INGENIEURE Lieber Ballett
Jahr für Jahr bittet das Lübecker Drägerwerk einige Dutzend junger Ingenieure zum kalten Buffet. Aus Karlsruhe und Wolfenbüttel, aus Kiel und Braunschweig werden Hochschulabsolventen mit Bussen nach Lübeck gebracht, wo der Gastgeber seine Vorzüge herausstreicht und ein paar schöne Jobs anbietet.
Trotz des Aufwands hat das Drägerwerk, ein renommierter Hersteller von Atemschutz-Geräten, seit anderthalb Jahren beträchtliche Mühe, genügend qualifizierte Leute zu bekommen: Derzeit sind 18 Stellen für graduierte und diplomierte Ingenieure nicht besetzt.
Daß Ingenieure »außerordentlich schwer zu kriegen« sind, hat auch Werner Knödler, Personalvorstand bei der Hamburger Werft Blohm + Voss, längst gemerkt: Vom Fleck weg würde er 50 Mann engagieren, wenn er sie sähe.
Im größten deutschen Automobilkonzern sieht es ähnlich aus. Das Volkswagenwerk sucht dringend Spezialisten für die Fertigungstechnik und die Konstruktion, für Elektrotechnik, Elektronik und Systemanalytik.
Überall, so klagen viele deutsche Unternehmen, fehlen tüchtige Ingenieure. Nach einer Hochrechnung der Stuttgarter Industrie- und Handelskammer sind insgesamt mindestens 20 000 Mann gefragt.
Lehrer gebe es genug, aber zu wenig Ingenieure: Das sei, meint Hans Günter Müller, Vorstandsvorsitzender des Maschinenbaukonzerns Mannesmann Demag, »eine sehr gefährliche Entwicklung für einen Staat, der von der Kreativität und Aktivität seiner Industrie lebt«.
»Wir werden in ernsthafte Schwierigkeiten geraten«, prophezeit auch Manfred Lennings, Chef der Oberhausener Gutehoffnungshütte (GHH), des größten europäischen Maschinenbaukonzerns. Der Mangel an Ingenieuren könnte schon bald nicht nur für manches Unternehmen kritisch werden, »sondern für das gesamte Land, weil wir von der Technik leben«.
Schwindendes Interesse am Ingenieur-Beruf, unkt Wolfgang Wild, Präsident der Technischen Universität München, habe »katastrophale Rückwirkungen auf unsere Wirtschaft und die internationale Konkurrenzfähigkeit deutscher Industrie«.
Und natürlich malt auch schon einer die gelbe Gefahr an die Wand: Es dürfe nicht dazu kommen, warnt Nordrhein-Westfalens Wissenschaftsminister Hans Schwier, »daß wir bald neben Autos auch noch Ingenieure aus Japan importieren müssen«.
Wie das? Steht das Land Gottlieb Daimlers und Werner von Siemens'' plötzlich ohne technische Intelligenz da? Geht es mit den Deutschen bergab, weil nicht mehr genügend Fachleute für Maschinen und Autos, für Kraftwerke und Computer da sind?
Ganz so bös sieht es noch nicht aus. »Von Ingenieur-Mangel schlechthin S.63 kann keine Rede sein«, urteilt Paul Lieber, der in der Frankfurter Zentralstelle für Arbeitsvermittlung die Berufsaussichten für Ingenieure beobachtet.
Bis zum Mai vergangenen Jahres gab es mehr arbeitslose Ingenieure als offene Stellen. Immer noch finden Textilingenieure schwer einen Job, haben ihre Kollegen vom Bau oft Schwierigkeiten, in ihrem gelernten Beruf unterzukommen.
Aber für das Gros der rund 650 000 deutschen Ingenieure sind in der Tat bessere Zeiten angebrochen. Sie können gelassen nach besseren Jobs suchen.
Am günstigsten sieht es für Ingenieure derzeit im Maschinenbau und in der Elektroindustrie aus. Dort gibt es nach der Statistik für vier offene Stellen nur einen Bewerber.
Der Mangel an Ingenieuren indes, den die Industrie jetzt beklagt, stellte sich weder plötzlich ein, noch kann er überraschen. Er begann sich schon vor zwei Jahren abzuzeichnen, als sich in der Investitionsgüter-Industrie die Auftragsbücher füllten.
Da meldeten die Firmen einen rapide steigenden Bedarf an Ingenieuren: Je anspruchsvoller die Produkte waren, die sie zu bauen hatten, desto mehr hochqualifizierte Techniker wurden gebraucht. Kam früher etwa bei Blohm + Voss ein Ingenieur auf zehn Arbeiter, so liegt das Verhältnis heute -- im Marinebereich -- bei 1:3. Bei dem Elektrokonzern Siemens hat sich in den letzten 20 Jahren der Anteil der Ingenieure an der gesamten Belegschaft nahezu verdoppelt. Inzwischen ist jeder siebte Siemens-Beschäftigte ein Ingenieur.
Experten aber hatten den Bedarf falsch eingeschätzt und waren Mitte der 70er Jahre zu der verhängnisvollen Prognose gekommen, eine Ingenieur-Schwemme stehe bevor.
Das Battelle-Institut, das im Auftrag des Bonner Bildungsministeriums forschte, kam 1975 zu dem Befund, daß etwa acht Prozent der Naturwissenschaftler und Techniker schon 1980 nach Studienabschluß keinen angemessenen Job finden würden. Bis 1990 würde allein im Elektrobereich ein Überschuß von 60 000 Ingenieuren produziert werden, wenn weiterhin so viele Abiturienten Technik studieren würden.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam 1975 auch der Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE). »Voraussichtlich ab 1977/78«, so die VDE-Analyse, kann »der Bedarf an Elektro-Ingenieuren durch die zu erwartenden stärkeren Absolventenzahlen möglicherweise mehr als gedeckt werden«.
Als Hauptursache des derzeitigen Ingenieur-Mangels aber glaubt die Industrie eine verfehlte Bildungs- und eine leistungsfeindliche Gesellschaftspolitik erkannt zu haben. Diese Politik, so klagen viele Unternehmer, bringe kaum noch Ingenieure hervor, aber haufenweise Pädagogen, Psychologen und Politologen.
»Technikfeindlichkeit«, stellt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) fest, greife »immer weiter um sich«. Eine »unheilige Allianz von Technikfeinden aller Provenienz«, heißt es in einer BDA-Studie vom vergangenen Monat, »richtet sich gegen den Lebensnerv unserer Gesellschaft«. Immer mehr Oberstufenschüler, klagt Blohm + Voss-Manager Knödler, würden sich um Mathematik- und Naturwissenschaften nicht mehr kümmern. Die hätten ganz anderes im Kopf: »Jetzt gibt es in einer Hamburger Schule schon Ballettgymnastik als Leistungsfach.«
Das liegt zum guten Teil wohl auch daran, daß der Glaube an die Segnungen des technischen Fortschritts arg gelitten hat. »Dem Ingenieur ist nichts zu schwere«, reimte vor mehr als hundert Jahren der Ingenieur Heinrich Seidel und besang überschwenglich die Großtaten seiner Zunft: »Er türmt die Bögen in der Luft, er wühlt als Maulwurf in der Gruft. Kein Hindernis ist ihm zu groß, er geht drauf los!«
Das sieht die deutsche Jugend heute gewiß etwas nüchterner. Längst ist bei vielen fraglich geworden, ob denn der Ingenieur vom Kraftwerk bis zur überdimensionierten Autobahn wirklich auf alles losgehen muß, was technisch machbar ist.
Der Pioniergeist des wackeren Heinrich Seidel ist nicht mehr gefragt. Offenbar prägt heute eher die genialische Naivität des Daniel Düsentrieb, einer Comic-Figur der Micky-Maus-Gesellschaft, das Image des Ingenieurs: Unermüdlich konstruiert Düsentrieb -nunmehr unter dem Motto »Dem Ingenör ist nichts zu schwör« -- phantastische Maschinen, ohne nach Sinn und Zweck zu fragen.
Das sei gar nicht, finden viele junge Leute, so sehr weit von der Realität entfernt: Allzu wenig kümmerten sich die Techniker um die sozialen Folgen, allzu eifrig wühlten sie in den Gruften, allzu unbedacht türmten sie Bögen in die Luft.
Das indes, versteht sich, sieht die Standesorganisation, der Verein Deutscher Ingenieure (VDI), ganz anders, auch wenn VDI-Leuten eine »gewisse Technik-Verdrossenheit« schon aufgefallen ist. Allerdings, meint VDI-Experte Reinhard Schramm, könne sein Verband weder »Wahnsinnsversäumnisse in der Ausbildung« noch »einen dramatischen Engpaß« erkennen.
Selbst wenn »der überproportionale Zuwachs-Bedarf an Ingenieuren« anhält, was der VDI bezweifelt, kommt wohl alles ins Lot: Kein Numerus clausus, wirbt NRW-Wissenschaftsminister Schwier, versperre dem Nachwuchs den Weg, allein in Nordrhein-Westfalen seien derzeit 4500 Studienplätze frei. Und ein Ingenieur verdient, wenn er seinen Anfangsjob in der Industrie aufnimmt, zehn Prozent mehr als ein Absolvent aus der Wirtschaftsfakultät.
Das lockt natürlich, und weitsichtige Experten ahnen längst, was nach dem Mangel kommt: »Wenn jetzt verstärkt für den Ingenieur-Beruf geworben wird«, sinniert Fachmann Lieber von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung, »werden wir bald zu viele Ingenieure haben.«
S.61Im Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik derTechnischen Universität Berlin.*S.63(c) Walt Disney Production.*