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EUROPA »Leben ist nicht nur Arbeit«

Interview mit Ministerpräsident Wim Kok über Arbeitslose in Europa, das holländische Beschäftigungsmodell und die Chancen des Euro
Von Olaf Ihlau
aus DER SPIEGEL 50/1997

Sozialdemokrat Kok, 59, ist seit August 1994 Regierungschef der Niederlande.

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, in den Niederlanden ist die Arbeitslosigkeit nur halb so hoch wie in Deutschland. Was hat Ihr Land richtig, was haben die Deutschen falsch gemacht?

Kok: Deutschland hat die schwere Last der Vereinigung geschultert. Die Probleme sind riesig. Ich bewundere alle, die damals zu dieser Entscheidung den Mut hatten. Hätte Westeuropa einschließlich der Niederlande in vergleichbarer Weise die Verantwortung für ganz Mittel- und Osteuropa auf seine Schultern nehmen müssen, dann wäre die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage in Westeuropa erheblich schwieriger als jetzt.

SPIEGEL: Das wird Helmut Kohl gerne hören.

Kok: Das sollten auch alle Deutschen wissen. Doch es gibt noch eine weitere Erklärung für unseren relativen Erfolg im Kampf für mehr Beschäftigung: Als kleinere Wirtschaft mit 50 bis 60 Prozent Außenhandelsanteil am Bruttosozialprodukt spürten wir schneller die Notwendigkeit, auf die Globalisierung zu reagieren. Deswegen haben wir uns eher angepaßt als die größeren Volkswirtschaften Deutschlands und Frankreichs.

SPIEGEL: Sie können sich auch über steigende Steuereinnahmen und sinkende Defizite freuen, ganz anders als Theo Waigel.

Kok: Unsere Haushaltspolitik ist erfolgreich, wir haben eben schon eher angefangen zu konsolidieren. Die jetzige Regierung erntete auch die Früchte der Anstrengungen ihrer Vorgängerinnen. Vor allem aber haben wir bei den großen Interessengruppen in unserem Lande einen Konsens darüber, daß bescheidene jährliche Lohnzuwächse die Chancen der Arbeitslosen für den Eintritt in den Arbeitsmarkt verbessern.

SPIEGEL: Zeigt das holländische Beispiel, daß grundlegende Reformen nur mit einer Art großkoalitionärer Anstrengung bewältigt werden können?

Kok: Die Niederlande sind schon seit vielen Jahrzehnten ein Koalitionsland. Hier sind alle Arten von Koalitionen möglich: Christdemokraten mit Sozialdemokraten, Christdemokraten mit Liberal-Konservativen und jetzt, in meiner Regierung, sogar Sozialdemokraten mit Liberalen und Liberal-Konservativen. Das schleift die Unterschiede, die es natürlich auch gibt, etwas ab. Alles drängt sich ganz schön in der politischen Mitte der Niederlande.

SPIEGEL: Das Ergebnis ist ein hohes Maß an Übereinstimmung, wer auch immer an der Regierung ist?

Kok: Gewiß, aber sehr wichtig ist auch die konstruktive Rolle der Sozialpartner. Die reden mit, wir hören zu. Manchmal sagen ungeduldige Politiker, das koste zuviel Zeit und Energie. Ich meine, diese Zeit und Energie muß man sich nehmen.

SPIEGEL: Und da schert in Zeiten des Turbo-Kapitalismus keiner aus und sucht sich im Konflikt durchzusetzen?

Kok: Es herrscht ein Klima wie in einer großen Organisation. Nicht nur die großen Betriebe, auch die kleinen und mittleren sind dabei. Das hat sich hier so etabliert, ist Teil des »Polder-Modells": die Art und Weise, wie man miteinander umgeht.

SPIEGEL: Mit dieser Methode ist es zwar gelungen, in den letzten vier Jahren eine halbe Million Arbeitsplätze zu schaffen, aber die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden hat sich auch in den Niederlanden kaum erhöht.

Kok: Da haben Sie recht. Doch das ist schon seit geraumer Zeit eine bewußt gewählte Politik in der gesamten Gesellschaft.

SPIEGEL: Der Erfolg beruht also zu einem guten Teil darauf, daß die Zahl der Teilzeitbeschäftigten im Vergleich zu anderen Industriestaaten sehr hoch ist?

Kok: Dabei müssen Sie aber bedenken, daß die sozialversicherungspolitische Lage der Teilzeitarbeiter in den Niederlanden wesentlich besser ist als etwa in Deutschland. Teilzeitarbeiter sind hier keine Arbeiter zweiter Klasse. Sie haben ohne Ausnahmen gleiche Rechte.

SPIEGEL: Warum ist das bei Ihnen anders?

Kok: Wenn man kürzer arbeitet, bekommt man weniger Geld. Das ist akzeptiert, meistens eine bewußte Entscheidung der Betroffenen. In der Vergangenheit gab es meist nur einen Verdiener, die Frau blieb zu Hause. Jetzt ist der Wunsch nach Partizipation, nach Emanzipation da. Wir haben die Barrieren für Frauen weitgehend weggeräumt. Teilzeitbeschäftigte haben die gleiche soziale Absicherung wie in einem Vollzeitjob; Teilzeit wird nicht erzwungen, ist nicht diskriminiert.

SPIEGEL: Warum ist die Bereitschaft, sich mit weniger Arbeit und Geld zu begnügen, in den Niederlanden größer als anderswo?

Kok: Flexibilität ist heute auch ein Arbeitnehmer-, ein Bürgerbegriff. Der individuelle Arbeitnehmer will über die Aufteilung von Freizeit und Arbeit selbst bestimmen, will sich mehr um seine Kinder oder die Älteren kümmern, oder er will in einer bestimmten Phase Freizeit für Studium und Fortbildung. Ich bin überzeugt: Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf wird in einer flexiblen Weise weiter sinken.

SPIEGEL: Schon heute haben 37 Prozent Ihrer Landsleute Teilzeitjobs. Wollen die keine Vollzeit-Stellen?

Kok: Die übergroße Mehrzahl hat das angestrebt, macht das freiwillig. Viele junge Leute sagen: Wir haben geheiratet, wir bekommen Kinder, wir wollen nur noch vier statt fünf Tage in der Woche arbeiten. Natürlich hat das eine finanzielle Konsequenz. Aber das Leben ist nicht nur Arbeit und Geld.

SPIEGEL: Das können sich doch nur Leute mit hohem Einkommen leisten.

Kok: Wer einen qualifizierten Job hat, ist natürlich freier. Bei den unteren Schichten ist das anders.

SPIEGEL: Wer sind die Verlierer?

Kok: Die Teilhabe der Älteren am Berufsleben ist erschreckend niedrig. Nur zehn Prozent der Männer zwischen 60 und 64 sind noch beschäftigt. Zwischen 55 und 64 Jahren sind es gerade mal 20 bis 25 Prozent. Das ist in Deutschland zwar etwas besser, aber auch nicht zufriedenstellend.

SPIEGEL: Sehen Sie die Gefahr, daß mit der Einführung des Euro der Wettbewerb in Europa schärfer wird und nicht mehr Stellen geschaffen werden, sondern zunächst noch einmal viele Jobs verloren- gehen?

Kok: Konkurrenz führt immer dazu, daß es irgendwo Gewinner und anderswo Verlierer gibt. Das ist auch innerhalb eines Staates der Fall. Aber ich glaube, die wirtschaftliche Kraft Europas wird durch den Euro wachsen. Das wird auch mehr Arbeitsplätze bringen.

SPIEGEL: Viele Ökonomen prophezeien, mit Einführung des Euro werde die Wettbewerbsschwäche vieler europäischer Firmen erst offenbar, die jetzt noch durch eine Abwertung der nationalen Währungen kaschiert ist.

Kok: Die größten Rationalisierungen in den Unternehmen gab es doch schon, weil die Staaten die Maastricht-Finanzkriterien erfüllen wollten. Das ist gelungen oder fast gelungen. Das schwerste Wetter haben wir hinter uns, jetzt werden sich die Vorteile der gemeinsamen Währung zeigen. Wir dürfen da nicht zuviel Angst haben.

SPIEGEL: In Deutschland ist die Furcht vor einem weichen Euro weit verbreitet. Gibt es diese Sorgen auch in den Niederlanden?

Kok: Die Haltung der Bürger ist in beiden Ländern ähnlich. Meine Landsleute haben begriffen, daß Reformen und Sparprogramme nötig waren, nicht nur wegen des Euro, aber auch wegen des Euro. Die wolle jetzt, daß die Kriterien für die Teilnahme an der einheitlichen Währung strikt angewendet werden. Einen harten Gulden für einen schwachen Euro einzutauschen, das ist nicht vertretbar.

SPIEGEL: Aber hat die kreative Buchführung zur Einhaltung der Defizit-Kriterien nicht in vielen europäischen Finanzministerien Hochkonjunktur?

Kok: Ich bin für Kreativität, und ich bin auch für Buchhaltung. Die Koalition dieser zwei ist aber nicht ohne Risiko. Mit Einführung des Euro treffen wir eine unumkehrbare Entscheidung. Es sollten möglichst viele Länder mitmachen, die aber müssen ein gesundes Budget haben, nicht nur die richtigen Zahlen für 1997. Man muß hinter die Zahlen schauen und ihr Fundament prüfen.

SPIEGEL: Paris hat überraschend den französischen Notenbankpräsidenten Jean-Claude Trichet gegen Ihren Landsmann Wim Duisenberg als ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank in Stellung gebracht. Wie kann der Schaden begrenzt werden?

Kok: Alle müssen verhindern, daß es zu einer Politisierung der ganzen Euro-Einführung kommt. Das heißt: Der beste Kandidat muß Präsident werden. Das ist Wim Duisenberg, der auch jetzt noch von der überwältigenden Mehrzahl der Mitglieder eine klare überwältigende Unterstützung erfährt. Er ist ein ausgezeichneter Kandidat, und zwar nicht deshalb, weil er Niederländer ist, obwohl auch das keinesfalls gegen ihn spricht.

SPIEGEL: Sind Sie mit der Unterstützung Helmut Kohls für Ihren Favoriten zufrieden?

Kok: Ich habe nicht ein Prozent Zweifel, daß die Deutschen fest zu Duisenberg stehen.

SPIEGEL: Es wird doch schon über eine verkürzte Arbeitszeit des ersten Präsidenten und über potentielle Nachfolger geredet - alles Dinge, die laut Maastrichter Vertrag nicht machbar sind.

Kok: Wenn die Frage, wer Präsident der Europäischen Notenbank wird, nicht bald gelöst wird, könnte das zu weiteren Komplikationen führen. Aber es geht jetzt nicht um den zweiten, sondern um den ersten Präsidenten. Dafür haben wir mit Duisenberg einen erstrangigen Mann. Je länger der Wettkampf dauert, desto größer wird die Gefahr, daß Zweifel an der Unabhängigkeit der Bank und ihres Präsidenten von den Politikern wachsen. Diese Frage muß rasch geklärt werden, um weitere Komplikationen zu vermeiden.

SPIEGEL: Könnte am Ende ein Dritter zum Zuge kommen, weil sowohl Trichet wie Duisenberg als Kandidaten durch die öffentliche Diskussion verbrannt sind?

Kok: Nein, der niederländische Kandidat ist nicht verbrannt, der ist überhaupt nicht zu verbrennen.

[Grafiktext]

Deutschland und Niederlande: Haushaltsdefizit, Arbeitslosenquote

und Teilzeitarbeit

[GrafiktextEnde]

* Mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac (2. v. l.),Bundesaußenminister Klaus Kinkel und Kanzler Helmut Kohl im Juniauf dem EU-Gipfel in Amsterdam.

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