Lebensmittel-Discounter Netto-Beschäftigte prangern Ausbeutung an

Dutzende Überstunden, Testkäufe, reingelegte Kassiererinnen - "was bei Lidl abgegangen ist, war Kindergeburtstag im Vergleich dazu, was bei Netto abgeht", klagen Filialleiter des Lebensmittel-Discounters. Der Konzern weist die Vorwürfe zurück: Man bewege sich im branchenüblichen Rahmen.

Hamburg/Frankfurt am Main - Der Samstag ist der schlimmste Tag. Nicht nur wegen der Massen von Wochenendeinkäufern, die die Netto-Filiale von Rainer Müller* dann stürmen. Am Samstag muss auch die Sonderaktionsware für die Folgewoche aufgebaut werden. Aber die meisten der beworbenen Artikel dürfen erst nach Ladenschluss ab 20 Uhr in die Regale gestellt werden. So will es das "Schema Aktionsaufbauten", das an Müllers Bürotür hängt und das SPIEGEL ONLINE in Kopie vorliegt.

Netto-Markt in Oldenburg: Harter Verdrängungswettbewerb in der Branche

Netto-Markt in Oldenburg: Harter Verdrängungswettbewerb in der Branche

Foto: AP

Aber auch, wenn es nicht Samstag ist: Müller findet die Arbeitsbedingungen bei seinem Arbeitgeber Netto inzwischen "unerträglich". "Ich arbeite 65 bis 75 Stunden pro Woche, wenn es glatt läuft", sagt er. Wenn es nicht glatt laufe, seien es an die 80 Stunden. "Unter zehn bis zwölf Stunden pro Tag komme ich nie raus", sagt er. "Wir arbeiten hier am Limit."

Heiner Frank* ergeht es nach eigener Aussage nicht besser. Frank sagt, er sei offiziell als Marktleiter eingestellt. Tatsächlich lerne er Personal von Plus-Filialen ein, die derzeit in Netto-Filialen umgewandelt werden. Anfang des Jahres sind die beiden Discounter verschmolzen, zum dritten Branchenriesen neben Aldi und Lidl. Pro Woche werden jetzt 30 bis 50 Plus-Filialen "auf das erfolgreiche Netto-Konzept umgestellt", wie der Netto-Mutterkonzern Edeka stolz verkündet.

"Ich mach oft mehr als das Doppelte"

Für Frank bedeutet das aber vor allem eins: viel Arbeit. Häufig gehe er morgens um fünf Uhr aus dem Haus und komme abends um zehn Uhr wieder, sagt er. Anders gehe es nicht: Er müsse den neuen Kollegen schließlich vom Kassenöffnen bis zur Abrechnung beistehen. Als er eingestellt wurde, sei von einer 45-Stunden-Woche die Rede gewesen, sagt Frank. "Ich mach oft mehr als das Doppelte."

Ein Vorwurf, der dem Discounter nicht zum ersten Mal gemacht wird: Die "tageszeitung" hatte vor kurzem über einen Netto-Marktleiter berichtet, der angab, in einem Jahr 1000 Überstunden geleistet zu haben. Dabei verdienen die Filialchefs den Aussagen der Betroffenen zufolge manchmal nicht mehr als 2200 oder 2400 Euro brutto. Auch in Weblogs werden - anonym - schwere Vorwürfe gegen Netto erhoben. "Was bei Lidl abgegangen ist, war Kindergeburtstag im Vergleich dazu, was zurzeit bei Netto abgeht", schreibt ein Teilnehmer.

Die Discounter in Deutschland

Bei Netto selbst versteht man die Vorwürfe nicht: Man lege Wert auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes, Überstunden in einer solchen Größenordnung seien "ausdrücklich nicht erwünscht", sagt Sprecherin Christina Stylianou. Bei der Frage nach den Gehältern wird der Konzern allerdings zurückhaltend: Man sei zwar nicht tarifgebunden, die Zahlungen für Kassiererinnen entsprächen aber dem "branchenüblichen Niveau". Die Überstunden, die die Marktleiter Müller und Frank beklagen, "werden mit einer monatlichen, übertariflichen Extra-Zulage abgegolten".

Discounter sparen auf Kosten der Mitarbeiter

Das Problem ist: Die gesamte Branche ist für ihren rauen Umgang mit den eigenen Angestellten bekannt - auch wenn sich die Kritik meist auf den Konkurrenten Lidl konzentriert. So wurde 2008 durch einen "Stern"-Bericht bekannt, dass Lidl seine Angestellten in den Filialen von Detektiven ausspähen ließ - Lidl musste eine Geldstrafe von mehr als einer Million Euro zahlen. Und im April enthüllte der SPIEGEL, dass Lidl bis vor wenigen Monaten handschriftliche Krankenakten mit genauen Angaben zum psychischen und physischen Gesundheitszustand der Mitarbeiter führte.

Tatsächlich ist es vor allem der Personalbereich, bei dem die Discounter massiv sparen - auf Kosten der Mitarbeiter. Die Personalkosten der Lebensmittel-Discounter beliefen sich laut einer Studie der Gewerkschaft Ver.di im Jahr 2007 auf 6,9 Prozent des Umsatzes - bei normalen Supermärkten waren es um die 13 Prozent.

Ver.di-Einzelhandelsexperte Ulrich Dalibor ist deshalb überzeugt, dass die Mitarbeiter bei den meisten Billigheimern an ihre Grenzen gehen müssen. "Das geht fast nicht anders", sagt er. Zumal der Wettbewerb unter den Günstiganbietern immer härter wird, der Markt ist längst übersättigt. "Wachstum ist nur noch über Verdrängung möglich", sagt Matthias Queck vom Marktforschungsunternehmen Planet Retail.

Die Edeka-Gruppe setzt bei ihrer Discount-Tochter deshalb auf aggressive Expansion. Mit dem Erwerb der Plus-Märkte bringt es Netto nach Unternehmensangaben bereits auf rund 3700 Filialen. In den kommenden drei Jahren sollen 850 weitere hinzukommen - ob dieser Kurs die Arbeitsbedingungen verbessert, ist fraglich.

Testkäufe erhöhen den Druck

Theoretisch könnte Netto-Filialleiter Müller zwar gegen seine ausufernden Arbeitszeiten gerichtlich angehen. "Grundsätzlich gilt, dass eine werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden nur in Ausnahmefällen und eine von zehn Stunden gar nicht überschritten werden darf", sagt der Hamburger Arbeitsrechtler Martin Krömer. Verstöße gegen diese Regel seien, "wenn sie vorsätzlich oder beharrlich erfolgen sogar strafbar".

Doch die Mehrarbeit wird Müller nicht ausdrücklich verordnet. Im Gegenteil: Es gibt ein genaues Arbeitsstundenkontingent, das er und sein Team in der Woche insgesamt verbrauchen darf. Es berechne sich am Wochenumsatz - reiche aber oft vorne und hinten nicht, sagt Müller. "Es gibt eigentlich keinen hier, der keine Überstunden macht."

Würde die Extraarbeit seines Teams formell in Rechnung gestellt, müsste Filialleiter Müller seinen Darstellungen zufolge eine schriftliche Begründung abgeben - das sehe nicht gut aus. Also regle er das lieber "intern". Wenn seine Mitarbeiter in einer Woche zu viel arbeiten, schreibe er ihnen in Wochen mit etwas Puffer die Stunden dazu. Und die meisten Zusatzstunden leiste er eben selbst.

Die Stundenrichtlinien seien immer vom Arbeitsanfall abhängig, sagt Netto-Sprecherin Stylianou dazu. Die Vorgaben zu den Stundenrichtlinien würden auf der Basis von Erfahrungswerten ermittelt.

Doch damit nicht genug: Müller stört auch der Druck, der auf die Mitarbeiter ausgeübt wird. So kämen manchmal Kollegen von der Revision verkleidet in die Filiale und machen sogenannte Ehrlichkeitstests. Dabei werde der Kassiererin beispielsweise ein Umschlag mit 25 Euro in die Hand gedrückt, der angeblich gefunden wurde - um zu sehen, ob sie den Fund ordnungsgemäß meldet. Dazu kommen Testkäufe, bei denen etwa ein unbekannter Kollege aus einer anderen Filiale geschickt werde, um einen Diebstahl vorzutäuschen.

Methode, "um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden"

"Wir legen Wert auf besten Kundenservice, Teamarbeit, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit in unseren Märkten", sagt Netto-Sprecherin Stylianou. "Ehrlichkeitstests werden bei begründetem Verdacht in Einzelfällen durchgeführt." Verkleidete Mitarbeiter seien ihr aber nicht bekannt.

Dabei ist genau das ein branchenübliches Vorgehen - denn es ist nicht verboten, Mitarbeiter einer derartigen Prüfung zu unterziehen. Regelmäßig und unternehmensübergreifend durchgeführt, müsse das allgemeine Verfahren von Testkäufen mit dem Betriebsrat abgestimmt werden, gibt Arbeitsrechtler Krömer allerdings zu bedenken.

Ver.di-Experte Dalibor findet die Praxis trotzdem höchst problematisch. Diese Art, Kassierer zu prüfen, sei oft eher "Überwachungsinstrument" als Trainingsmaßnahme, sagt er: Eine gute Methode, "um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden".

*Die Namen sind von der Redaktion geändert.

Mehr lesen über

Verwandte Artikel

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten