
Müllers Memo Darf's ein bisschen mehr sein?


Werftarbeiter in Rostock: Die IG Metall fordert bis zu fünf Prozent mehr Lohn
Foto: Jens Büttner/ picture alliance / dpaWas knapp ist, wird teurer. So sollte es sein. Der Preismechanismus in all seinen Spielarten ist eines der wunderbaren Elemente einer funktionierenden Marktwirtschaft. Knappheiten werden quasi automatisch behoben, Ungleichwichte austariert. So gesehen ist es eigentlich seltsam, dass die Löhne in Deutschland nicht längst viel schneller steigen.
Denn die Entwicklung geht seit Jahren nur in eine Richtung: Die Beschäftigung erreicht immer neue Höchststände. Der Arbeitsmarkt ist zu weiten Teilen leergefegt. Viele Unternehmen können ihren Personalbedarf nur noch decken, weil derzeit so viele Bürger aus anderen EU-Staaten nach Deutschland kommen wie nie zuvor. Dennoch bleiben viele Arbeitsplätze leer. Der Stellenindex der Bundesagentur für Arbeit ist auf dem höchsten Niveau seit seiner Einführung. Rekordverdächtige 600.000 Jobs waren im Januar unbesetzt (neue Zahlen vom deutschen Arbeitsmarkt gibt's Dienstag).
Wenn Arbeitskräfte knapp sind, sollte der Preis der Arbeit - der Lohn - eigentlich ordentlich zulegen. Wie sonst sollten weitere Menschen in den deutschen Arbeitsmarkt gelockt, wie sonst sollten Beschäftigte zu mehr Leistung und zu höheren Bildungsanstrengungen motiviert werden?
2,8 Prozent - Nicht gerade berauschend angesichts der guten Lage
In der Realität jedoch reagiert der deutsche Arbeitsmarkt ziemlich träge. Lange Zeit stagnierten die Löhne. Voriges Jahr sind die Tarifentgelte um 2,4 Prozent gestiegen. Überraschend langsam, wie auch Wirtschaftsforscher konstatieren. Selbst wenn man berücksichtigt, dass einige Unternehmen mehr draufgelegt haben als mit den Gewerkschaften vereinbart, bleibt der Zuwachs vergleichsweise bescheiden: Unterm Strich kam nach bisherigen Schätzungen 2015 im Schnitt ein Lohnplus von 2,8 Prozent heraus. Nicht schlecht angesichts der extrem niedrigen Inflationsrate von nahe null - aber auch nicht gerade berauschend angesichts der guten Lage.
Geht da noch mehr?
Montag stellt die IG Metall ihre Forderung für die diesjährige Tarifrunde vor. Der Gewerkschaftsvorstand hat bereits seine Empfehlung ausgesprochen: 4,5 bis 5 Prozent. Damit liegt er etwa im Rahmen dessen, was andere Gewerkschaften bereits gefordert haben.
Das Ritual gebietet nun, dass die Arbeitgeber die Forderung als viel zu hoch zurückweisen. Gesamtmetall-Chef Rainer Dulger dürfte denn auch die immensen wirtschaftlichen Risiken herausstellen: Die deutsche Industrie leidet unter der Schwäche der Schwellenländer und des bröckelnden Welthandels. Die Produktion ging zuletzt leicht zurück. Jüngste Umfragen des Ifo-Instituts zeigen: Während die Binnenwirtschaft, zumal der Bau, brummt, blickt die exportorientierte Industrie bestenfalls verhalten in die Zukunft. Auch mit Neueinstellungen will man sich zurückhalten. Gewichtige Gründe also, Lohnzurückhaltung anzumahnen?
Tatsächlich nehmen die Gewerkschaften die vernebelte Großwetterlage durchaus wahr: Die aktuellen Forderungen liegen bereits unter denen von 2015. Das ist umso bemerkenswerter, als noch 2014 sogar die Bundesbank die Arbeitnehmervertreter ermutigte, ruhig mehr herauszuholen. Nach Jahren der Bescheidenheit sei nun die Zeit für üppigere Abschlüsse gekommen.
Aus gutem Grund: Über viele Jahre hatte es in Deutschland nahezu keine Bewegung bei den Löhnen gegeben. Zwischen 1997 und 2006 waren die Tarife im Schnitt um gerade mal ein Prozent jährlich gestiegen. Im gleichen Zeitraum lag die Inflation bei zwei Prozent, sodass die Beschäftigten real immer etwas weniger in der Tasche hatten. Auch als nach 2006 die deutsche Wirtschaft wieder zügig Fahrt aufnahm und die Arbeitslosigkeit sank, stiegen die Löhne kaum.
Lohnzurückhaltung ist keine sinnvolle wirtschaftspolitische Strategie
In einer Marktwirtschaft sollte die Verteilung der Einkommen mit den Knappheiten atmen. In Phasen hoher Arbeitslosigkeit geht es darum, Investitionen anzuregen, sodass neue Jobs entstehen und in der Folge auch die Löhne wieder steigen können. Wenn Arbeitsplätze rar sind, sollte Arbeit deshalb relativ billiger werden. Dauerhafte Lohnzurückhaltung, auch in Phasen, wenn Arbeitskräfte knapp sind, ist allerdings keine sinnvolle wirtschaftspolitische Strategie. Warum sollten man den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung auf Dauer künstlich niedrig halten?
In Deutschland laufen diese Anpassungsprozesse quälend langsam ab - nach unten wie nach oben. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, in den Neunzigerjahren und in der ersten Hälfte des neuen Jahrtausends, kam es zu einer Umverteilung zugunsten des Kapitals: Anfang der Neunzigerjahre hatten Löhne und Gehälter noch 72 Prozent des Sozialprodukts ausgemacht. Bis 2007 sank dieser Anteil auf 64 Prozent. Dann stiegen die Löhne nur ganz allmählich an. Inzwischen liegt die Lohnquote wieder bei 68 Prozent.
Ein Resultat dieser Trägheit sind massive gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte: Deutschlands außenwirtschaftlicher Überschuss liegt seit Jahren bei mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts, aktuell sogar über acht Prozent - weit höher als die neuen EU-Stabilitätsregeln erlauben. Hätte Deutschland noch eine eigene Währung, der horrende Überschuss wäre längst beseitigt: Er würde durch eine Aufwertung ausgeglichen. Deutsche Produkte würden im Ausland teurer. Zugleich würden Arbeitnehmer für ihre Lohnzurückhaltung dadurch entschädigt, dass Importgüter und Urlaubsreisen für sie billiger würden.
In der Realität geschieht nun das Gegenteil: Weil die Europäische Zentralbank mit ihrer aggressiven Lockerungspolitik den Euro abgewertet hat, kann die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt immer noch günstiger anbieten - trotz gestiegener Löhne. Forscher vom Institut Kiel Economics haben berechnet, dass die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Wirtschaft derzeit höher ist als je zuvor in den vergangenen 50 Jahren.
Es sollte also einigen Spielraum für Lohnerhöhungen geben, ohne dass unmittelbar Arbeitsplätze gefährdet sind. Was nicht ausschließt, dass irgendwann wieder größere Bescheidenheit angezeigt ist - die nächste Krise kommt bestimmt.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche
MONTAG
Frankfurt - Startschuss - Der Vorstand der IG Metall beschließt endgültig die Forderung für die diesjährige Tarifrunde.
Luxemburg - Datum für Draghi - Eurostat veröffentlicht die Inflationszahlen für die Eurozone im Februar. EZB-Chef Draghi hat sich angesichts sehr niedriger Inflationsraten mehrfach für eine weitere Lockerung der Geldpolitik ausgesprochen.
Brüssel - Stahlkrise - Die EU-Minister für Industrie beraten über die Lage der europäischen Stahlindustrie und die Herausforderung durch chinesische Billiganbieter.
New York - Reichtumsbericht - Das US-Magazin "Forbes" legt seine globale Milliardärsliste vor.
DIENSTAG
Nürnberg - Gute Zahlen, schlechte Zahlen - Die Bundesagentur für Arbeit gibt die Arbeitsmarktdaten für Februar bekannt.
Washington - Durchmarsch für Trump? - Am "Super Tuesday" finden Vorwahlen in zwölf US-Bundesstaaten statt. Möglich, dass Donald Trump danach als Präsidentschaftskandidat der Republikaner kaum noch zu stoppen ist.
Berlin - Schrei! - Der Klamottenversender Zalando legt Jahreszahlen vor.
MITTWOCH
Brüssel - Einmal Dublin und zurück - EU-Kommission will erklären, wie sie sich eine Reform des Dublin-Systems zur gemeinsamen Asylpolitik vorstellt.
DONNERSTAG
Herzogenaurach/Berlin/Hannover/Ingolstadt/Essen/Düsseldorf - Berichtssaison - Jahreszahlen von Adidas, Axel Springer, Continental, Audi, Evonik und Vonovia.
Eschborn - Erste Liga - Die Deutsche Börse überprüft, welche Unternehmen in die deutschen Aktienindizes auf- und welche absteigen.
FREITAG
Stuttgart - Ende einer Dienstfahrt - Urteil im Prozess gegen Ex-Porsche-Chef
Wiedeking und Ex-Finanzvorstand Härter wegen des Vorwurfs von Marktmanipulationen.
SAMSTAG
Peking - Auf Kurs? - Chinas Konjunktur hält die Weltwirtschaft in Atem. Zum Auftakt des chinesischen Volkskongresses legt Chinas Premier Li Keqiang den neuen Haushalt vor.
Bratislava - Stimmung - Kann Premier Fico mit absoluter Mehrheit weiter regieren? Die Slowakei wählt ein neues Parlament.
Washington - Saturday Night Live - Vorwahlen in fünf US-Bundesstaaten.

Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.