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WELTWIRTSCHAFT Kollektives Versagen

Die Welthandelskonferenz scheiterte an Machtgehabe und Kleinstaaterei. Die großen Industrie- und Schwellenländer wollen nun zweiseitige Verträge schließen - auf Kosten der Ärmsten.
aus DER SPIEGEL 32/2008

Am Tag danach, als sich auf der Genfer Uferpromenade bereits die zur Abfahrt bereiten Limousinen stauten, schienen die Teilnehmer der Welthandelskonferenz plötzlich doch noch ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, zumindest in der Wortwahl.

Sie sei »tief enttäuscht«, erklärte die indonesische Handelsministerin Mari Elka Pangestu. Indiens Industrieminister Kamal Nath empfand ebenfalls »tiefe Enttäuschung«. Und als dann die US-Beauftragte Susan Schwab von einer »sehr enttäuschenden Wende« sprach, konnte sich auch der europäische Handelskommissar und bekennende Zyniker Peter Mandelson der allgemeinen Staats-Trauer nicht entziehen. Es sei »herzzerreißend«, so der Brite, auf diese Weise auseinandergehen zu müssen.

Die Melancholie ist durchaus angemessen. Es gilt womöglich, sich vom Menschheitstraum einer Welt ohne Grenzen und Zollschranken zu verabschieden.

Am Dienstag vergangener Woche scheiterte die jüngste Gipfelrunde der Welthandelsorganisation WTO. Neun Tage lang hatten Spitzenvertreter von 153 Staaten vergebens versucht, sich auf ein neues Regelwerk für den internationalen Warenverkehr zu einigen.

Nun ist offen, ob die Verhandlungen, die im Herbst 2001 in Doha, der Hauptstadt von Katar, begannen, überhaupt je fortgesetzt werden. »Aus und vorbei«, fasst ein führendes Mitglied der deutschen Delegation das vorherrschende Gefühl zusammen. Die Staaten müssten sich »ernsthaft fragen, ob und wie sie die Scherben wieder kitten wollen«, sagt der frustrierte WTO-Generaldirektor Pascal Lamy.

Statt eines einheitlichen Regelwerks wird es nun ein undurchsichtiges Geflecht zweiseitiger Handelsverträge geben, so fürchten Experten - zum Nachteil der Verbraucher und der ärmsten Staaten in der Dritten Welt.

Dabei war es ein vergleichsweise läppischer Streit zwischen Indiens Chefunterhändler Nath und seiner US-Kollegin Schwab, der zum Bruch führte. Beide Delegierte waren sich im Prinzip einig, dass auch Indien mehr Rindfleisch und Saatgut aus amerikanischer Produktion ins Land lassen solle. Umstritten war lediglich die Frage, in welchem Umfang.

Doch beide Unterhändler standen unter allzu starkem Druck aus ihren Heimatländern. In den USA ist Wahlkampf. Und Indiens Handelsminister musste während der Verhandlungen sogar kurz nach Hause fliegen, um einen Misstrauensantrag gegen die Regierung abzuwehren.

Der wahre Grund für das Scheitern der Verhandlungen freilich liegt tiefer: Selbst in den Industriestaaten und den erfolgreichen Schwellenländern sind die Sorgen vor der Globalisierung inzwischen größer als die damit verbundenen Hoffnungen. WTO-Chef Lamy spricht schon von »kollektivem Versagen«.

Der vorherrschende Eindruck wird bestimmt von nationalen Egoismen und Kleinstaaterei. Selbst die Vertreter der Europäischen Union waren nicht in der Lage, sich auf eine gemeinsame Haltung zu verständigen.

Dabei sind in der Theorie alle Staaten dafür, die Handelshemmnisse abzubauen. In der Praxis jedoch sind damit vor allem die Hürden der anderen Länder gemeint. Es gilt, der jeweiligen Gegenseite Zugeständnisse abzuringen, ohne selbst Opfer zu bringen.

Die USA beispielsweise möchten ihre Agrarprodukte möglichst ungehindert in die aufstrebenden Schwellenländer Indien und China liefern. Gleichzeitig aber weigern sich die Amerikaner, die Subventionen für ihre eigenen Farmer drastisch zu senken und etwa mehr Baumwolle aus Burkina Faso und anderen westafrikanischen Staaten ins Land zu lassen.

Brasilien spielt sich gern zum Wortführer der armen und besonders schützenswerten Entwicklungsländer auf, ist aber in Wahrheit längst einer der größten Agrarexporteure der Welt. Japan möchte die ganze Welt mit seinen Autos beliefern, schottet seine Grenzen aber gegen Reisimporte ab. Und die angeblich so freiheitliche Europäische Union belegt jede Tonne Bananen, die aus einem Land ohne Kolonialvergangenheit kommt, mit einem Strafzoll von 176 Euro.

Ausgerechnet die EU-Vertreter lieferten bei der jüngsten WTO-Verhandlungsrunde den Stoff für eine besonders groteske Auseinandersetzung. Es ging um Aufschnitt. Die italienischen Hersteller des original Parma-Schinkens ärgern sich darüber, dass Fleischfabrikanten in Übersee ihre Regionalbezeichnung verwenden, obwohl es sich um ganz ordinären Schinken aus den USA handelt. Konsequenterweise forderten einige italienische Unterhändler nun, derlei Markenpiraterie sofort zu verbieten.

Tatsächlich stieß das Ansinnen in den Reihen der Europäer teils auf große Unterstützung. Französische Rotwein-Lobbyisten waren schnell überzeugt. Auch die Ungarn schlossen sich spontan der Anti-WTO-Bewegung an. Vergebens versuchten andere Delegierte, die Kollegen darauf aufmerksam zu machen, dass ein Scheitern der Verhandlungen doch gerade der italienischen Schuhindustrie größten Schaden zufügen dürfte.

Am Ende ließen sogar die Deutschen den für eine weitergehende Liberalisierung notwendigen Schwung vermissen. Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) steckt mitten im bayerischen Landtagswahlkampf. Umso wichtiger ist ihm derzeit die Unterstützung der Landwirte im Freistaat, die sich tendenziell gegen eine Öffnung der Grenzen aussprachen.

Welche Folgen das WTO-Debakel hat, wird sich bereits im Herbst zeigen. Vor allem China und die USA, aber auch einige Vertreter der Europäischen Union haben insgeheim schon länger mit einem Scheitern der globalen Verhandlungsrunde gerechnet. Das bedeutet auch das Aus für die unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 geborene Idee, unterentwickelten Ländern mit ihren vielen unzufriedenen Bewohnern die Märkte der Industrienationen zu öffnen.

Amerikaner, Europäer und prosperierende Asiaten ziehen nun ihren Plan B aus der Tasche. Experten rechnen damit, dass die Zahl von zweiseitigen Verhandlungen über Klein- und Kleinstbündnisse in den kommenden Monaten enorm ansteigen wird.

Offiziell hält die EU zwar wenig von derlei Kleinstaaterei. Auch die Bundesregierung beteuerte vergangene Woche noch einmal, bilaterale Verträge seien keine Alternative. Tatsächlich aber laufen bereits konkrete Vorbereitungen.

Noch in diesem Herbst könnte die EU ein Freihandelsabkommen mit Südkorea und ein weiteres mit den Golfstaaten beschließen. Viele Details sind bereits geklärt. Mit Korea etwa ist nur noch abzustimmen, ob der Einfuhrzoll für koreanische Autos sofort auf null gesetzt wird oder stufenweise.

Lieber wäre den Europäern eine Vertragslösung innerhalb der Welthandelskonferenz gewesen. Aber nun sehen sie sich gezwungen, eine Abkürzung zu nehmen.

Weil auch die US-Amerikaner und vor allem die Chinesen an regionalen Bündnissen arbeiten, würde die Europäische Union, so die Befürchtung, von den immer wichtigeren Märkten in Indonesien, Thailand oder Malaysia ausgeschlossen. Auch Japan hat bereits eine Partnerschaft mit dem südostasiatischen Asean-Staatenbund geschlossen.

Der Weltwirtschaft freilich helfen die bilateralen Abkommen wenig - im Gegenteil. Handelsprivilegien für die einen bedeuten Nachteile für die anderen. Die Bürokratie wuchert. Manager exportabhängiger Unternehmen fluchen längst über die Vielzahl von Vorschriften, Normen und Formularen, die sie beachten müssen.

Negativ betroffen sind auch jene Länder, die den Aufschwung eigentlich am nötigsten hätten. Je geringer die Wirtschaftskraft eines Landes ist, desto mickriger sind seine Chancen, sich in bilateralen Verhandlungen durchzusetzen.

Doch selbst den Industriestaaten stehen harte Zeiten bevor. Mit dem Scheitern der WTO-Verhandlung endete die von den Staaten verabredete Friedenszeit. Experten rechnen damit, dass schon die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Luftfahrtriesen Boeing und Airbus in einen Handelskrieg zwischen den USA und Europa münden könnten.

»Wir wollten eine Kathedrale bauen«, sagte ein deutscher Delegierter enttäuscht, als er vergangene Woche aus Genf abreiste. »Stattdessen haben wir es nicht einmal zum Kloster gebracht.«

ALEXANDER NEUBACHER

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