Unternehmen Lumpige sieben Mark
Wende? Das Wort hört Harald Stäfe, 57, gar nicht gern. Wenn der thüringische Diplomökonom über das unselige Ende des DDR-Sozialismus doziert, dann spricht er lieber von der »Marktöffnung nach Westen«.
Stäfe ist Chef des Thüringer Schokoladenwerks in Saalfeld an der Saale. Drei Jahrzehnte wirkt er schon dort, größtenteils in Führungspositionen. »Hart arbeiten mußten wir immer schon«, sagt Stäfe, »aber wir hatten in 40 Jahren Sozialismus nicht soviel erreicht wie in zwei Jahren Marktwirtschaft.«
Die Fabrik gehört jetzt zum Kölner Süßwarenkonzern Stollwerck. Statt sozialistischer Schokosorten wie Rotstern werden mittlerweile mit modernster Technik Tafeln der Marke Alpia oder Waldbaur produziert.
Allein in diesem Jahr hat Stollwerck 93 Millionen Mark in Saalfeld investiert. Ende September wurde ein neues Werk eingeweiht. Zur Feier kamen Konzernchef Hans Imhoff, 70, aus Köln und Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel, 60.
Vogel fand viele lobende Worte für den Kölner Investor und dessen Ost-Statthalter. »Sie haben dieses Unternehmen zu einem Musterbetrieb der freien Marktwirtschaft gemacht«, schwärmte Thüringens Regierungschef.
Die Produktion der süßen Waren läuft in der Tat auf Hochtouren. Mehr als 700 Beschäftigte können hier einen Job finden; im nächsten Jahr sollen es gar 800 Arbeitsplätze sein. Viel mehr waren es auch zu sozialistischen Zeiten nicht.
So weit die gute Nachricht. Die schlechte: Stäfe hat Schwierigkeiten, die vielen Arbeitsplätze in seinem Werk zu besetzen.
Dabei sind Job-Angebote jetzt so rar wie einst in der DDR eine gute Tafel Schokolade. Tausende von Werktätigen in Saalfeld und Umgebung haben keine Arbeit mehr. Die Produktion in der örtlichen Fabrik für Werkzeugmaschinen ist längst zusammengebrochen, die Stahlarbeiter der Saalfelder Maxhütte beziehen mangels Beschäftigung Kurzarbeitergeld.
Doch offenbar mag sich kaum jemand aufraffen, seinen Lebensunterhalt in Imhoffs Schokowerk zu verdienen. Als etwa die Weihnachtsproduktion auf vollen Touren lief, hatte das Arbeitsamt mehr als 100 Arbeitslose ins Werk geschickt.
Nach Gesprächen über Tätigkeit und Lohn, nach Informationen über Zukunftsaussichten und nach einer Arbeitsplatzbesichtigung sagten 40 Bewerber ihr Kommen zu. Am Morgen des geplanten Arbeitsbeginns allerdings waren es nur 20 Neue, die ihren Job auch tatsächlich antreten wollten.
Die Firma fand die fehlenden Kräfte woanders. Unter Asylbewerbern hatte sich schnell herumgesprochen, was zu verdienen war. An den Maschinen stehen nun Dutzende von Russen und Bulgaren, Rumänen und Afrikanern, die hier wenigstens ein paar Wochen aushelfen.
»Es ist doch kein Wunder«, sagt Schokochef Stäfe, »wenn im Westen manchmal der falsche, fatale Eindruck entsteht, als seien die Menschen im Osten faul.«
Allein an mangelnder Arbeitsfreude liegt es nicht, das weiß auch der zum überzeugten Marktwirtschaftler konvertierte Saalfelder Schokoladenmanager. In seinem Betrieb gibt es zwar reichlich Arbeitsplätze, aber nicht viel zu verdienen. Der Tariflohn in der ostdeutschen _(* Mit Geschäftsführer Harald Stäfe und ) _(Ministerpräsident Bernhard Vogel bei der ) _(Besichtigung eines neuen Lagers der ) _(Thüringer Schokoladenwerke in Saalfeld. ) Süßwarenindustrie liegt bei sieben Mark.
Schon in realsozialistischer Zeit war das kaum anders. Die Arbeit in volkseigenen Betrieben der Süßwarenindustrie stand am unteren Ende der sozialistischen Lohnskala. Monotone Tätigkeit am Band, viel Handarbeit, in der Saison vor Ostern oder vor Weihnachten bis zu zehn, zwölf Stunden schuften. In den Schulferien mußten Junge Pioniere aushelfen.
Das ist Vergangenheit, und auch im Werk hat sich einiges geändert. Der Betrieb gehört schon jetzt zu den modernsten seiner Branche in Deutschland. Durch die Stollwerck-Produktion ist die Zukunft der Firma gesichert. Die meisten der einst 15 Fabriken des DDR-Süßwarenkombinats dagegen stehen vor der endgültigen Pleite. Die Treuhand findet keine Käufer.
Der Wert der mehr als 700 Arbeitsplätze in Saalfeld wird zwar von Landesregierung und Stadtverwaltung überschwenglich gelobt. Mitte September wurde Großinvestor Imhoff für seine Aufbauleistung im Thüringischen gar mit der Saalfelder Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet. In der Bevölkerung aber gilt der Schokoladenfabrikant aus dem Rheinland eher als kapitalistischer Ausbeuter.
»Für lumpige sieben Mark geh'' ich nicht in die Schokolade«, sagt eine der vielen Frauen, die im Saalfelder Arbeitsamt auf Stellenvermittlung warten. Bis zu ihrer Entlassung im Juli war sie als Facharbeiterin in der Saalfelder Maxhütte beschäftigt. Dort liegt der Tariflohn fast doppelt so hoch wie in der Süßwarenindustrie.
Die gelernte Metallwerkerin bekommt jetzt monatlich mehr als 1000 Mark Arbeitslosengeld ausgezahlt. Im Schokoladenwerk würde sie als ungelernte Kraft anfangen. Mehr als 1200 Mark brutto plus Schicht- und Sonntagszulage sind da im Monat nicht zu verdienen.
»Ich hab'' 20 Jahre für den Sozialismus schuften müssen und bin im Sommer einfach vor die Tür gesetzt worden«, sagt die Frau. »Jetzt mach'' ich lieber ein Jahr bezahlte Pause, als für weniger Geld in der Schokolade zu schuften.« Und dann? »Irgendwann muß der versprochene Aufschwung kommen - so kann es doch nicht weitergehen.«
Für Schokomanager Stäfe sind es »Lethargie und mangelnde Weitsicht«, die viele Arbeitslose von einem Job in seinem Unternehmen zurückhalten. »Wir müssen die Menschen in diesen schweren Zeiten dazu bringen«, so Stäfe, »zu arbeiten, statt fürs Nichtstun Geld zu fordern.«
Verletzter Stolz mag hinzukommen. Selbst Männer und Frauen, die jahrzehntelang für den ehemaligen VEB Rotstern gearbeitet hatten, meiden das Schokoladenwerk.
»Das ist nicht mehr unser Betrieb«, sagt eine ehemalige Schokoladenarbeiterin. Das Betriebsklima sei »nicht mehr wie früher«, als noch Spezialitäten wie die volkseigene Schokomarke Rotstern hergestellt wurden. Jetzt mag die Qualität der neuen Sorten Stollwerck, Sprengel oder Waldbaur zwar besser sein. Aber nirgendwo auf der Packung stehe, wo die Schokolade produziert worden ist.
Mit aufwendiger Öffentlichkeitsarbeit versucht der thüringische Stollwerck-Betrieb seit einiger Zeit, das Image des Werkes und seiner Mitarbeiter zu heben. In Annoncen und Informationsveranstaltungen wird Stollwerck als eine Art Wirtschaftswunder-Unternehmen inmitten untergegangener Chemiefaser-, Werkzeug- und Optikbetriebe gepriesen.
Konzernchef Imhoff versucht sich vor Ort zudem als zahlungsfreudiger Arbeitgeber zu profilieren. »Ich habe die Löhne bis an die Grenze des Möglichen erhöht«, sagt er. Mehr als fünf Prozent über dem Ost-Tarif und eine Weihnachtszulage allerdings seien vorerst nicht drin.
Es könnte entschieden teurer werden, wenn für die Anfang des Jahres beginnende Osterproduktion nicht ausreichend Personal gefunden werden kann. Dem Betrieb liegen bereits Angebote von Zeitarbeitsfirmen aus Erfurt und Gera vor. Die bieten Arbeitskräfte im Komplettangebot - für 28 bis 30 Mark die Stunde.
* Mit Geschäftsführer Harald Stäfe und Ministerpräsident BernhardVogel bei der Besichtigung eines neuen Lagers der ThüringerSchokoladenwerke in Saalfeld.