Laßt die Erben zahlen
Die Verkündungen schmecken nach Dekadenz, Zerfall, nach Untergang. Vom Staatsbankrott wird in Westdeutschland fast täglich geredet, diffuses Mißtrauen weckend, an den Regierenden, aber auch -- unversehens wohl -- Gefährlicheres, tradierte Ängste nämlich um das Weiterbestehen der gesamten polit-ökonomischen Ordnung. Denn schließlich ist allen großen Zusammenbrüchen in der Geschichte, allemal dem Kollaps der drei Deutschen Reiche, aber auch schon dem Untergang des römischen Imperiums und dem Zerbröseln seiner Nachfolger, dem revolutionären Sturz der französischen und russischen Monarchie vorausgegangen, was nun dem Anschein nach auch die zweite deutsche Republik bedroht: der Wunsch des Staates nach hohen Krediten.
Doch trägt die zumindest in Kontinental-Europa scheinbar historisch bewiesene Gleichung, daß Staatspump Unsolidität und verrottete Sitten bedeute, mithin der Vorbote irgendeines nationalen Unglücks sei, wirklich weit? Entstammt sie nicht eher der Mythologie, zu der sich Geschichte häufig verdichtet, einem Mythos zudem, für den Deutsche durch sprachliche Vorformung anfälliger sind als andere Nationen? Immerhin heißt der deutsche Begriff für geborgtes Geld »Schulden«, ist also die Mehrzahl von Schuld, das Vielfältige einer moralischen Verfehlung.
Einen solchen Konnex gibt es weder im romanischen Raum noch bei den Angelsachsen. Und sicherlich prägen auch Sprachinhalte, wahrscheinlich die nicht täglich bewußten sogar im besonderen, Ängste, Wünsche, Werturteile und verstellen damit die nüchterne Analyse.
Den Deutschen gelang dabei eine seltsame Spaltung der Begriffe, die das gleiche für den einen gut, für den anderen aber böse macht. Nur wenn der Staat und Konsumenten borgen, heißt das immer argwohnschaffend Schulden.
Den wertbeladenen Wörtern konnten jene entkommen, die traditionell am meisten fremdes Geld leihen: Deutsche Unternehmer und Bankiers nennen ihr Geborgtes fein, und von der Allgemeinheit angenommen, »Fremdfinanzierung« oder »Einlage«, meistens sogar »Verbindlichkeit«; es sind Vokabeln, die fast Freundschaft suggerieren. Sie scheinen wie ein Schild zu wirken, hinter dem Industrielle und vor allem Bankiers, geschützt gegen Mißtrauen, einen wesentlich größeren Teil ihrer Geschäfte, als etwa im angelsächsischen Ausland für üblich und solide gilt, per Kredit finanzieren können. Trotz der nicht nur kleinen Wort- und Wertungsunterschiede sollte es vielleicht erlaubt sein, Staats- und Unternehmensschulden miteinander zu vergleichen. Legen doch gerade jene, die den »Konkurs«, die »Pleite«, den »Bankrott« des Staats ausrufen, mithin den öffentlichen Händen ein ähnliches Ende wie einer nicht mehr zahlungsfähigen Firma prophezeien, einen solchen Vergleich nahe.
Tatsächlich ist zumindest ein Teil der wirtschaftlichen Aktivität des modernen Staates von einer privaten Firma gar nicht so weit entfernt. Denn grundsätzlich obliegen dem Staat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur zwei ökonomische Aufgaben: Er ist zum einen eine Art Clearingstelle für die Einkommen aller in seinem Machtbereich lebenden Bürger -- einem riesigen Wohltätigkeitsverein (mit Zwangsmitgliedschaft) vergleichbar, der den einen gibt, was er den anderen abgenommen hat.
Aber er ist zum anderen auch eine Art Dienstleistungsunternehmen, da er es ja schließlich unternimmt, zumindest die nur kollektiv konsumierbaren Güter und noch einiges darüber hinaus her- und bereitzustellen.
Für beide Bereiche der Staatstätigkeit gelten sicher so verschiedene Finanzierungsgrundsätze wie für das Rote Kreuz und den Siemens-Konzern. Für beide Bereiche gilt dennoch, daß ihre Ausgaben unter gewissen Umständen auf Kredit finanziert werden müssen, soll nicht Armut und Elend entstehen.
Denn auch die Tätigkeit, die dem modernen Staat die Namensverkoppelung mit der Wohlfahrt eintrug, muß nicht zu allen Zeiten allein aus Zwangsabgaben, also Steuern und Sozialbeiträgen, voll gedeckt werden. Zwar ist als Regel wichtig: Die Ausstattung auch der Bürger, die weder Arbeit noch gar Kapital zu Markte tragen können, mit Geld oder verbilligten Sachleistungen muß prinzipiell als eine nach Belastbarkeit gestaffelte Umlage bei jenen abkassiert werden, die ausreichend oder gar überreich mit der Verdienstklasse »Leistungseinkommen« gesegnet wurden. Anders wäre dem Versprechen auf Egalité, das die modernen Wohlfahrtsstaaten als Vermächtnis der Französischen Revolution übernahmen, kaum auch nur ein Stückchen näherzukommen. Anders auch wäre die Wohlfahrt -- genauer: eine Wohlfahrt, die geliehene Kapitale verzehrt -- wohl recht schnell beendet. In Krisenzeiten, wenn sich der Kreis der Zahler verkleinert, zugleich aber die Masse der Hilfsbedürftigen wächst, gelten jedoch diese Regeln nicht mehr. Eine Regierung, die sich dann das Geld für jene Zahlungen, die an sich nur ein Transfer von einem zum anderen Bürger sein sollten, nicht borgt, handelt im Grunde wie einst der glücklose Reichskanzler Heinrich Brüning, der Anfang der 30er Jahre die Folgen der Weltwirtschaftskrise für Deutschland durch Sparen katastrophal verschärfte.
Wenn etwa die Unterstützung der zusätzlich Arbeitslosen und der Ersatz ihrer, ausgefallenen Zahlungen für andere Umverteilungsmaßnahmen in einer Rezession wie der gegenwärtigen voll aus erhöhten Steuern oder steuerähnlichen Umlagen finanziert würden, hieße das nichts weiter, als die Krise auf die Spitze zu treiben. Die Einkommen der noch Arbeitenden würden erheblich beschränkt, die Kauflust der Konsumenten sänke noch mehr, und mit ihr verfiele auch die ohnehin karge Arbeitskräftenachfrage.
Durch eine Kreditfinanzierung dagegen wird eine solche Teufelsspirale, die alle ärmer zu machen droht, vermieden und zugleich ein weiterer Vorteil gewonnen: Die endgültige Bezahlung der Krisenkosten könnte auf die fetteren Konjunkturjahre, die bisher noch allemal jedem Niedergang folgten, vertagt werden. Sie sind, wenn Einkommen und Beschäftigung wieder zu steigen beginnen, auch leichter zu tragen. Meist ist dann die Kreditrückzahlung sogar ohne Änderung der Abgabesätze möglich, da die Staatseinnahmen aufgrund der insgesamt leicht progressiven Steuersätze schneller steigen als das Bruttosozialprodukt.
Allerdings sollte mit der Tilgung der zuvor in der Krise für die wohlfahrtsstaatlichen Verpflichtungen aufgenommenen Schuld dann auch so flugs begonnen werden, daß sie vor einem nächsten Konjunkturrückschlag voll abgezahlt ist. Denn nur so bleibt die Summe der Zinskosten relativ klein. Nur so auch wird im Durchschnitt -- über die gesamte Strecke der mageren und der folgenden guten Jahre -- am Ende doch der Grundsatz befolgt, daß an tatsächlich oder vermeintlich Bedürftige nur das verteilt werden kann, was man den anderen wegnimmt.
Völlig andere Kriterien als für die öffentlichen Umverteilungsstationen haben für die Bereiche zu gelten, in denen der Staat als Dienstleistungsunternehmen wirken muß oder wenigstens meint, daß er es sollte, Zu solchen Dienstleistungen der öffentlichen Hände zählen neben der Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten, Straßen oder Kläranlagen auch so klassische Staatsaufgaben wie etwa die Sorge für öffentliche Sicherheit. Und ein Teil dieser Aufgaben kann und sollte wohl auch, unabhängig von Wechselfällen der Konjunktur, immer über Kredit finanziert werden.
Dabei ist jener überkommene Grundsatz, wonach Kreditfinanzierung nur für eine öffentliche Investition zulässig sei und als solche nur gelten könne, was fest mit der Erde vermauert wird, sicher zu eng. Investitionen -- also Geldausgaben, die irgendwann einmal mehr Geld hecken sollen -- sind beispielsweise im Bildungsbereich nicht nur die Hochschulbauten, sondern auch und vor allem die Gehälter für zusätzliche Lehrkräfte. Beide Ausgabenposten können langfristig fremdfinanziert werden. Denn erst beides zusammen ermöglicht den Gewinn, den Bildung abwerfen kann: höhere Einkommen für die Hochschulabsolventen und damit höhere Steuereinnahmen, aus denen dann die Zinsen für die gesamte Bildungs-Investition gezahlt werden müssen.
Auch jene Staatsausgaben, die weder den Bürgern noch den- öffentlichen Händen irgendeine später anfallende Einkommenserhöhung sichern, können noch zum Teil über Verschuldung gezahlt werden, ohne daß der Nation Unsolidität oder noch Übleres nachgesagt werden müßte.
Würde etwa für die Bundeswehr völlig neues Kriegsgerät, das mehrere Jahre hält, angeschafft und mit geborgtem Geld finanziert, ergäbe sich für die Bürger nur, was sie als Kunden beim Kaufmann gewohnt sind: Die Gesamtausgaben würden ihnen nicht auf einmal abgezogen, sondern gemäß der Lebensdauer der Kriegsmaschinen auf mehrere Jahre verteilt.
Die Steuern, mit denen öffentliche Dienste wie Schutz gegen äußere Feinde und vergleichbare Leistungen für das Bürgerkollektiv bezahlt werden müssen, würden damit ähnlich wie Privatwirtschaftlich errechnete Preise bemessen. Sie müßten außer den laufenden Kosten die Abschreibungen (der jahnliche Verschleiß der Geräte) und die Zinsen für das geborgte Kapital
decken. Leicht wird dabei eins übersehen: die Zinsen für das geborgte Kapital. Auch wenn eine neue Straße oder ein neues Computerzentrum für die Kriminalpolizei zur Anschaffungszeit voll aus Steuern bezahlt werden, fallen in den folgenden Jahren Abschreibungen, also die Kosten für den Verschleiß, an. Würden sie nicht beigetrieben, wird Volksvermögen verzehrt. Es bliebe also die Summe der Zinsen, um die eine Deckung durch Steuern billiger wäre, als Schulden zu machen.
Doch auch diese Rechnung, die Etatverwalter gern aufmachen, erweist sich bei richtiger gesamtwirtschaftlicher Kalkulation als eine Bilanzlüge. Gegen die Zinsersparnisse sind aufzurechnen die Zinsverluste, die den Bürgern entstehen, wenn ihnen bei reiner Steuerfinanzierung der Staatsprojekte Geld entzogen wird, das sie sonst gewinnbringend hätten anlegen können. Der Unterschied zwischen Steuer- und Kreditfinanzierung reduziert sich damit auf ein Verteilungsproblem der in beiden Fällen im Extrem gleich hohen Kosten.
Die Wahl der Finanzierungsart bleibt auch dann hauptsächlich ein Verteilungsproblem, wenn die Steuern, mit denen neue Staatsprojekte bezahlt werden könnten, von den Bürgern nicht aus den eigentlich für die Vermögensbildung vorgesehenen Geldbeständen, sondern durch Konsumeinschränkung aufgebracht würden. Bei reiner Steuerfinanzierung von Straßen oder Universitäts-Rechenzentren trägt dann eine Generation durch Konsumverzicht praktisch die Zinsen, die anderenfalls später lebenden Nutznießern der Staatsbauten angelastet würden.
Im Namen einer gerechten Lastenverteilung jedoch kann jeder Generation von Steuerbürgern zugemutet werden, für lang- oder längerlebige Staatsgüter, die sie nutzt, auch den Preis für Kapitalnutzung, also Zinsen, zu zahlen. An dieser Richtschnur gemessen, ist beispielsweise der westdeutsche Staat nicht zu hoch, sondern eher viel zuwenig verschuldet. Obwohl Bund, Länder und Gemeinden allein in den letzten zwei Jahren 100 Milliarden Mark zusätzlich borgten, beträgt der Schuldenbestand, den sie verzinsen müssen, erst rund 260 Milliarden Mark. Das Vermögen, das die öffentlichen Hände angehäuft haben, ist jedoch mehr als das Dreifache, nämlich runde 800 Milliarden Mark, wert. (Darunter: 270 Milliarden Mark Geldvermögen -- niedrigverzinsliche Forderungen an die Wirtschaft und an das Ausland.)
Daß Kreditfinanzierungen während der meisten Jahre vor der gegenwärtigen Rezession sowenig genutzt und damit den Bürgern mehr Steuern abverlangt wurden, als hätte sein müssen, liegt auch an einer längst überholten Irrlehre. Erhöhte Staatskredite -- so wurde behauptet -- führten geradewegs zur Inflation, während heimlich oder offen erhöhte Steuern so böse Folgen nicht hätten.
Doch ebenso wie mit einer Steuererhöhung entzieht der Staat mit erheblich erhöhten Krediten den Bürgern ungewohnt viel Geld. Und beides kann böse enden.
Wenn beispielsweise die Arbeitnehmer jenen Betrag, der ihnen 1977 durch die geplante Mehrwertsteuererhöhung entzogen werden soll, auf ihre Löhne aufschlagen, können die staatlichen Institutionen nur noch zwischen zwei Übeln wählen: Falls die Bundesbank mit lockerer Geldpolitik dafür sorgt, daß die zusätzliche Steuersumme doppelt -- einmal vom Staat und noch einmal von den Arbeitnehmern -- ausgegeben werden darf, entsteht eine gewaltige Teuerung. Falls sie das nicht zuließe, würden die Unternehmen die zusätzlichen Kosten allein tragen und deshalb dann wieder viele Arbeiter entlassen müssen.
Selbstverständlich hat auch eine gewaltig erhöhte Kreditnachfrage (wenn sie nicht durch Steuersenkungen kompensiert wird) im Grunde ähnliche Tücken. Während erhöhte Steuern die Eigenkapitalbildung der Firmen und die verfügbaren Einkommen der Verbraucher beengen, schränken Kreditwünsche des Staates den Verschuldungs-Spielraum der Unternehmen und der Konsumenten ein. Inflation droht dabei nur in guten Konjunkturjahren und dann auch nur, wenn die Notenbank eine schlampige Politik betreibt. Die Arbeitsplätze und der Wohlstand jedoch werden unausweichlich gefährdet, wenn der Staat in hohem Maße zusätzlich geborgtes Kapital wesentlich ineffizienter ausgibt, als jene es investiert hätten, denen er es entzog. Nur: Auch verschwendete Steuergelder stiften Wohlstandsverluste. Mit zu aufwendigen Schwimmbädern. deren laufende Kosten nicht über Gebühren zu finanzieren sind, oder zu teuer betriebenen Kindergärten schädigt der Staat seine Bürger -- gleichgültig, ob er sie über Steuern oder über Kredit finanziert.
In einem von solchem Ballast befreiten Staatsbudget könnten Kredite durchaus einen größeren Platz einnehmen als in der Vergangenheit. Denn Schulden sind für den demokratischen Staat nicht nur eine legitime, sondern eine notwendige Finanzierungsart. Sie bedeuten im Prinzip nichts anderes, als daß bestimmte Lasten teilweise in die Zukunft verlagert, also späteren Generationen aufgeladen werden. Und in den industrialisierten Gesellschaften sind bisher jedenfalls immer noch die späteren Generationen reicher gewesen. Falls der Staat immer darauf achtet, daß er sein Geld effizient genug ausgibt, besteht überhaupt kein Grund, anzunehmen, daß die Zukunft anders aussehen sollte.
Eine reine oder nahezu reine Steuerfinanzierung der Staatshaushalte paßt deshalb eher zu autoritär sozialistischen Staaten mit ihrer innerweltlichen Eschatologie; die irgendeinem späteren Geschlecht in einer fernen Zukunft ewiges Glück auf Erden verspricht, eine Verheißung, für die dann alle Gegenwärtigen sich einzuschränken haben.
Die Welt scheint verkehrt, wenn vor allem auch Christdemokraten, die doch noch immer einen Himmel haben, auf diese Art die ferne Seligkeit im Diesseits suchen.