Lehren aus der Lehman-Pleite Gleich und gleich macht krisenfest

Obdachloser in New York: Wie gerecht ist unser Wirtschaftssystem?
Foto: SPENCER PLATT/ AFPHamburg - Im März 2009, ein halbes Jahr, nachdem die US-Investmentbank Lehman Brothers untergegangen war, veröffentlichten die Forscher Richard Wilkinson und Kate Pickett ihr Buch "The Spirit Level" ("Gleichheit ist Glück"). Mit vergleichenden Statistiken zu Gesundheit, Einkommen oder Bildungsstatus untermauern die britischen Forscher darin eine zentrale These: Je größer die Ungleichheiten in einer Gesellschaft, desto größer sind auch ihre sozialen Probleme.
Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung war günstig, das geben die Autoren in einer aktualisierten Auflage des Buches zu: "Viele Menschen, die vor dem Crash vermutet hatten, riesige Gehälter und Boni spiegelten die individuelle Leistung und Brillanz ihrer Empfänger, änderten ihre Meinung, als sie herausfanden, wie gering der Zusammenhang zwischen Leistung und Belohnung gewesen war."
Wie gerecht ist unser Wirtschaftssystem? Wie viel Ungleichheit sollte es erlauben? Diese Fragen sind in den drei Jahren seit der Lehman-Pleite immer wichtiger geworden. Dabei geht es nicht mehr nur um die Frage, wer für die Krise bezahlen muss - sondern auch darum, wie sie entstehen konnte.
Im Fall der von Wilkinson und Pickett genannten Bezahlung von Bankern war die Frage nach der Gerechtigkeit schnell beantwortet: Die Millionengehälter waren in vielen Fällen erkennbar ungerecht gewesen. Denn trotz ihrer guten Bezahlung hatten Banker und Finanzmathematiker die Gefahren durch kompliziert verpackte Hypothekenschulden entweder nicht erkannt - oder sogar aktiv verschleiert.
Haften musste für die entstandenen Verluste der Steuerzahler, während die Banken selbst mit Milliardensummen gestützt wurden. Ihre besondere Bedeutung für das Wirtschaftssystem bewahrt Institute wie die Hypo Real Estate bis heute davor, wie andere marode Unternehmen einfach in die Pleite zu rutschen. An der derzeit geplanten Umschuldung von Griechenland sollen Banken, die griechische Staatsanleihen halten, zwar beteiligt werden. Doch auch hier bleibt die Belastung sehr überschaubar - aus Angst, andernfalls könnte es zu neuen Pleiten kommen.
"Nicht nur ethisch, sondern auch ökonomisch falsch"
Die Banken sind also Risiken eingegangen, für die sie nur begrenzt haften. "Das muss man gar nicht ethisch beantworten, das ist auch ökonomisch falsch", sagt Thomas Beschorner, der an der Universität St. Gallen Wirtschaftsethik unterrichtet. Er glaubt: "Spätestens seit der Lehman-Pleite ist das Vertrauen in die Wirtschaft verlorengegangen. Das ist ein System, das man vielen Bürgern nicht mehr erklären kann."
Zweifel gibt es aber nicht nur an der gerechten Verteilung der Krisenkosten. Seitdem aus der Finanz- eine Schuldenkrise geworden ist, stellt sich auch zunehmend die Frage, ob geringere soziale Unterschiede die Misere hätten verhindern können.
Wilkinson und Picket sehen Anzeichen dafür, dass "Ungleichheit eine zentrale kausale Rolle in den Finanzcrashs von 1929 und 2008 gespielt hat". Sie argumentieren, dass große soziale Unterschiede die Schulden von Privatleuten und Staaten erhöhen. Die beiden Krisen hätten sich ereignet, als die Ungleichheit die zwei höchsten Punkte der vergangenen hundert Jahre erreicht habe.
So sei vor der Lehman-Pleite jährlich ein Vermögen von schätzungsweise 1,5 Billionen Dollar von den unteren 90 Prozent der US-Bevölkerung zum obersten Zehntel verschoben worden. Um ihren Lebensstandard zu halten, hätten Normalverdiener in der Folge stark in den boomenden Häusermarkt investiert - bis die Immobilienblase platzte.
Auch eine andere Ungleichverteilung ist durch die Krise ins Visier geraten: Die hohen Unterschiede in den Leistungsbilanzen europäischer Länder haben die Schuldenkrise zumindest begünstigt: Deutschland exportiert deutlich mehr als seine Bürger konsumieren, in Ländern wie Griechenland oder Portugal war es lange genau umgekehrt. Die Schulden der Südeuropäer sind somit auch die Folge der deutschen Exporterfolge.
Aber ist es falsch, dass die Deutschen besonders viele Waren ins Ausland verkaufen? Nicht nur die Bundesregierung beantwortet diese Frage mit einem vehementen Nein. Für viele Ökonomen bedeutet ungleich nicht ungerecht. Erst durch das Bestreben, selbst mehr Geld zu verdienen oder mehr Waren zu exportieren entsteht ihrer Meinung nach Wettbewerb - und am Ende ein gesteigerter Wohlstand.
Ist Warren Buffett ein Sozialist?
Mit marktwirtschaftlichen Prinzipien werden jedoch bisweilen einfach die Pfründe der Reichen verteidigt, das zeigt sich drei Jahre nach der Lehman-Pleite besonders in den USA. Dem Land drohte bereits kurzfristig die Zahlungsunfähigkeit, nicht zuletzt wegen der Kosten der Finanzkrise. Zugleich ist die Steuerlast für Reiche in der Amtszeit von Ex-Präsident George W. Bush auf einen historischen Tiefstand gefallen.
Dennoch attackiert die politische Rechte in den USA selbst vorsichtige Forderungen nach mehr Gleichheit. Als etwa Investorenlegende Warren Buffett kürzlich forderte, man solle Superreiche wie ihn doch bitte endlich höher besteuern, verlor ein Moderator im TV-Sender Fox News die Fassung: "Ist Warren Buffett ein kompletter Sozialist?", rief er in die Kamera.
In Europa hat der Wettbewerbsgedanke durch die Schuldenkrise aber bereits an Gewicht verloren. Das zeigt das Beispiel Irland: Vor wenigen Jahren wurde das Land noch für seine unternehmensfreundliche Politik gelobt. Nun kritisieren die übrigen Euro-Länder, dass die Iren noch immer an ihrer besonders niedrigen Körperschaftssteuer festhalten - und zugleich wegen der Folgen der Finanzkrise mit Milliarden Euro gestützt werden müssen.
Umstritten bleiben Forderungen nach mehr Gleichheit dennoch, das gilt auch für das Buch von Wilkinson und Pickett. Kritiker halten den britischen Forschern vor, sie hätten statistisch unzulässige Schlüsse gezogen. Die Autoren weisen die Vorwürfe zurück - und berufen sich auf einen prominenten Anhänger: Der britische Premier David Cameron zitierte 2009 aus ihrem Buch als Beleg für die Nachteile ungleicher Gesellschaften.
Das Interesse des Konservativen an Gleichheitsfragen war allerdings schlagartig erloschen, als es in Großbritannien vor einigen Wochen zu schweren Jugendkrawallen kam. Nachdem ein BBC-Moderator die Gewalt in Zusammenhang mit dem Zorn über hohe Banker-Boni und den Ausgabenskandal britischer Abgeordneter gebracht hatte, warf ihm der Premier vor, nur einen "großen Brei" aus möglichen Erklärungen zu produzieren. Camerons eigene Erklärung war allerdings kaum weniger schwammig: Hinter den Krawallen stehe der "moralische Zusammenbruch" einer "kaputten Gesellschaft".
Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner dagegen glaubt: "Es gibt einen Punkt, an dem die Unterschiede zu groß werden und sich die Bevölkerung auflehnt. Das zeigen die Revolutionen der Vergangenheit." Deshalb sei die britische Krisenstrategie auch "nicht sehr produktiv. Eine Gesellschaft braucht immer Ordnung - aber auch kleine Revolutionäre."