Krise der Recycling-Branche Altpapier gilt wieder als Abfall
Hamburg - Bis vor Kurzem tobte in Deutschland ein wahrer Papierkrieg. Im ganzen Land wetteiferten Kommunen mit privaten Entsorgern um alte Pappe. In Berlin erhielten Einwohner an Sammelstellen Bares für durchgelesene Zeitungen. In Lübeck buhlten vier verschiedene Firmen mit Papiermülltonnen um das rentable Gut. In Görlitz hatten noch Anfang November Diebe Schlagzeilen gemacht, die Altpapier aus Containern klauten.
Dieses Diebesgut verrottet jetzt vermutlich irgendwo im Keller. Denn der jahrelang so begehrte Wertstoff ist seit einigen Wochen fast nichts mehr wert. "Altpapier ist wieder zu Abfall geworden", sagt Hans-Jürgen Friedeheim, Abteilungsleiter für Kommunale Dienste beim Familienbetrieb Melosch. Er muss es wissen: Das Hamburger Entsorgungsunternehmen macht 80 Prozent seines Umsatzes mit dem sogenannten Sekundärrohstoff.
Der Abstieg des Altpapiers kam plötzlich - noch plötzlicher als sein Aufstieg zu einem leidenschaftlich umkämpften Wertstoff seit den neunziger Jahren. Und nicht nur bei Pappe fallen die Preise: Auch das Geschäft mit anderen Recycling-Materialien wie Stahlschrott oder Kunststoffen ist seit Oktober nahezu zusammengebrochen. "Die Märkte haben eine Vollbremsung hingelegt. Die Preisfindung gleicht dem Blick in den Abgrund - und der Boden liegt noch im Nebel", sagt Burkhard Landers, Präsident des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE). "Was wir momentan erleben, sprengt unsere Vorstellungskraft."
Preise im Sinkflug
"Annahme verweigert", heißt es jetzt, wenn voll beladene Schiffe von den Chinesen nach Europa zurückgeschickt werden. Bestellte Ware wird nicht bezahlt, Exporteure wählen sich die Finger wund auf der Suche nach neuen Kunden - häufig ohne Erfolg. Der Preis für Mischpapier ist nach Informationen des Branchenmediums Euwid im November auf durchschnittlich zehn Euro pro Tonne gefallen - im Februar hatten Entsorger noch rund 85 Euro pro Tonne kassiert. "Gerade beim Altpapier gab es eine riesige Nachfrage aus Indien und China", sagt Karsten Hintzmann vom Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft (BDE), der 750 Mitglieder zählt. "Wir Deutschen trennen unser Papier ja sehr gewissenhaft, das sichert eine hohe Qualität."
In Asien ist der Verwertungskreislauf für Papier und Kunststoffe noch nicht ausreichend ausgebaut, so dass ein Mangel an Sekundärrohstoffen herrscht. Deshalb werden recycelbare Materialien aus Europa importiert, um die Wertstoffe zu verarbeiten. Zeitungen, Verpackungen, Flaschen, Spielzeug, Stahlträger - die boomende Wirtschaft bescherte Betrieben in Fernost eine wahre Flut an Aufträgen. Das ist mit der Finanzkrise und dem globalen Abschwung nun vorbei. Die Autoindustrie braucht weniger Kunststoffe und Verpackungen, die Konsumlust schwindet. Und die asiatischen Ökonomien bangen um ihre Exportmärkte im Westen.
Auch der deutsche Markt stockt
In deutschen Betrieben sinkt der Bedarf an Rohstoffen ebenfalls. Die hiesige Papierindustrie soll ihre Abnahmemengen um 30 Prozent gesenkt, Stahlwerke ihre Produktion um bis zu 40 Prozent gedrosselt haben. "Wenn die Firmen kein Geld mehr von den Banken erhalten, lässt auch die Nachfrage nach Rohstoffen nach", sagt BDE-Sprecher Hintzmann.
Der plötzliche Preisverfall ist für die Recycling-Branche ein Debakel - war doch der Handel mit wiederverwertbarem Material zu einem wichtigen Markt geworden. 2,75 Millionen Tonnen Altpapier und 8,3 Millionen Tonnen Stahlschrott hatten deutsche Entsorger nach BVSE-Zahlen im Jahr 2007 exportiert. Weil diese Mengen nun auf den Inlandsmarkt zurückdrängen, kommt es auch hier zum Preisverfall. "Das Weihnachtsgeschäft ist auch schon durch", sagt Friedeheim vom Entsorger Melosch. Seine Firma sei froh über eine Reihe von Festverträgen, die den Handel mit Altpapier vor der großen Talfahrt bewahren.
Andere Entsorgungsunternehmen, die auf das schnelle Geld in Fernost gesetzt haben, stehen dagegen vor handfesten Problemen. Verluste drohen auch jenen Firmen, die Kommunen vertragsgemäß zu festen Preisen Materialien abkaufen müssen. Erste Arbeitgeber haben nach Verbandsangaben bereits angekündigt, Stellen zu streichen. "Man kann wohl davon ausgehen, dass einige Firmen die Situation nicht überleben werden - je nachdem, wie lange sie anhält", sagt BVSE-Sprecher Lacher. "Wer hoch gepokert und auf gleichbleibende Preise gesetzt hat, hat jetzt verloren."
Zuzahlungen werden fällig
Die Entsorger bleiben auf ihrem Schrott nun buchstäblich sitzen. "Früher wurden die Gullideckel von der Straße geklaut, jetzt geht nichts mehr", sagt ein Branchenkenner. Durch die starke Nachfrage aus den Schwellenländern sei man gerade bei Stahlschrott davon ausgegangen, dass die Preise dauerhaft hoch bleiben würden. Von wegen: Während die Tonne Altschrott noch im Juni dieses Jahres rund 400 Euro einbrachte, ist der Preis im November laut dem Branchendienst Euwid auf 85 Euro gefallen. Bei Schrottsorten niedriger Qualität sei der Absatz drastisch eingebrochen oder "nicht mehr vorhanden". So würden teils sogar Zuzahlungen für die Abholung des Schrotts verlangt.
Die Branche flüchtet sich in Zweckoptimismus. "Eine Preiskorrektur war zu erwarten", sagt Michael Schneider, Sprecher des privaten Entsorgers Remondis. "Vorher gab es eine Überhitzung, jetzt geht die Marktübertreibung nach unten." Auch BVSE-Präsident Burkhard Landers setzt weiterhin auf den Recycling-Markt: "Was wir erleben, ist eine klare Überreaktion. Die fundamentalen Rahmenbedingungen haben sich nicht geandert - Rohstoffe sind knapp und endlich." Deshalb könne man es sich nicht leisten, Sekundärrohstoffe in Frage zu stellen.
Neben den Unternehmen gibt es weitere Verlierer: die Verbraucher. Weil das Geschäft mit recycelbarem Material keine Gewinne mehr abwirft, müssen die privaten Haushalte mit höheren Müllgebühren rechnen. Der Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung geht von einer Anpassung der Preise bereits im kommenden Jahr aus. Verbandssprecher Lacher: "Die sinkenden Preise für Altpapier und Kunststoffe werden sich auch auf die Gebührenkalkulationen der Kommunen auswirken."