorhersehbare stark rückläufige Entwicklung des Fahrradmarktes" machte die Pläne zunichte.
Neukirch wurde dicht gemacht, die Mitarbeiter verloren ihre Jobs. Der Gesellschafter entschied im Juni dieses Jahres, dass auch Nordhausen geschlossen werden soll. Werkzeuge, Material und Aufträge im Wert von 10,8 Millionen Euro wurden eingetauscht gegen einen 25-Prozent-Anteil an den Mitteldeutschen Fahrradwerken (Mifa), dem Hauptkonkurrenten von Bike-Systems im 35 Kilometer entfernten Sangershausen, Sachsen-Anhalt. Das Ganze lief über eine eigens von Lone Star gegründete Firma namens Gatus 233.
Lone Star betont, dass das Material ohnehin der Mifa gehörte, da Bike-Systems zuletzt Fahrräder in Lohnarbeit für die Konkurrenz hergestellt habe. "Erst diese von Lone Star verantwortete Lohnarbeit hat zu einem Verlust von 600.000 Euro bei Bike-Systems geführt", sagt dagegen Betriebsrats-Anwalt Jürgen Metz. Dass das Material ohnehin der Mifa gehörte, bezeichnet er als "glatte Lüge". "Lone Star hat mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest ist", sagt auch ein Mitarbeiter.
Spontane Entscheidung, die Firma zu besetzen
Seit Anfang Juli stehen die Produktionsbänder in Nordhausen still. Mitte April setzte Lone Star den Unternehmensberater Frederik Müller als Geschäftsführer ein - der 13. Chef seit der Wende. Im August reichte Müller Antrag auf Insolvenz ein, die Belegschaft erhielt Anfang August das letzte Mal ihr Geld - Insolvenzverwalter Wolfgang Wutzke darf erst wieder Gehälter auszahlen, nachdem das Firmenvermögen erfasst und das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Vermutlich ist es Mitte November so weit.
Müller offerierte den Mitarbeitern eine einjährige Weiterqualifizierung und eine Abfindung. Über deren Höhe will er nichts sagen. Die Mitarbeiter bezeichnen das Angebot jedenfalls als "lächerlich". Die Mifa bot den Bike-Systems-Arbeitern zudem an, künftig für sie zu arbeiten. "Ausgerechnet für die Mifa, unseren Hauptkonkurrenten", sagt Hieronymus. "Und zwar für fünf Euro die Stunde statt bisher durchschnittlich acht Euro. Da können wir gleich zusätzlich Hartz IV beantragen." Lone Star spricht dagegen von "marktüblichen Löhnen". Jemand hat Aufkleber an einen Aktenschrank geklebt: "Nicht zur Mifa gehetzt, sondern die Firma besetzt" steht drauf oder "Lieber Hunger erlitten als zur Mifa geschritten".
Am 10. Juli wurde eine Betriebsversammlung einberufen, auf der die Mitarbeiter nicht lange diskutierten. "Wir haben spontan beschlossen: Das lassen wir uns nicht gefallen. Wir werden nicht das Schicksal der Kollegen aus Neukirch erleiden. Wir bleiben hier, bis es eine Lösung gibt", sagt Pauly. "Für uns war wichtig, dass Lone Star nicht noch mehr Geräte abbaut und verscherbelt." Deshalb sei die Firma im Drei-Schichten-Betrieb permanent besetzt. "Alle Kollegen machen mit. Kein einziger entzieht sich", sagt sie und nimmt sich eine Schale Gulaschsuppe. Nebenan spielen die streikenden Kollegen "Mensch ärgere dich nicht".
Klaus-Dieter Schmidt von der IG Metall in Nordhausen ist zufrieden mit dem Engagement der Kollegen. 80 Tage haben sie schon durchgehalten. "Offiziell ist das immer noch eine Betriebsversammlung, keine Firmenbesetzung." Versuche von Lone Star, den Protest per einstweiliger Verfügung zu beenden, seien gescheitert, sagen die Mitarbeiter. Geschäftsführer Müller habe die Kollegen bei seinem letzten Besuch als "Bolschewisten" und "Idioten" bezeichnet. Dann sei er verschwunden und habe sich seit Wochen nicht mehr blicken lassen. "Wir sind in dieser Zeit zur solidarischsten Belegschaft der Welt zusammengewachsen", sagt Dagmar Rüge, die in der Montage arbeitete. "Wir haben nichts mehr zu verlieren."
Was Geschäftsführer Müller zu den Vorwürfen sagt
Geschäftsführer Müller weist die Vorwürfe zurück. "Dass ich die Kollegen beschimpfe, passt natürlich zum Bild 'Heuschrecke frisst mittelständischen Betrieb'", sagt er. "Und natürlich habe ich kein nachgebessertes Angebot für die Kollegen gemacht, ich darf das ja gar nicht, solange das Insolvenzverfahren nicht abgeschlossen ist."
Insolvenzverwalter Wutzke sieht keine Zukunft für das Werk. "Wir gehen davon aus, dass sich der Betrieb nicht halten lässt", sagt er. Es werde noch nach einem neuen Investor gesucht, aber bisher sei keiner in Sicht. Die Bike-Systems-Belegschaft will dagegen von einem Interessenten wissen. "Der will aber noch auf keinen Fall namentlich genannt werden", sagt Hieronymus. Auch aus dem thüringischen Wirtschaftsministerium ist zu hören, dass sich ein potentieller Investor gemeldet habe. Noch sei aber nichts entschieden.
Bis zu einer Entscheidung bleibt der Fahrradhersteller in der Hand von Lone Star. Der texanische Fonds hat sich darauf spezialisiert, angeschlagene Firmen aufzukaufen, auseinander zu nehmen und teurer weiterzuverkaufen. "Wir nennen das ausschlachten", sagt ein Bike-Systems-Mitarbeiter. Lone Star bescheren diese Geschäfte gute Gewinne.
Gerüchte und Halbwahrheiten über Lone Star
In dieser Situation der Angst vor Arbeitslosigkeit mischen sich Gerüchte und Halbwahrheiten in die Gespräche der Nordhausener. Zum Beispiel, dass RTL einen Bericht über Bike-Systems nicht gesendet habe, weil der Sender von Lone Star unter Druck gesetzt wurde. Die RTL-Journalisten erklären auf Nachfrage, dass es einfach schwierig gewesen sei, die ganze Geschichte in einen dreiminütigen Fernsehbeitrag zu pressen und dass die Redaktion sich daher entschlossen habe, den Beitrag doch nicht zu produzieren.
Oder dass Lone Star Finanzhilfen vom Staat bekommen habe, um in Bike-Systems zu investieren. Die Thüringer Aufbaubank dementiert das. "Lone Star hat definitiv keinen Cent Steuergelder bekommen", sagt ein Sprecher. "Und hätten die etwas bekommen, hätten sie das Geld mit dem Weiterverkauf zurückzahlen müssen. Das ist gesetzlich geregelt."
Die Bike-Systems-Leute fühlen sich trotzdem betrogen. Vielleicht, hoffen sie, könne ja der Staat helfen. Demnächst wollen sie nach Erfurt zu Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU). "Bislang hat der sich bei uns nicht blicken lassen", sagt eine Monteurin. "Wir fühlen uns von der Regierung im Stich gelassen. Bisher waren nur der Wirtschaftsminister hier und sein Staatssekretär. Die kamen nur für ein Foto."
Das Wirtschaftsministerium in Erfurt hält sich in der Sache zurück. Die Zeiten der Staatswirtschaft seien vorbei, bei einer Pleite könne nicht der Steuerzahler einspringen, heißt es. "Wir hätten es gern gesehen, wenn die Mitarbeiter der von Lone Star vorgeschlagenen Lösung zugestimmt hätten", sagt ein Sprecher. "Sie sind teilweise wenig qualifiziert. Eine Weiterbildung wäre dringend nötig, damit diese Leute in anderen Betrieben unterkommen." Genügend Jobs gebe es in der Region - allerdings nicht für ungelernte Arbeitskräfte.
Inoffiziell spricht das Ministerium von "Revolvermethoden"
Inoffiziell beklagen aber auch Ministeriumsmitarbeiter die "Revolvermethoden" des Fonds. "Irgendwie kann ich das Verhalten der Bike-Systems-Leute verstehen. Die haben Angst, dass sie in die Arbeitslosigkeit rutschen und da nicht wieder rauskommen", sagt einer. "Diese Sorge ist sicherlich berechtigt. Die meisten Mitarbeiter sind ja schon seit vielen Jahren bei der Firma, wo sollen die jetzt noch hin mit über 50?"
Welche soziale Verantwortung hat ein Finanzinvestor? Welche Chance muss er einer Firma wie Bike-Systems noch einräumen, auch wenn die Bücher womöglich für eine Insolvenz sprechen? Und was nützt die Strike-Bike-Aktion am Ende?
Die "Anarchosyndikalistische Gewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union" sowie die Linkspartei haben noch Hoffnung. Sie drucken Flyer, schicken ihre Mitglieder zu Demonstrationen, damit die Bike-Systems-Belegschaft nicht wie ein verlorenes Grüppchen daherkommt, und reden den Kollegen Mut zu. "Wir erhalten außerdem Briefe aus ganz Deutschland, und es kommen Leute vorbei und bringen Kaffee und Kuchen oder Würstchen", sagt Hieronymus. "Neulich drückte mir ein Radfahrer 50 Euro in die Hand", erzählt Pauly. "Eigentlich bekommen wir nur positive Reaktionen."
"Ich war dabei, als hier 1986 das Licht angemacht wurde. Damals war das der VEB Ifa", sagt Dagmar Rüge. "Jetzt bleibe ich auch so lange hier, bis das Licht ausgemacht wird." Sie guckt an die Decke, als ließe sie die Bilder aus ihren über zwanzig Jahren in der Fahrradmontage Revue passieren. "Dass es mal so kommt, hätte ich nicht gedacht."