Henrik Müller

Konjunkturrisiken Spiralen des Schreckens

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Kommt nach der Corona-Rezession die nächste Eurokrise? Möglich. Es wäre ein Desaster - aber eines, das sich verhindern ließe.
Ein Euro-Skulptur-Kunstwerk vor dem Eurotower in Frankfurt

Ein Euro-Skulptur-Kunstwerk vor dem Eurotower in Frankfurt

Foto: Christoph Hardt / action press

Es war eine Vorhersage von fast prophetischer Qualität: Die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung habe "schockierende Aspekte". Je mehr Länder dem Euro-Geld beiträten, desto größer würde die Gefahr gravierender wirtschaftlicher Spannungen.

Fast drei Jahrzehnte ist es her, seit die Ökonomen Tamim Bayoumi und Barry Eichengreen diese Warnung aussprachen . Der Euro war damals längst noch nicht gegründet, die neue Währung hatte nicht mal einen Namen. Natürlich konnten die beiden angelsächsischen Volkswirte weder die Finanz- und Staatsschuldenkrise in den Jahren ab 2008 vorhersehen, noch die derzeitige Coronakrise. Aber das Grundproblem war ihnen durchaus klar: dass auseinanderstrebende Wirtschaftsentwicklungen in den Euro-Mitgliedsstaaten "hartnäckig und schwer zu lösen" sein würden.

Nun, da Europa vor einem Corona-infektiösen Herbst und Winter steht, stellt sich die alte Frage aufs Neue: Lässt sich die Eurozone auf Dauer tatsächlich zusammenhalten, oder sprengt die Pandemie am Ende doch noch die Währungsunion - und damit wohl auch die EU?

Die mittelfristigen Aussichten: trübe

Covid-19 treibt Europa auseinander. Aktuelle Prognosen zeigen, dass die Wirtschaftsleistung in südeuropäischen Ländern viel stärker einbricht als in Deutschland. In Spanien wird das Bruttoinlandsprodukt dieses Jahr um annähernd 12 Prozent schrumpfen, in Frankreich und Italien um fast 9 Prozent, prognostiziert das Kieler Institut für Weltwirtschaft . Längst ist absehbar, dass viele Länder im Süden und Osten Europas auf Jahre an den Folgen der derzeitigen Krise leiden werden.

In Deutschland hingegen erholt sich die Wirtschaft überraschend schnell. Die mittelfristigen Aussichten  mögen zwar auch hierzulande eingetrübt bleiben, insbesondere wegen der Strukturkrise der Autoindustrie und der zurückgehenden Zuwanderung. Doch aktuelle Zahlen zeigen eine Volkswirtschaft, die wieder Mut schöpft.

Der Ifo-Geschäftsklimaindex  steigt seit fünf Monaten. Gerade in der Industrie breitet sich Optimismus aus; die Erwartungen für die künftige Geschäftsentwicklung sind so positiv wie seit fast drei Jahren nicht mehr. Ein Bild, das der neue Schnellindikator der Bundesbank bestätigt: Seit Juli schießt der "Wöchentliche Aktivitätsindex"  förmlich in die Höhe. Zuletzt zeigte er an, dass die deutsche Wirtschaft in den zurückliegenden drei Monaten um 7,4 Prozent gewachsen sein könnte. (Achten Sie Mittwoch auf neue Arbeitsmarktzahlen.)

Aber die positive Deutschland-Entwicklung wird nur von Dauer sein, wenn auch der Rest Europas sich nachhaltig erholt.

Doom Loops und andere Unfälle

Es sind vor allem drei Kräfte, die Europa ökonomisch auseinandertreiben:

  • Vielerorts steigen die gemessenen Infektionszahlen wieder rapide an. In Spanien, Frankreich und anderswo werden inzwischen mehr neue Corona-Fälle registriert als auf dem Höhepunkt der ersten Welle im April. Zwar sind die Zahlen wegen der höheren Testintensität kaum vergleichbar. Aber die Gefahr bleibt, dass das öffentliche Leben und die Wirtschaft abermals in Teilen heruntergefahren werden müssen. Betroffen ist insbesondere die für die Südländer wichtige Tourismusbranche (Montag treffen sich die zuständigen Minister der EU-Staaten).

  • Je heftiger und langwieriger die Corona-Rezession verläuft, desto gravierender sind die Auswirkungen auf ohnehin hoch verschuldete Volkswirtschaften. In Italien  dürften die öffentlichen Verbindlichkeiten dieses Jahr auf annähernd 160 Prozent des Bruttoinhaltsprodukts (BIP) steigen, in Frankreich  und Spanien klettert die Schuldenquote Richtung 120 Prozent. Kommt das Wachstum nicht in Gang, steigen die Schuldenlasten weiter. Das mag kein großes Problem sein, solange die Zinsen null oder sogar negativ sind. Aber da es keine Garantie dafür gibt, dass dies auf ewig so bleibt, ist die Lage instabil. Übrigens geht es hier nicht um Kleinigkeiten: Frankreich, Italien und Spanien haben zusammen eine Wirtschaftsleistung, die anderthalbmal so groß ist wie die deutsche; die ausstehenden Staatsschulden der drei Länder  liegen zusammengerechnet bei mehr als sechs Billionen Euro.

  • Ein Wiederaufflackern der Staatsschuldenkrise kann die Wirtschaft insgesamt in den Abgrund ziehen. Vor einer "Spirale des Schreckens" (doom loop) warnte die Ratingagentur Standard & Poor's (S&P)  in der abgelaufenen Woche. Der Grund: In einigen EU-Ländern, darunter in Italien, kaufen Geschäftsbanken nach wie vor bevorzugt Schulden des jeweiligen Staates auf. Insgesamt haben Kreditinstitute den Finanzministern seit Beginn der Coronakrise nach S&P-Berechnungen zusätzlich 210 Milliarden Euro abgenommen. Das Problem dabei: Kommen Zweifel an der Solidität des Staates auf, müssen die Banken Anleihen in ihren Bilanzen abwerten - und geraten womöglich selbst in Schieflage. Investitionen in der privaten Wirtschaft können sie dann kaum noch finanzieren. Eine Abwärtsspirale droht: Hohe Schulden halten eine darniederliegende Wirtschaft am Boden, wodurch die Schulden umso weniger tragfähig werden. Leider ist dies kein abwegiges Szenario, wie die Eurokrise im vorigen Jahrzehnt gezeigt hat.

Erst die Pandemie, dann die nächste Finanzkrise samt der Rückkehr der Eurokrise - es wäre ein Desaster. Eine ganze Kette von "schockierenden Aspekten".

Wir sind längst auf dem Weg zur Transferunion

Nun könnte man fragen, was uns Deutsche das alles angeht. Schließlich haben wir die Pandemie augenscheinlich besser im Griff als viele unserer EU-Partner - und außerdem in der Vergangenheit so solide gewirtschaftet, dass weder der Staat noch die Privatwirtschaft unter hohen Schulden ächzen. So in etwa verläuft die Argumentationslinie der "Sparsamen Vier", Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark, alles wohlhabende westliche EU-Staaten, die sich gegen eine Ausweitung der Gemeinschaftsfinanzen wenden.

Doch dieser Zug ist längst abgefahren. Bei Licht betrachtet sind wir auf dem Weg zu einer institutionalisierten Transferunion.

Das hat weniger mit dem Euro-Rettungsschirm ESM oder mit den viel kritisierten Anleihekäufen durch die Europäische Zentralbank (EZB) zu tun, als mit dem im Juli vereinbarten Corona-Wiederaufbaufonds ("Recovery and Resilience Facility"). 750 Milliarden Euro an Gemeinschaftsmitteln wird die EU in den kommenden Jahren an den Finanzmärkten borgen. Mehr als die Hälfte davon sollen als nicht rückzahlbare Finanzspritzen an besonders hart getroffene Mitgliedstaaten fließen. Der Rest der Summe wird in Form von Krediten ausgereicht.

Formal haben sich die Staats- und Regierungschefs auf eine einmalige Hilfsaktion im Zuge der Jahrhundertpandemie geeinigt. Doch das Hilfspaket stellt Weichen, sodass der Weg zurück sich als unbefahrbar erweisen könnte. Insbesondere bekommt die EU-Ebene erstmals eigene Steuerquellen, um die aufgenommenen Gemeinschaftsschulden abstottern zu können. Und es ist kaum realistisch, dass die EU-Ebene künftig auf diese Einnahmen verzichten wird. Sie dürften im Gegenteil ausgeweitet werden. Schließlich ist bereits vor der Coronakrise deutlich geworden, dass die EU weitere Aufgaben übernehmen soll: bei innerer und äußerer Sicherheit, beim Klimaschutz und bei der Energiesicherheit, in der Flüchtlingspolitik, bei der Schaffung eines digitalen Binnenmarkts, um nur einige Politikfelder zu nennen. All das kostet, und zwar nicht wenig.

Auch konjunkturpolitisch wäre ein größeres Gemeinschaftsbudget wünschenswert, innerhalb der Eurozone vermutlich sogar notwendig. So regte die EZB kürzlich im technisch verklausulierten Technokraten-Sound an: Der neu geschaffene Corona-Fonds sei eine "Innovation" , die "einige Lehren für die Währungsunion impliziert, der immer noch eine permanente Fiskalkapazität auf supranationaler Ebene für die makroökonomische Stabilisierung bei tiefen Krisen fehlt". Mit anderen Worten: Um die erwähnten Spiralen des Schreckens zu vermeiden, sollte die EU-Ebene eingreifen können. Schließlich habe die Coronakrise gezeigt, dass es die "politische Bereitschaft" gebe, im Zweifelsfall "gemeinsame finanzpolitische Werkzeuge zu designen" - warum nicht mehr davon?

Demokratie, jetzt!

Wohin sich die EU-Finanzen entwickeln, hat vor einigen Jahren bereits eine Expertengruppe um den früheren Brüsseler Kommissar Mario Monti vorgezeichnet. Der Bericht  enthielt einige konkrete Vorschläge. Danach sollte die EU-Ebene größere Anteile an der Mehrwertsteuer erhalten, außerdem einen Anteil an einer harmonisierten Körperschaftsteuer, ferner Steuern auf Finanztransaktionen, den CO2-Ausstoß und den Energieverbrauch sowie Klimazölle auf emissionsintensiv produzierte Importe.

Mit solchen echten eigenen Einnahmequellen ausgestattet, könnte die EU aus der kleinkrämerischen Logik der nationalen Zahler- und Empfängerpositionen herauskommen, argumentierte die Monti-Gruppe. Ausgabenprogramme könnten danach entworfen werden, was für die Union insgesamt notwendig ist, wo also der europäische "Mehrwert" am größten ist - und nicht danach, welche Nettozahlungen sich eindeutig einzelnen Ländern zuordnen lassen.

All das mag arg technisch klingen. Doch letztlich geht es um etwas ganz Grundsätzliches: den Aufbau einer föderalen Ordnung. Damit sich die "schockierenden Aspekte" des Euro abmildern lassen.

Ich halte das für richtig.

Und doch: Derart weitgehende Schritte sollten nicht in Hinterzimmern entschieden werden. Die Regierungen, auch die Bundesregierung, müssen versuchen, die Bürger davon zu überzeugen. Das Thema gehört in den Wahlkampf 2021 - und zwar ganz oben auf die Agenda.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

München - Neu auf dem Kurszettel - Börsengang von Siemens Energy.

Berlin - Reisewarnung - Die für Tourismus zuständigen EU-Minister beraten unter deutschem Ratsvorsitz über die Zukunft der angeschlagenen Branche. 

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