Zwangsarbeit in China Menschenrechtsaktivisten verklagen Aldi, Boss und Lidl

Baumwollernte in Alar in der Region Xinjiang
Foto: Chen jiansheng / Imaginechina / APDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Das zumindest legt eine Klage des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) nahe. Die Berliner NGO hat beim Generalbundesanwalt Strafanzeige wegen Mithilfe bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstattet. Neben Lidl und Hugo Boss richtet sich die knapp 100 Seiten lange Anzeige gegen Aldi und C&A. Der konkrete Vorwurf: Die deutschen Unternehmen sollen direkte oder mittelbare Lieferbeziehungen zu Textilfirmen gehabt haben oder weiter unterhalten, die in das staatliche Zwangsarbeitsprogramm in Xinjiang involviert sind.
Die angeklagten Unternehmen weisen die Vorwürfe zurück und betonen, Zwangsarbeit nicht zu dulden. Aldi ließ wissen, schon länger keine Lieferbeziehungen mehr mit Firmen aus der Region zu unterhalten. C&A sagt nur, man kaufe keine Kleidung von Herstellern mit Sitz in der Provinz Xinjiang. Im Nachhaltigkeitsbericht des Konzerns vom Oktober 2020 ist allerdings zu lesen, der Konzern habe »in der Zwischenzeit die Produktion in der Region verboten und unsere Lieferanten angehalten, den Bezug von Baumwolle und anderen Fasern in Xinjiang einzustellen«.
Lidl bezog bis Juni 2021 noch von einem dortigen Lieferanten Ware – fünf Monate nachdem die US-Regierung wegen des Risikos für Zwangsarbeit ein generelles Importverbot für Baumwolle aus Xinjiang erließ. Lidl teilte mit, bei dem Lieferanten keine weiteren Auftragsvergaben zu planen. Boss antwortete auf Fragen des SPIEGEL nicht inhaltlich, sondern übermittelte nur seine Stellungnahme an das ECCHR, aus der zwar die Priorität der Menschenrechte hervorgeht, nicht aber, ob der Modekonzern aus Metzingen noch in der Region produzieren lässt. Bei der Herstellung seiner Waren, so das Unternehmen, würden die eigenen Werte und Standards eingehalten und keine Rechtsverstöße vorliegen. Anderslautende Behauptungen des ECCHR weist Boss zurück.
Umerziehung in der Baumwollproduktion
Xinjiang, Heimat der muslimischen Minderheit der Uiguren, ist das Zentrum der chinesischen Baumwollproduktion. 85 Prozent der Baumwolle des Landes stammen von dort – mehr als ein Fünftel der weltweiten Produktion. Ein Großteil davon wird noch immer per Hand gepflückt und in den Spinnereien und Textilbetrieben der Region weiterverarbeitet. Um die Menschen in der Region besser kontrollieren zu können, wird mithilfe Hunderttausender Parteikader versucht, Hirten und Bauern in Lohnberufen unterzubringen, oft in Textilfirmen. Diese Verschickung und damit verbundene Umerziehung geschieht etwa mittels sogenannter Jobmessen, oft aber unter Zwang, wie Human Rights Watch und andere Menschenrechtsorganisation wiederholt berichtet haben. In der Region befinden sich etliche Umerziehungslager, deren Insassen teils in der Textilindustrie beschäftigt sind.
Großen wirtschaftlichen Einfluss in der Region hat das Xinjiang Production and Construction Corps (XPCC), ein Staatskonzern, der ein Großteil der Baumwolle in der Region anbaut und bereits Häftlinge bei der Ernte einsetzte. Laut Klageschrift des ECCHR soll über das paramilitärisch strukturierte XPCC die wirtschaftliche Erschließung der Grenzregion gewährleistet werden.

Staatliches Erziehungstraining für Uigurinnen in Kashgar, Region Xinjiang
Foto: BEN BLANCHARD / REUTERSAls die EU und die USA im Frühjahr wegen der Unterdrückung der Uiguren Sanktionen gegen China verhängten, verkündeten auch Unternehmen wie H&M oder Nike, keine Baumwolle mehr aus Xinjiang zu beziehen. Viele dieser Konzerne verdanken ihr Wachstum allerdings vor allem dem chinesischen Markt, wo etwa H&M über 500 Läden betreibt. Nachdem aber die Kommunistische Partei über ihren Jugendverband entsprechende Gegenpropaganda mit Boykottaufrufen intoniert hatte, wurden manche Modemarken plötzlich kleinlaut. Inditex etwa, die Muttergesellschaft von Zara, erwähnte auf ihrer Website Xinjiang im Zuge der »Null-Toleranz-Politik« nicht mehr ausdrücklich, wie verschiedene NGOs berichteten.
Wie große Konzerne kleinlaut werden
Boss zeichnete sich durch einen ganz erstaunlichen ethischen Schlingerkurs aus. Erst mühte man sich zu versichern, keine Waren von Direktlieferanten aus der Region Xinjiang zu beziehen. In den neuen Kollektionen, hieß es vergangenes Jahr, sei keine Baumwolle aus der Region enthalten. Im Frühjahr 2021 dann, auch das ist in der ECCHR-Klage beschrieben, versicherte Boss auf der chinesischen Plattform Weibo kurzfristig, weiterhin Baumwolle aus dem Uiguren-Gebiet zu beziehen. Der Eintrag, hieß es später, sei nicht mit der Zentrale abgesprochen gewesen. Boss wollte sich hierzu nicht äußern. Inzwischen wird nicht mehr recht klar, ob und wie viel Ware Boss noch aus der Region bezieht.
In seiner Stellungnahme an das ECCHR erwähnt der Konzern allerdings die Esquel-Gruppe, einen seiner Lieferanten, der einige Tochterfirmen in Xinjiang hat und auch andere deutsche Unternehmen beliefert. Esquel, ein chinesisches Unternehmen mit Sitz in Hongkong und mehreren Zehntausend Mitarbeitern, beteuert, Menschenrechte einzuhalten, nichts mit Zwangsarbeit zu tun zu haben und für faire Arbeitsbedingungen zu sorgen. Das sei auch durch Audits belegt worden.
Boss teilte dem ECCHR mit, sogar »eigene Audits« in den Esquel-Betrieben durchgeführt zu haben – ohne auf Anhaltspunkte für Zwangsarbeit gestoßen zu sein. »Boss hat nicht mal gesagt, wer diese Audits durchgeführt hat«, sagt Miriam Saage-Maaß, Chefjuristin des ECCHR. »Eine solche Intransparenz konnte man sich schon vor Jahren kaum noch erlauben.« Unklar bleibe auch, wie Boss eigene Audits habe machen können, wenn sich fast alle großen Auditierer wie etwa der TÜV Süd aus der Region zurückgezogen hätten, weil unabhängige Betriebsprüfungen dort nicht mehr möglich seien. Auch den Audits, die Esquel anführt, traut Saage-Maaß nicht: »Die kommen ja in der Regel von chinesischen Auditoren – kaum vorstellbar, dass diese Prüfungen nicht unter dem Schirm der Partei ablaufen.« Die Esquel-Gruppe, die früher auch mit dem chinesischen Staatskonzern XPCC kooperierte, steht seit einiger Zeit auf der US-Sanktionsliste.
Bio, aber fair?
Auch viele Biokunden können offenbar nicht sicher sein, ob in den Produkten ihrer Wahl Zwangsarbeit steckt. Laut einer ECCHR-Studie sind auch in Xinjiang Betriebe nach dem Global Organic Textile Standard (GOTS) zertifiziert, einem weltweit angewendeten Biostandard. Ein GOTS-zertifizierter Leinenproduzent soll laut Studie sogar dem paramilitärisch organisierten Staatskonzern XPCC gehören. Eine GOTS-Sprecherin nennt zwei zertifizierte Unternehmen in der Region, einen Leinenproduzenten gebe es in der Datenbank nicht. In zusätzlich anberaumten Audits aus der Xinjiang-Region seien »keine Unregelmäßigkeiten berichtet« worden.
Die jetzige Anzeige des ECCHR beim Generalbundesanwalt ist nicht die erste dieser Art. Bereits mehrfach sorgten die Juristen aus Berlin mit ähnlichen Verfahren für Aufsehen. Am bekanntesten ist wohl das gegen den Textildiscounter Kik, bei dessen pakistanischen Lieferanten wegen mangelnden Brandschutzes vor neun Jahren 258 Menschen starben. Die Zivilklage wurde allerdings wegen Verjährung abgewiesen.
Menschenrechte über den Rechtsweg durchzusetzen, scheint nicht einfach: Das neue deutsche Lieferkettengesetz sieht nur eine auf direkte Zulieferer begrenzte Verantwortung für hiesige Unternehmen vor – und dem Generalbundesanwalt, fürchtet Saage-Maaß, könnten solche Fälle womöglich zu komplex vorkommen. »Dabei wäre es im Sinne des Völkerstrafrechts dringend geboten, nicht nur direkte Täter zu verfolgen, sondern auch gegen Akteure zu ermitteln, die dieses System mit am Leben halten.«