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»Man läßt uns nicht sterben«

Die Industrie der ehemaligen DDR wird künstlich am Leben gehalten: Kredite decken die Verluste der Betriebe, die Lohnkosten zahlt das Arbeitsamt. Tragfähige Konzepte für die Zukunft fehlen, Interessenten sind rar, eine Sanierung scheint wenig erfolgversprechend. Beginnt jetzt in den neuen Bundesländern die große Pleitewelle?
aus DER SPIEGEL 6/1991

Die grelle Wintersonne scheint durch Fenster, Ritzen und Tore; im scharfen Kontrast von Licht und Schatten wirkt selbst eine Szenerie faszinierend, die, realistisch betrachtet, nur trostlos ist: eine große leere Halle, bröckelnde Mauern, auf dem Boden Schutt.

Hier, im Werk 1 der Stahlwerke Riesa, wurde, beim Anblick des Verfalls kaum vorstellbar, vor wenigen Monaten noch Stahl gekocht. Jetzt ist der Ofen aus.

Nur ein einziger Schornstein auf dem riesigen Gelände raucht. Einer der schrottreifen Öfen erzeugt tatsächlich noch Stahl - aber nur, weil die Wärme Teile der Stadt Riesa beheizt.

Die rund 9000 Beschäftigten stehen noch immer in Lohn und Brot. Ein großer Teil arbeitet kurz, das heißt für viele: gar nicht.

So wie in Riesa ist es überall in der ehemaligen DDR: Die Betriebe haben keine Arbeit, aber die Beschäftigten sind nicht arbeitslos. Sie stellen keine Produkte her, sondern Überlebenskonzepte. Sie erwirtschaften kein Geld, sondern immer neue Verluste.

Bischofswerda im strukturschwachen Ostsachsen: Das ehemalige Kombinat Fortschritt Landmaschinen versorgte den damaligen Ostblock mit riesigen Mähdreschern. Heute stehen die Bänder still und die unverkäuflichen Produkte auf Halde.

»Kurzarbeit null in der Finalproduktion«, meldet Rolf Zumpe, der Vorstandsvorsitzende der Mähdrescherwerke. Die Produktion werde so lange angehalten, »bis die Verträge über Anschlußaufträge unter Dach und Fach sind«.

Anschlußaufträge? Gewiß, die Finanzierung sei ein Problem, aber darüber werde verhandelt, sagt Zumpe.

Zschopau am Rande des Erzgebirges: 70 000 der antiquierten Zweiräder will das MZ Motorradwerk, vor dem Krieg die größte Motorradfabrik der Welt, herstellen, 5000 mehr als im vergangenen Jahr. Das Wunder soll ein Großauftrag aus der Sowjetunion bewirken. Ein russischer Kunde hat 50 000 Motorräder bestellt. Wie er die bezahlen soll, weiß allerdings niemand.

Überall in den neuen Bundesländern: dieselben Hoffnungen, dieselben Illusionen. Großaufträge aus dem Osten, finanzielle Hilfen aus dem Westen - so wollen die meisten Firmen ihr Überleben sichern.

»Wir machen etliche Millionen Verlust jeden Monat«, gesteht Jürgen Nathow, Unternehmensplaner im Vorstand der EKO Stahl AG in Eisenhüttenstadt. Gern würde er das ändern, Ideen und Konzepte, sagt er, lägen vor.

Die sehen so aus: Dem Unternehmen fehle, um wirtschaftlich produzieren zu können, nichts weiter als ein Warmwalzwerk. Bisher müsse der Stahl, zu erheblichen Kosten, zur Weiterbehandlung zu Krupp und Peine-Salzgitter transportiert und anschließend wieder zurückgebracht werden.

Doch der Bau eines Warmwalzwerkes kostet eine Milliarde Mark. Die soll, so stellt sich das der Vorstand vor, der Eigentümer auftreiben.

Die Stahl AG gehört, wie alle ehemals volkseigenen Betriebe, der Treuhandanstalt. Die wurde gegründet, um die Betriebe in Ostdeutschland zu privatisieren, zu sanieren und notfalls zu liquidieren. Bislang hat sie keines dieser Ziele auch nur annähernd verwirklicht.

Privatisieren läßt sich ein Betrieb wie EKO nicht: Welcher Investor ist schon bereit, eine Milliarde Mark in ein ostdeutsches Stahlwerk zu stecken. Sanieren geht auch nicht: Die Treuhand hat kein Geld. Bleibt liquidieren. Aber an dem Stahlwerk hängt das Schicksal einer ganzen Region.

Es gibt viele Eisenhüttenstädte in den neuen deutschen Ländern. An der Küste sind es die Werften, die einen ganzen Landstrich ernähren, in der sächsischen Lausitz ist es die Textilindustrie, in der Gegend von Halle die Chemieindustrie.

Frankfurt an der Oder lebt vom Halbleiterwerk, und das kämpft ums Überleben. Man könne doch nicht einfach die Lebensader der Stadt stillegen, klagt Dietmar Nosal, Betriebsrat im Halbleiterwerk. »Das kann man doch einfach nicht machen.«

Bisher jedenfalls wurden solche unpopulären Entscheidungen stets vertagt. Das Halbleiterwerk in Frankfurt steht auf der berüchtigten Todesliste der Treuhand. Deren Existenz wird von Treuhandchef Detlev Rohwedder am liebsten geleugnet.

Die Liste, die es angeblich gar nicht gibt, zählt, nach Ländern geordnet, alle Unternehmen auf, die bisher von den Wirtschaftsprüfern der Anstalt untersucht und für nicht sanierungsfähig befunden wurden. Sie beginnt mit der Esko-Stralsunder Essig- und Konserven-GmbH in Mecklenburg und endet mit Stern Radio und dem Zentralen Warenkontor für Haushaltswaren in Berlin. Dreimal diskutierte der Vorstand der Treuhand die Liste, dreimal vertagte er das heikle Thema.

Von den Todeskandidaten befindet sich bisher nur die Kamerafabrik Pentacon in Auflösung. Ganz freiwillig traf die Treuhand auch diese Entscheidung nicht: Der Vorstand der Firma hatte mit Rücktritt gedroht, falls nicht endlich eine Entscheidung getroffen werde.

Das langsame Sterben der ostdeutschen Betriebe kostet viel Geld - je länger es dauert, desto mehr. Die Einnahmen der ehemals volkseigenen Firmen decken ihre Ausgaben nur in Ausnahmefällen. Die Differenz pumpen die Banken, allerdings muß die Treuhand für die Kredite bürgen.

Bis zum Jahresende summierten sich die Liquiditätskredite auf 28 Milliarden Mark. Vom April an sollten die Firmen diese Schulden zurückzahlen, doch der Termin wurde auf unbestimmte Zeit verschoben: Er hätte für viele Betriebe das Ende bedeutet.

Die 28 Milliarden sind neue Altlasten; sie werden am Ende wohl zum größten Teil bei der Treuhand landen. Kaum vorstellbar, daß die Mehrheit der Firmen jemals in der Lage sein wird, ihre Schulden zu tilgen.

Die Altschulden aus sozialistischer Vergangenheit wurden der Berliner Anstalt schon aufgedrückt, insgesamt immerhin 110 Milliarden Mark. Das kostet die Treuhand rund zehn Milliarden Mark im Jahr an Zinsen.

Das Geld fehlt für die Sanierung der Betriebe. Insgesamt darf die Treuhand bis Ende des Jahres 20 Milliarden Mark Kredit aufnehmen - nicht allzuviel angesichts der Fülle der Problemfälle. Die eigenen Einnahmen sind mehr als dürftig. 2,5 Milliarden Mark will die Treuhand bisher aus Verkäufen von ostdeutschen Firmen erlöst haben. Woher diese Zahl kommt, ist rätselhaft. Selbst Mitarbeiter der Berliner Anstalt kennen kaum einen Abschluß, bei dem ein großer Betrag geflossen ist.

Publikumswirksam unterzeichneten zwar Vertreter von VW, Opel und Mercedes-Benz vor laufenden Kameras Kaufverträge, aber das waren gut inszenierte Show-Veranstaltungen, nicht mehr: Die West-Konzerne erwarben keine ostdeutschen Werke, sondern Grundstücke in der Nähe dieser Fabriken. Auf diesem Grund errichten sie neue Fertigungsstätten, die alten bleiben, mit all ihren Lasten, bei der Treuhand.

»Mein größter Erfolg«, sagt Dresdens Treuhand-Chef Helmut Wotte, »war der Verkauf eines Unternehmens zum Preis von einer Mark.« Für den maroden 500-Mann-Betrieb habe er das Menschenmögliche herausverhandelt: Der Westkäufer verpflichtete sich, 400 Beschäftigte zu übernehmen und bis 1993 mindestens 20 Millionen Mark zu investieren. »Mehr als eine Mark«, sagt Wotte, »war dann nicht mehr drin.«

Der Rest in Wottes Angebot sieht noch viel schlimmer aus. Altlasten, Altschulden und museumsreife Fabrikanlagen wirken nicht gerade verkaufsfördernd, _(* Opel-Chef Louis R. Hughes, ) _(Treuhand-Präsident Detlev Rohwedder, ) _(Wolfram Liedtke, Chef des ) _(Wartburg-Werks; hinten: ) _(Wirtschaftsminister Helmut Haussmann und ) _(Josef Duchac, Ministerpräsident von ) _(Thüringen; am 13. Dezember 1990. ) viele der 900 Treuhand-Betriebe im Dresdner Raum will kein Investor geschenkt haben. Denkbar, meint Wotte, daß schon im ersten Quartal rund 50 Betriebe seines Bezirks reif für die Liquidation sind.

Beginnt nun das Sterben unter den ehemals volkseigenen Betrieben? Steht der Ex-DDR eine Pleitewelle bevor?

Noch werden die Betriebe künstlich am Leben gehalten. Die Liquiditätskredite decken ihre Verluste; einen Großteil der Personalkosten trägt, über eine großzügig ausgestattete Kurzarbeiterregelung, die Bundesanstalt für Arbeit.

Ziel dieser Regelungen ist eine sanfte Landung der DDR-Industrie. Ein Crash sollte unter allen Umständen vermieden, soziale Unruhen sollten verhindert werden.

Geld schien keine Rolle zu spielen; bis vor kurzem glaubten die Verantwortlichen, sie säßen auf riesigen Vermögenswerten. »Der ganze Salat ist 600 Milliarden wert«, schätzte Treuhand-Chef Rohwedder noch im Oktober. Er war überzeugt, die Liquiditätshilfen für die Betriebe aus den Verkäufen finanzieren zu können.

Kaum hatte Rohwedder seinen Irrtum erkannt, ersetzte er ihn durch einen neuen. Die erhoffte Verkaufswelle blieb aus, nun meint der Treuhand-Chef, man müsse, wie er intern sagt, »die Braut hübscher machen, damit sie einen Freier findet« - Rohwedder will die Betriebe sanieren, um sie verkaufen zu können.

Das wird viel Geld kosten und wenig bringen. Sanierer sind rar. Selbst Daimler-Benz ist es nicht gelungen, innerhalb von fünf Jahren den Elektrokonzern AEG zu sanieren - und der war nicht annähernd so abgewirtschaftet wie das beste Unternehmen der ehemaligen DDR.

Den Firmen im Osten fehlt es nicht nur an modernen Fertigungsanlagen, die wären schnell zu beschaffen. Ihnen mangelt es vor allem an konkurrenzfähigen Produkten. Und die zu entwickeln dauert Jahre.

Die Motorräder von MZ in Zschopau zum Beispiel liegen technisch Jahrzehnte zurück. Sie sind allerdings billig, robust und, so behaupten jedenfalls die Firmenvertreter, extrem zuverlässig. Das macht sie beliebt in vielen Ländern der Erde. Bedauerlich, daß ausgerechnet diese Länder selten in harter Mark bezahlen können. Ungünstig auch, daß die Billigprodukte in einem künftigen Hochlohnland gebaut werden.

Die Tradition, auf die sich die neuen Manager des ehemaligen DKW-Werkes neuerdings so gern berufen, hilft da nicht weiter. Sorgfältig haben sie das alte Firmenzeichen über dem Eingang herausgeputzt, doch die zahlreichen Besucher, auch die vielen Delegationen aus Japan, gaben sich wenig beeindruckt.

Gern hätte das MZ-Management zusammen mit BMW ein sogenanntes Einsteiger-Modell für jugendliche Motorradfahrer entwickelt. Der West-Konzern zeigte allerdings wenig Interesse; er hat schon jetzt genügend Probleme, sich gegen die japanische Konkurrenz zu behaupten.

Oder was soll das Mähdrescherwerk in Bischofswerda machen, wenn Bonn die Exporte in den Osten nicht doch noch finanziert? Von Wärme-Kraft-Maschinen ist im sächsischen Wirtschaftsministerium die Rede und von einem Vorvertrag über Windkraftanlagen für die USA. Die Produktion ruht, die Phantasie arbeitet.

Die Treuhand muß die Glaubwürdigkeit der schönen Konzepte prüfen. Die meisten taugen nicht viel. »Viele Sanierungskonzepte«, kritisiert der Berliner Treuhand-Vorstand Wolfram Krause, »sind dem alten Denken verhaftet.«

Altes Denken, Lethargie, Trägheit - daß diese Begriffe so oft zur Beschreibung der Ost-Wirklichkeit benützt werden, hat seine Gründe. Und die liegen nicht nur im Osten.

Viel Geld wurde bisher in die ehemalige DDR gepumpt. Aber nur wenig dient dem Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung. Der größte Teil zementiert die alten Strukturen - und altes Denken.

Die Qualifikation der Ost-Arbeiter ist so antiquiert wie die Struktur der Wirtschaft in den neuen Ländern. Doch Umschulung findet kaum statt. »Die Trägheit der Träger ist gewaltig«, sagt Lothar Meyer, der Leiter des Arbeitsamtes Leipzig. Übertroffen wird sie nur noch von der Trägheit der Betroffenen.

Umlernen lohnt nicht; die Milliarden, die den sanften Übergang absichern sollten, hemmen den Wandel. 90 Prozent ihres Gehaltes erhalten die Kurzarbeiter - bei null Stunden Arbeit. Nebenher läßt sich schwarz dazuverdienen, wenn''s sein muß im Westen. Warum umschulen, warum eine neue Stelle suchen?

Günter Steinborn, Geschäftsführer der Waggonbau Bautzen GmbH, spürt die Folgen dieser Entwicklung. Ihre Ursachen kennt er aus eigener Erfahrung.

Steinborn hat Mühe, Facharbeiter zu finden. Job-Suchende müßte es im ostsächsischen Bautzen genügend geben; die Waggonfirma ist der einzige Betrieb der Stadt, der noch voll arbeitet. Die Aufträge reichen bis September. Was dann kommt, weiß auch Steinborn nicht.

Der Sohn des Waggonmanagers arbeitet beim Kleinlaster-Hersteller Robur. Robur ist ein ganz hoffnungsloser Fall, niemand gibt dem Betrieb noch eine Chance. Die Arbeit ist längst eingestellt, die Belegschaft bleibt zu Hause, zu den üblichen Konditionen.

Einen neuen Arbeitsplatz sucht der Sohn dennoch nicht. Er hofft, wie viele seiner Kollegen, noch immer, daß es irgendwie weitergeht.

Irgendwie geht es auch immer weiter. Die Kurzarbeiterregelung sollte im Juni auslaufen, sie wird bis zum Jahresende verlängert. Allerdings soll der Mißbrauch eingedämmt werden: Das Arbeitsministerium will sogenannte Sperrzeiten einführen. Kurzarbeitern, die es ablehnen, sich umschulen zu lassen, sollen für eine bestimmte Zeit die Bezüge gestrichen werden.

Nicht das Instrument Kurzarbeit, die Arbeit der Treuhand sei entscheidend für den Wandel in der ehemaligen DDR, rechtfertigt Werner Tegtmeier, Staatssekretär im Arbeitsministerium, die Maßnahme. Die Treuhand müsse entscheiden, ob ein Unternehmen in Konkurs gehe oder nicht.

Viele dieser Entscheidungen lassen sich nicht länger hinausschieben. Ursprünglich sollte der Wartburg, das Spitzenmodell der DDR-Automobilindustrie, noch bis zum Jahresende weiterproduziert werden. Im Januar beschloß die Treuhand, die Produktion einzustellen. Die Produktion des Wartburg bis Ende des Jahres hätte rund 200 Millionen Mark an Subventionen gekostet. »Sicher ist die jetzt getroffene Entscheidung hart«, sagt der zuständige Treuhand-Vorstand Klaus-Peter Wild, »doch sie ist richtig.«

Stützen um jeden Preis - das kann auf Dauer keine Lösung sein. Auch dem Trabi droht jetzt das vorzeitige Ende. Noch immer rollen 150 Exemplare dieses Symbols sozialistischer Mißwirtschaft Tag für Tag vom Band.

Die Eilenburger Chemie-Werk GmbH, eine Tochtergesellschaft der Buna AG, hat das Granulat gefertigt, aus dem die Trabi-Lenkräder gespritzt wurden. Es ist nicht der einzige Abnehmer, der dem, laut Firmenchronik, »ältesten Plastproduzenten auf dem Gebiet der DDR« abhanden gekommen ist.

Insgesamt 27 Millionen Mark wurden als Liquiditätskredite schon an das marode Unternehmen überwiesen, verbürgt von der Treuhand. Die halbe Belegschaft bekommt ihren Lohn von der Bundesanstalt für Arbeit. »Man läßt uns nicht in Ruhe sterben«, sagt Geschäftsführer Lothar Lietz.

Doch wer soll entscheiden, wer leben und wer sterben soll? Der Markt? Der Staat? Oder gar eine Institution wie die Treuhand? Und inwieweit kann man den Wandel sozial absichern?

»Die sozialverträgliche Abfederung ist nicht leistbar«, sagt, ganz kategorisch, der Innovationsforscher Professor Erich Staudt. Er warnt davor, die Fehler, die beim Wandel des Ruhrgebiets gemacht worden seien, in Ostdeutschland zu wiederholen.

Die Ruhr war die Krisenregion der alten Bundesrepublik. Alte Industrien herrschten vor, unbewegliche Großkonzerne blockierten die Entwicklung, die Luft war dick, der Boden verseucht - die Parallelen zur ehemaligen DDR sind unübersehbar.

Die Stahl- und Kohlewirtschaft an der Ruhr wurde abgebaut, sozialverträglich, ohne große Unruhen. Aber die Milliarden flossen in den Abbau der alten Wirtschaft und nicht in den Aufbau der neuen.

Die Arbeitslosigkeit lag weit über Bundesdurchschnitt. Man habe, sagt Staudt, ein gutes Jahrzehnt so etwas wie eine passive Sanierung betrieben. Seine Alternative für den Strukturwandel in der Ex-DDR: Crash.

Daß erst der Zusammenbruch neue Energien freisetzt, daran glauben viele Wirtschaftswissenschaftler. Der Staat soll nach ihrer Meinung vor allem dafür sorgen, daß sich diese Energien frei entfalten können: Straßen müssen gebaut, Telefonleitungen verlegt werden. Es bedarf einer funktionierenden Verwaltung und einer klaren Regelung der Eigentumsfragen.

Der Vertreter der Gegenthese sitzt, im Beispiel Riesa, in einer Baracke. Friedhelm Meier ist ein typischer Vertreter des Ruhrgebiets: stämmig, hemdsärmelig, und, vor allem, direkt. 17 Jahre war er Betriebsrat bei Hoesch, jetzt baut er für die IG Metall die Verwaltungsstelle Riesa auf. »Wir haben die eiskalte Funktion, die Leute zu schützen«, sagt er.

Einen Interessenausgleich für alle Stahlwerker fordert Meier von der Geschäftsleitung. Für jeden Mitarbeiter soll die Zukunft klar und schriftlich geregelt sein, sonst will die Gewerkschaft dem Sanierungskonzept nicht zustimmen. »Das Betriebsverfassungsgesetz«, sagt Meier, »gilt auch hier.«

Crash oder soziale Absicherung - die Treuhand arbeitet irgendwo zwischen diesen Polen, eine klare Linie ist nicht erkennbar. Politische Vorgaben gibt es kaum, Bonn hält sich raus.

Lange wird die Regierung sich diese Zurückhaltung nicht mehr leisten können. »Wir können nicht alles machen«, sagt Treuhand-Chef Rohwedder. »Bestimmte Dinge fallen in den Aufgabenbereich der großen Politik.«

Politisch muß vor allem das Schicksal der Problembranchen Stahl, Chemie und Schiffbau entschieden werden. Unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten gibt es für diese Bereiche kaum eine Chance.

»Es ist überhaupt noch nicht abzusehen, was von der Werftindustrie in den neuen Bundesländern übrigbleibt«, sagt Eckhard van Hooven, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und Aufsichtsrat der Rostocker DMS Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG.

Die meisten Chefs der 24 DMS-Unternehmen glauben nach wie vor an das Überleben ihrer Firmen. »Man muß uns nur Zeit für den Übergang geben«, meint etwa Siegfried John, Vorstandschef der Rostocker Schiffselektronik GmbH.

Doch das kostet Geld, möglicherweise zuviel. Der Finanzbedarf der DMS-Unternehmen liegt bis 1993 bei sechs Milliarden Mark - falls alle Aufträge vertragsgemäß abgewickelt werden. Die Treuhand hat das Geld nicht, Bonn soll zahlen.

Es werden noch viele Branchen- und Firmenvertreter aus dem Osten samt ihren Fürsprechern aus dem Westen in Bonn antreten. Sie werden ihre Konzepte vorlegen und, jeder für sich, Milliarden fordern. Spätestens dann wird sich die Regierung entscheiden müssen, wie sie sich den Strukturwandel in den neuen Bundesländern vorstellt.

In der Stahlindustrie allerdings sind die Probleme bis dahin vielleicht ein wenig kleiner geworden. Ausgerechnet in Riesa zeichnet sich eine Lösung ab.

600 Beschäftigte haben dort einen sogenannten ABM-Vertrag bekommen. ABM heißt Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die Arbeit besteht darin, die alten Arbeitsstätten abzureißen.

Wo jetzt noch die bröckelnden Mauern von Werk 1 stehen, wird dann ein neuer, ganz moderner Betrieb gebaut, optisch ansprechend, mit viel Licht und viel Grün drum rum. Der Investor, die Arbonia-Forster-Gruppe aus der Schweiz, übernimmt angeblich 1000 Arbeitskräfte.

Am Röhrenwerk ist Mannesmann interessiert. Kommt der Vertrag zustande, scheinen weitere 1500 Arbeitsplätze gesichert. Alles in allem, schätzt die Unternehmensleitung, könnten 5000 der Stahlwerker beschäftigt werden.

»Riesa wird überleben«, sagt Unternehmenssprecher Joachim Friebe. »Auch wir werden überleben.« o

* Opel-Chef Louis R. Hughes, Treuhand-Präsident Detlev Rohwedder,Wolfram Liedtke, Chef des Wartburg-Werks; hinten:Wirtschaftsminister Helmut Haussmann und Josef Duchac,Ministerpräsident von Thüringen; am 13. Dezember 1990.

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