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TÜRKEI Kein Pfennig mehr

Die Türkei ist international zahlungsunfähig. Den Schaden haben deutsche Firmen.
aus DER SPIEGEL 8/1979

Für Hans Emmerich, Chef der Solo Kleinmotoren GmbH im württembergischen Sindelfingen, ist das, was die Türken mit ihm machen, »einfach ein ganz dicker Hund«.

Seit Jahren lieferte Emmerich Kleinmotoren in die Türkei. Die wurden dort von einer türkischen Partnerfirma in Pflanzenschutz-Sprühgeräte eingebaut, für deren Fertigung wiederum das deutsche Unternehmen die Lizenz vergeben hatte.

Das Türkei-Geschäft florierte. Solo verkaufte zuletzt 16 000 Kleinmotoren in die Türkei. Und der Kunde zahlte stets pünktlich.

Doch seit anderthalb Jahren hat Emmerich aus der Türkei »keinen Pfennig mehr gesehen": Forderungen in Höhe von immerhin 3,6 Millionen Mark stehen aus.

Wie dem Motoren-Hersteller ergeht es derzeit weit über tausend kleinen und mittleren Betrieben in der Bundesrepublik, die vielfach schon seit Jahrzehnten Geschäfte mit der Türkei machen. Sie warten vergebens auf die Überweisung ihrer Rechnungsbeträge für Lieferungen in die Türkei: insgesamt gut eine Dreiviertel Milliarde Mark.

Und noch einmal rund 650 Millionen Mark schuldet die Türkei deutschen Exporteuren, die ihre Geschäfte vorsichtshalber durch Bundesbürgschaften abgesichert haben -- ihre Außenstände also zum größten Teil über die Hermes Kreditversicherung noch hereinbekommen.

Dabei haben die türkischen Abnehmer die Gelder prompt in heimischer Währung -- der türkischen Lira -- bei ihren Banken eingezahlt.

Doch die Zentralbank in Ankara, die dafür Mark auf westdeutsche Konten überweisen muß, stoppte alle Zahlungen an ausländische Gläubiger: Schon seit Mitte 1977 verfügen die Zentralbankiers über keine Devisen für Handelsgeschäfte mehr.

Die Folgen der Zahlungseinstellung sind für etliche Firmen verheerend. »Eine ganze Reihe von ihnen«, fürchtet Franz Stefan Winter vom Bundesverband der Deutschen Industrie, »steht vor dem wirtschaftlichen Bankrott.«

Das Türkei-Debakel trifft nach der Iran-Misere -- gerade die kleinen und mittelgroßen Exportfirmen um so stärker, als auch bei anderen Abnehmern ähnliche Pleiten drohen, so etwa in Zaire, Pakistan, Nicaragua und Peru.

Kein anderes Land hatte bisher einen so florierenden Handelsaustausch mit der Türkei wie die Bundesrepublik. Westdeutsche Exporteure lieferten vor zwei Jahren noch beispielsweise dreimal so viele Güter -- etwa Motoren, Chemikalien, Elektrogeräte und Medikamente -- wie ihre französischen Konkurrenten. Aus der Bundesrepublik kamen rund 16 Prozent der gesamten türkischen Einfuhr.

Jetzt jedoch sind die Ausfuhren in die Türkei fast völlig gestoppt. Auch die Lieferanten aus anderen Ländern hängten sich in jüngster Zeit von ihren türkischen Kunden ab. Der Warenstrom fließt nur noch so spärlich, daß das Land die wohl schwerste Versorgungskrise der Nachkriegszeit erlebt. Schwarzhändler und Schieber machen das große Geld. In den Großstädten Istanbul und Ankara verhökern sie ihre heiße Ware gleich von Lastwagen auf offener Straße: Zigaretten aus dem Westen, Glühbirnen und Kaffee, Brennstoffe und Waschmittel.

Aus Mangel an nur im Ausland erhältlichen Ersatzteilen, Rohmaterialien und Vorprodukten mußten im letzten Jahr über 2500 Betriebe allein in den Regionen Istanbul und Izmir Konkurs anmelden. Über 50 000 Arbeiter und Angestellte verloren dadurch ihren Job.

Neue Arbeitsplätze sind nicht zu finden: Die Arbeitslosenquote beträgt offiziell 20 Prozent. Weil die Bevölkerung jährlich um 1,2 Millionen wächst, drängen jedes Jahr zusätzlich 400 000 Arbeitssuchende auf den Markt.

Aus Arbeitslosigkeit und Armut hatten Ankaras Wirtschaftslenker ihr Land mit Hilfe einer forcierten Industrialisierung führen wollen -- mit Erfolg, wie es schien.

Zwar verharrte das Land sozial in den verkrusteten Strukturen. Doch in den acht Jahren bis 1974 schafften die Türken die höchste wirtschaftliche Wachstumsrate (jährlich sieben bis acht Prozent) von allen 24 Ländern, die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammengeschlossen sind.

Bei der Aufnahme ausländischer Kredite, mit deren Hilfe sie das Wachstum mitfinanzierten, waren die Türken überaus umsichtig: 1974 standen sie im Ausland erst mit nur 5,7 Milliarden Dollar in der Kreide. Die Devisenreseryen betrugen 2,1 Milliarden Dollar.

Doch dann verlor die Regierung des damaligen erzkonservativen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel jedes Augenmaß. Als Ölkrise und weltweite Flaute auch die Türkei strangulierten, versuchte Demirel durch hemmungsloses Schuldenmachen und verschwenderische Finanzpolitik wirtschaftliche Erfolge zu erzwingen. Bis Ende 1977 hatten sich Ankaras Auslandsschulden mit 13 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt.

Erol Aksoy, Vizepräsident für Finanzen bei der größten türkischen Gesellschaft, der Koc Holding erläutert die Fehler der Regierung: Es dauert drei Jahre, bis ein Projekt verwirklicht ist. Rentabel wird es vielleicht im fünften Jahr. Sicherheitshalber sollte es also mit Geldern finanziert werden, die nach sieben Jahren fällig werden. Was aber tat unsere Regierung? Sie finanzierte das Wachstum mit Geldern, die nur ein Jahr Laufzeit hatten:

Immer hektischer mußte Ankara Kredite aufnehmen, um alte Schulden zu tilgen. Bei dem sich zunehmend schneller drehenden Kreditrad »vergaßen die Türken zu exportieren« (ein europäischer Bankier). Heute reichen die Ausfuhrerlöse nur noch gerade aus, um die jährliche Ölimportrechnung von 1,8 Milliarden Dollar zu begleichen.

Schuld an der Exportmisere ist auch eine wuchernde schwerfällige Bürokratie. Bis zu 200 Unterschriften muß ein Exporteur in Dutzenden von Ämtern einsammeln, bevor er seine Ware ausführen darf -- und mithin Devisen für sein Land verdienen kann.

Als die Regierung Demirel Ende 1977 scheiterte und der Sozialdemokrat Bülent Ecevit die Führung des Landes übernahm, waren noch im selben Jahr fünf Milliarden Dollar zur Rückzahlung an ausländische Gläubiger fällig. Schon im April 1978 standen zur kurzfristigen Finanzierung 6,7 Milliarden Dollar an.

In dem Finanzchaos, das Ecevit vorfand, half die Zusage des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington, 450 Millionen Dollar beizusteuern, nur noch wenig. Verärgert registrierten die Fonds-Manager unlängst überdies, daß Bülent Ecevit wichtige Kreditbedingungen zur Sanierung der Wirtschaft nicht erfüllte.

So rügten die Kreditgeber aus Washington vor allem die riesigen Defizite im Staatshaushalt und bei den öffentlichen Unternehmen, die rund die Hälfte der Industrie des Landes kontrollieren.

Statt die Inflation auf 20 Prozent zu drücken, monierte der Währungsfonds, galoppierten die Preise mit Steigerungsraten von über 50 Prozent davon. Und weil die Löhne Anfang letzten Jahres zwischen 40 und 50 Prozent gestiegen sind, die türkische Währung aber nicht abgewertet wurde, kann die Privatwirtschaft. meinten die IWF-Experten, allenfalls noch mit Verlust exportieren.

Die IWF-Prüfer fanden die türkische Wirtschaftslage so niederschmetternd, daß sie die Restauszahlung des Kredits schließlich verweigerten.

Blockiert sind auch Finanzhilfen von rund 450 Millionen Dollar, mit denen die Europäische Gemeinschaft ihrem Beitrittskandidaten beispringen wollte. Denn die Türken mochten sich gegenüber der EG noch nicht auf verbindliche Sanierungszusagen für ihre Wirtschaft festlegen.

Regierungschef Ecevit hat dafür Gründe. Angesichts der schweren sozialen Unruhen -- in 13 von 67 Provinzen herrscht Kriegsrecht -- zieht er es vor, wirtschaftspolitisch zu lavieren. Ein Austerity-Kurs mit Kreditverteuerung und Steuererhöhungen, Lohnstopp und Liraabwertung würde nur zu neuen Unruhen führen, der Regierungschef riskierte so womöglich den eigenen Sturz.

Aus der Klemme sollen den Türken nun die OECD-Länder in einer gemeinsamen Finanzaktion helfen. Dabei geht es um ansehnliche Beträge. Bis zu 15 Milliarden Dollar, kalkulieren internationale Banker, braucht die Türkei innerhalb der nächsten fünf Jahre, davon mindestens acht Milliarden möglichst sofort.

Im Vertrauen auf neue Devisenzuflüsse hoffen türkische Geldmanager offenbar schon jetzt einen guten Schnitt zu machen. Deutschen Lieferanten wird allenthalben über Mittelsmänner in der Türkei eine rasche Begleichung ihrer Forderungen in Aussicht gestellt. Bedingung: ein Abschlag von mindestens 20 Prozent des Rechnungsbetrags.

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