An die Stelle der Fräs- und Schleifmaschinen und der Bohrwerke, die die Motorblöcke bearbeiten, war ein vollautomatisierter Maschinenzug getreten. Sie nannten ihn »Transferstraße«. Am meisten imponierte mir, daß eben jene Transferstraße ihre eigenen Produktionsergehnisse kontrollierte und Fehler automatisch korrigierte. Das war vor über 20 Jahren bei Opel in Rüsselsheim.
An die Stelle der vielen Fräser, Schleifer und Bohrer waren drei Kontrolleure getreten. Sie beobachteten bunte Lämpchen auf einem großen Schaltbrett. Uns fiel auf, daß sie graue Kittel trugen statt des traditionellen »Blauen«. Automatische Selbstkontrolle und Kittel statt »Blauer« -- das sind die Erinnerungen, die ich mit Transferstraße verbinde. Die technische Perfektion imponierte.
Daß diese Transferstraße aber Arbeitsplätze vernichtet hatte, darüber machten wir uns damals keine Gedanken: Keiner der alten Motorblock-Bearbeiter war arbeitslos geworden. Sie wurden »umgesetzt«, irgendwo im großen Opelwerk eingesetzt, denn mehr neue Autos verließen das Fließband.
Rationalisierung schloß die Lücke, die zwischen den rapid steigenden Produktionszahlen und der langsamer steigenden Arbeitnehmerzahl klaffte. Die beiden Erfolgsfaktoren der Nachkriegsjahre waren »wirtschaftliches Wachstum« und »technischer Fortschritt«. Arm in Arm -- mal zog der eine, mal der andre -- führte uns das Paar in die Wohlstandsgesellschaft.
Für die Arbeitsplätze insgesamt bestand keine Gefahr -- zumindest so lange nicht, wie der rationalisierte Arbeitsplatzverlust durch verstärktes Wachstum, das neue Arbeitsplätze schuf, wettgemacht wurde. Was aber, wenn plötzlich der technische Fortschritt schneller vorankommt als das wirtschaftliche Wachstum? Das Ungleichgewicht zwischen technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum ist nur die Pointe des Ungleichgewichts zwischen Produktion und Verbrauch.
Ist das Wachstum schneller als der technische Fortschritt, so muß mehr gearbeitet werden. Übertreffen jedoch die arbeitsplatzsparenden Innovationen das Wachstum, so nimmt die Arbeit ab. Weniger Arbeit heißt freilich nicht, daß alle weniger arbeiten müssen. Die Übereinstimmung mit der Nachfrage läßt sich auch dadurch herstellen, daß ein Teil der Arbeitnehmer nicht arbeitet, also arbeitslos ist, während die anderen weiterhin, wie bisher, ihre Arbeit besitzen. Der Verteilungskampf wird dann nicht nur um Einkommen geführt, sondern auch um Arbeit.
Während unsere Altmarxisten noch immer an der Front zwischen Kapital und Arbeit eingegraben liegen, haben sich die neuen Auseinandersetzungen schon längst als Klassenkampf zwischen den Arbeitnehmern etabliert, nämlich zwischen »Arbeitsbesitzern« und »Arbeitslosen«. Und der Nachschub für diesen Krieg rollt: 300 Millionen Arbeitslose in der Dritten Welt, jeder dritte Erwerbsfähige ohne Arbeit; 18 Millionen Arbeitslose in den 23 wichtigsten Industrienationen der Welt; hierzulande über eine Million Mitbürger arbeitslos oder teilarbeitslos durch Kurzarbeit.
Die Verteilung der materiellen Güter läßt sich mit etwas gutem Willen sogar noch bei hoher Arbeitslosigkeit befriedigend lösen. Die »Arbeitsbesitzer« müssen dann eben einen Teil ihres Arbeitsergebnisses mit Hilfe der Arbeitslosenunterstützung und der Entwicklungshilfe für die Dritte Welt an die Arbeitslosen abführen. Das machte gewiß einen sehr sozialen Eindruck. Das Recht auf Arbeit allerdings gerät bei dieser Art von »Versorgungspolitik« in Vergessenheit.
Die Balance zwischen arbeitsplatzsparender Rationalisierung und wirtschaftlichem Wachstum ist mithin ein Kunststück. Nur durch Korrektur auf der einen oder anderen Seite oder auf beiden gleichzeitig kann das Gleichgewicht gehalten werden. Doch leider sind weder Wachstum noch technischer Fortschritt so künstliche Gebilde. daß wir mit ihnen machen können, was wir wollen.
Es ist die Natur des Fortschritts, daß
er sich nicht aufhalten läßt. Stoppzeichen für technische Neuerungen mögen Verzögerungen auslösen, zu Umgehungen verleiten -- Sperren sind es nicht. Die neuen Lehrmeister des Fortschrittsverzichts sollten sich bei den mittelalterlichen Päpsten die Erfahrungen über die Haltbarkeit von Fortschrittstabus entleihen, um zu lernen, wie brüchig Denkverbote sind. Eine ganz andere Frage ist jedoch, wohin wir unsere innovatorische Phantasie lenken.
Die Rationalisierung hängt am Gängelband der traditionellen Produktivitätsberechnungen. Die Verminderung jener Kosten, die beispielsweise nervenaufreibender Streß verursacht, hat darin keinen Platz. Die Berufskrankheiten, deren Zahl in den letzten Jahren um 40 Prozent gestiegen ist, werden nicht unmittelbar vom Betrieb bezahlt, sondern auf die Sozialversicherung abgewälzt. Und die »Reparatur« der Gesundheit steigert sogar das Sozialprodukt, denn gäbe es weniger Berufskrankheiten. so würden weniger ärztliche Leistungen im Sozialprodukt gezählt.
Die Menschlichkeit einer sanfteren Technik läßt sich mit der herkömmlichen Produktivität nicht messen. Neben der Art der Ermittlung des Sozialprodukts sind es auch die Methoden der Berechnung des Rationalisierungserfolges, die möglicherweise die technische Innovation und das Wachstum auf die falschen Erfolgsbahnen lenken.
Das Gleichgewicht zwischen Technik und Wirtschaft ist kein abstraktes Modell. Auf der Schaukel sitzen die Bürger als Arbeitnehmer und Verbraucher. Die Gewohnheiten auf beiden Seiten müssen verändert werden, Das Wachstum kann dabei ebensowenig unter Denkmalschutz gestellt werden wie der technische Fortschritt.
Wachstum kann uns Erleichterung
und Zeitgewinn verschaffen. Allein jedoch schafft es keine Lösung. Denn auch auf dem Wachstumspfad führt kein Weg an der Tatsache vorbei, daß die Arbeit knapper wird. Wir können die Nachfrage mit weniger Arbeitern »erledigen«. Die Industrie produziert heute genauso viel wie vor drei Jahren, nur sie benötigt dazu eine Million Beschäftigte weniger als damals. Die Rationalisierungseffekte werden zukünftig schneller steigen als die Nachfrage.
Wollen wir allerdings mehr Arbeitslose verhindern, so werden wir weniger Arbeit auf mehr Arbeiter verteilen müssen. Schon in den letzten beiden Jahren haben wir in der Bundesrepublik 1,7 Millionen Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosenstatistik blendet im Blitzlicht der Momentaufnahme den tatsächlichen Verlust von Arbeit ab. Wir haben uns Entlastung geschaffen, indem wir 600 000 ausländische Arbeitnehmer entlassen haben. Die Entlassungen jedoch wurden verdeckt, indem wir die Arbeitslosigkeit der Ausländer in deren Heimatländer exportiert haben.
400 000 Einheimische gingen früher in Pension, als dies bisher üblich war. Die flexible Altersgrenze half ihnen dabei. Hohe Exportüberschüsse waren eine weitere Hilfe bei dem Versuch, unsere langfristigen Beschäftigungsprobleme zu verdecken. Aber wird sich die Dritte Welt weiter auf diese Weise von uns beglücken lassen? Die Armen wollen Arbeit, keine Kredit-Almosen.
Wenn die Investitionen steigen, sind damit noch nicht gleichermaßen neue Arbeitsplätze geschaffen. Nach Erhebungen des Ifo-Instituts dienen nur 15 Prozent der geplanten Investitionen der Erweiterung, 49 Prozent aber der Rationalisierung und 36 Prozent dem Ersatz alter Anlagen.