STREIKFOLGEN Kein Firlefanz
An die 80 Hektoliter Bier jeden Tag und 90 Hektoliter Alkoholfreies lieferten die drei Brauereien Lang, Röhrl und Wasserburger aus dem niederbayrischen Dingolfing an die 15 200 Mitarbeiter von BMW. »Aber nun«, trauert BMW-Kantinenchef Franz-Josef Bögl, »ging mit den Brauereien gar nichts mehr.« Ganze 500 Liter pro Tag tranken die anderthalbtausend BMW-Notdienstler.
In einem Mainzer Wäschegeschäft, dessen Inhaber nicht namentlich zitiert werden möchte ("Weil ich Angst vor der Gewerkschaft habe, als wenn die Nazis kämen"), blieben »besonders Aussteuerartikel« in den Regalen. Bei Horten in (Audi-)Ingolstadt sind, »trotz Fußball-EM und Olympia-Sommer«, nicht einmal mehr Fernsehgeräte zu verkaufen.
»Glaub' ich, kann ich nicht länger machen«, radebrecht Guiseppe Fiore, 37, Inhaber eines italienischen Restaurants in Frankfurt-Eckenheim. Zumachen müsse er sein Lokal im Sommer, wenn es so weitergeht. »Wie lange, glaubst du, dauert Streik noch?«
Es muß nicht gleich, wie der Kanzler meint, der ganze Aufschwung sein, der da perdu gegangen ist. Aber der Streik, immer lästiger werdendes Ritual in einem Tarifkonflikt mit vorhersehbarem Ausgang, zwackte zunehmend auch die Unbeteiligten, als er sich letzte Woche immer noch hinschleppte: bei den Metallern in die siebente, bei den Druckern sogar schon in die elfte Woche.
Betroffen waren, logischerweise, als erste die Marketender der stillgelegten Werke. 10 000 Brezen hat die Dingolfinger Bäckerei Kerscher jeden Tag an BMW geliefert, nun waren es gerade noch 600; vier Bäcker bei Kerscher mußten vorzeitig in Urlaub gehen. Storniert wurde auch der Audi-Dauerauftrag über täglich 1500 Stück Kuchen bei Bäcker Helmut Schönauer im bayrischen Manching. Auf der Suche nach neuen Aufträgen mußte Audi-Lieferant Schönauer feststellen, daß »die Leute hier kein Geld mehr für Kuchen haben«.
Der Außer-Haus-Verkauf, das Cafe und die Pilsstube, die zum Kaiserslauterer Backhaus Klein gehören - alle litten unter der Aussperrung im nahegelegenen Opel-Werk: Täglich 1600 Brötchen weniger als sonst, und manche Woche »mußten wir gar kein Bier bestellen«, so Inhaberin Helga Klein; 350 Liter die Woche verkauft sie sonst. »Spirituosen bleiben stehen«, so faßt Otto-Manfred Ratai vom regionalen Einzelhandelsverband auch in Ingolstadt die Lage zusammen, »bei hochpreisigen Waren rührt sich überhaupt nichts.«
Es traf die Normalverdiener, aber auch die Besser-Situierten. Nicht nur, daß Daimler-Benz-Fahrer sich unverhofft in öffentlichen Bussen und Bahnen wiederfanden: Das bisher gefahrene Auto war schon verkauft, der auf Termin in Untertürkheim bestellte neue Wagen nicht geliefert.
Schwere Engpässe gab es in den Kfz-Reparatur-Werkstätten. Weil die Ersatzteile ausgegangen waren, standen die Monteure schon mal »drei Stunden daumendrehend herum« - so bei Mercedes-Vogler in Bad Vilbel bei Frankfurt. Die Vogler-Leute mußten 230 E-Fahrer »heimschicken": kein Ersatz für den defekten Bremszylinder mehr im Regal, auch Luftfilter und Auspufftöpfe waren alle. »Kommen Sie drei bis vier Tage nach dem Streik wieder« - eine neue Zeitrechnung für Westdeutschlands Kundendienstler.
»Weil sie nicht wissen, was nächste Woche kommt«, halten die Hausfrauen nach zwei Monaten Streik »das Geld zusammen«, so deutet es Hugo Lücking, Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes Rheinhessen. Es wird »kein Firlefanz mehr gekauft«, die Konsumenten beschränken sich »auf das Notwendigste«. Möbelgeschäfte und Fleischermeister, Fahrradhändler und Boutiquenbesitzer - alle klagten über sinkende Umsätze. In einer Blitzumfrage ermittelte die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels Verkaufsrückgänge zwischen 15 und 55 Prozent.
Die Rentner, die sich mit Zeitungsverkauf vor den Werkstoren ein Zubrot verdienen, waren gleich doppelt geschädigt: Sie kamen um ihre Einnahmen, entweder mangels bedruckter Masse oder aber weil ihnen die - streikende oder ausgesperrte - Lesergemeinde fehlte. Die Inhaberin eines Zeitungskiosks in der Mainzer Innenstadt kann ihrem Angestellten kein Gehalt zahlen - der Umsatz fehlt, denn »durch den Druckerstreik gibt's ja keine Zeitungen zu verkaufen«.
Nicht nur die Verleger, die es treffen sollte, auch ganz andere ächzen unter dem Ausstand der Drucker. Lebensmittelhändler und Supermärkte mußten verderbliche Ware auf den Müll kippen, weil sie die gewohnte Werbung für Sonderaktionen nicht in den Zeitungen unterbrachten. Makler und Gebrauchtwagenhändler klagten über den streikbedingten Ausfall von Annoncen-Seiten. Und auch die »Modelle«, die sonst in Kleinanzeigen für sich und ihre Reize
werben, konnten länger ausschlafen: Die Anrufe der Freier blieben aus.
Besonders schlimm erwischte es die Touristikbranche. Ludwig Pellkofer, Busunternehmer und Reisebüroinhaber in Dingolfing möchte den Laden am liebsten vorrübergehend schließen: »Nur noch Absagen und Stornierungen.« 50 Prozent der sonst so beliebten Flugreisen zu den Kanarischen Inseln und der Busfahrten nach Frankreich wurden bei ihm rückgängig gemacht. Pellkofers Zubringerdienst, mit dem er BMW-Arbeiter aus einem Umkreis bis zu 80 Kilometer zusammenkarrte, ruhte sowieso: Seine 40 Omnibusse parkten in Reih und Glied: »Im Hof.«
»Flaute«, und zwar in allen Teilen der Bundesrepublik, hat auch Gerhard Leidinger vom Deutschen Reisebüro in Frankfurt ermittelt. Vor allem günstige Offerten, etwa nach Rumänien oder Bulgarien, lassen sich zur Zeit schlecht verkaufen. Sechs Prozent fehlen NUR-Touristic in Frankfurt, 20 Prozent dem Mannheimer Columbus Reisebüro am vergleichbaren Umsatz des Vorjahres.
Die Ostseeküste meldet leere Betten, eben so die Urlaubsregion Bodensee, normalerweise »ein typisches deutsches Feriengebiet« mit Gästen aus Baden-Württemberg, dem Rhein-Main-Gebiet und Nordrhein-Westfalen. Diesmal blieben reichlich Zimmer frei. Ulrich Ehrhardt, Geschäftsführer des Fremdenverkehrsverbandes Bodensee-Oberschwaben: »Man spürt die Zurückhaltung.«
Gewonnen haben in den schier endlos sich hinziehenden Streikwochen nur wenige: die Pfandleihfirmen in den Streikgebieten - bei Germann in Stuttgart beispielsweise stapeln sich die Videorecorder, Kameras und Stereoanlagen von Bosch- oder Daimler-Benz-Arbeitern, denen das Geld ausging.
In fast allen Einzelhandelsbranchen und weit über die Einzugsbereiche der Autofabriken hinaus gibt es seit März »schwere Einbrüche«, im Mai folgte sogar »die totale Katastrophe« (so Verbandssprecher Ratai). Einzig in der Sparte »Kleineisen, Werkzeuge, Bauartikel« melden die Einzelhändler Umsatzzuwächse zwischen 17 und 25 Prozent.
Die Streikenden und die Ausgesperrten suchten die Zeit nutzbringend zu füllen, mit Heimwerkerei. Fast 40 Prozent mehr Tapeten, Farben und Holzverkleidungen als im Vorjahr hat zum Beispiel der Obi-Baumarkt in Dingolfing verkaufen können.
Obi-Chefin Marlene Wagner hat einen Stimmungsumschwung bei ihren Kunden bemerkt. Anfangs sei »eine gewisse Euphorie über die plötzliche Freizeit« spürbar gewesen. Aber inzwischen sei die Stimmung längst »gedämpfter«.
Über den vorzeitigen Heimwerker-Boom, der sonst erst im August ausbricht, gibt sich die Baumarkt-Chefin keinen falschen Hoffnungen hin. In Wahrheit sei der August-Umsatz ja nur nach vorn gezogen: »Die Leut' renovieren ja net zwoamal.«