»Milliarden wurden verpulvert«
Noch tief in der Nacht brennt Licht im Büro des Generaldirektors. »Der Alte ackert wieder«, sagt der Wachmann von der Spätschicht, »aber det nützt wohl och nüscht mehr.«
Seit zwei Monaten erst steht Henning Rost, 48, an der Spitze des VEB Mansfeld-Kombinats »Wilhelm Pieck« in Eisleben am Rande des Harzes. Selbst an Wochenenden sitzt der Chef in der düsteren Firmenzentrale, vertieft in alte Akten und neue Planzahlen.
Eigentlich ein sozialistischer Traumjob, den das Ost-Berliner Ministerium für Schwerindustrie dem Genossen Rost Ende November antrug. Der Metall-Staatskonzern mit seinen 47 000 Werktätigen, seinen Erzgruben, Walzwerken und Fertigungsbetrieben galt noch vor kurzem in der Hauptstadt als Musterexemplar einer weitsichtigen SED-Planwirtschaft.
Dutzende von Mansfeld-Betrieben in der ganzen Republik liefern für DDR-Bedarf und für den Export jährlich Zehntausende Tonnen Metalle aller Art, vom Aluminium bis zum Zink. Neue Betriebsstätten produzieren eine ganze Palette von Erzeugnissen, vom Kronkorken fürs Flaschenbier bis zur Bohrmaschine für Heimwerker. Das Riesenkombinat versuchte sich sogar an der Computerproduktion.
Die Staatspartei pflegte und feierte das Kombinat aus Eisleben - Geburts- und Sterbestadt des Reformators Martin Luther - als Hort sozialistischer Aufbauleistung. Hier wurde, angeblich, noch härter und erfolgreicher gearbeitet als anderswo im zweiten deutschen Staat. Hier bekamen, tatsächlich, die Arbeiter mehr Lohn für ihre Planerfüllung als in vielen anderen volkseigenen Betrieben.
Mit der angenehmen Besoldung wird es bald vorbei sein. Rost, der sich bis zu seiner Ernennung zum Kombinatschef vor allem um die Mansfelder Kupferproduktion zu kümmern hatte, soll den Unternehmens-Koloß Richtung Marktwirtschaft treiben.
Die SED, die das Unternehmen bislang behandeln konnte, als sei's ein Stück von ihr, mußte ihre direkt neben der Generaldirektion gelegene Mansfelder Zentrale am Markt von Eisleben Anfang Januar endgültig räumen. Die meisten der 70 Genossen lernen inzwischen die Kupfer-Produktion an Hochöfen oder Walzbändern im nahen Hettstedt kennen.
Dort sind sie hochwillkommen. Anfang des Jahres durften in Hattstedt rund 200 amnestierte Strafgefangene ihren Zwangsarbeitsplatz verlassen und nach Hause fahren. Jetzt sorgen die alten Parteifreunde für Entlastung.
Vor Ort, im Kombinat, gibt es für die zerbröselnde Partei nichts mehr zu schaffen. Sieben von zehn Mitgliedern in den Mansfeld-Betrieben haben die SED inzwischen verlassen. Politik wird jetzt von anderen gemacht.
Auch die einst allmächtigen SED-Planer im Ministerium für Schwerindustrie lassen nur noch wenig von sich hören. »Man hat mir bei meiner Amtseinführung erklärt«, sagt Rost, »daß ich künftig als sozialistischer Unternehmer eigenverantwortlich handeln könne und solle.«
Nur weiß der Generaldirektor nicht so recht, wie er mit der neuen Freiheit umgehen soll. Begriffe wie Gewinn und Verlust jedenfalls sind neu für den gelernten Bergwerks-Ingenieur; mit Kostenminimierung und Gewinnmaximierung hat Rost sich bisher nicht befassen müssen. Ihn interessierte früher ja nur die ordentliche Herstellung von Metallen, um die Kasse kümmerte sich die Partei.
Als Besucher aus dem Westen den Mansfeld-General, der sein Parteibuch bislang noch nicht abgeben mochte, Ende Dezember nach der Rendite seines Staatskonzerns fragten, mußte sich Rost erst mal telefonisch beim Kollegen Oberbuchhalter kundig machen. Die Zahlen beeindruckten damals den neuen Chef. »1,1 Milliarden Mark Gewinn bei 13,7 Milliarden Mark Umsatz - das ist doch ganz gut, oder?« sagte ihm der Buchhalter.
Das wäre sogar glänzend, wenn die Rechnung stimmte. Tatsächlich aber hat die sozialistische Bilanzbuchhaltung kaum etwas mit der betrieblichen Wirklichkeit zu tun.
Inzwischen hat Rost gemerkt, welch übles Erbe er übernommen hat. »Wenn ich ehrlich bin«, sagt der Neu-Manager, »entspricht meine Ausbildung nicht den Anforderungen.«
Das galt wohl auch für seine Vorgänger. Von den noch kürzlich leitenden Genossen des Mansfeld-Kombinats allerdings ist keiner mehr im Amt, die Revolution hat die Täter entlassen.
Mitte November mußte der damalige Generaldirektor Bernd Reichmann, 50, seinen Posten auf Druck des Ministeriums für Schwerindustrie niederlegen, weil er demonstrativ aus der Partei ausgetreten war. Damals fühlte sich die SED noch stark. Reichmann wurde als Entwicklungsingenieur zu den eigenen Eisen- und Hüttenwerken Thale am Harz strafversetzt, das Gehalt von 3500 (Generaldirektor) auf 930 Mark (Ingenieur ohne Kompetenz) gekürzt.
Nur wenig später verschwand der mächtige SED-Kreissekretär Joachim Wehage aus der Stadt. Wehage, der wie ein Aufsichtsratsvorsitzender des Staatskonzerns gewirkt hatte, geriet in den Strudel der Revolution - die Basis jagte den strammen Einheitssozialisten davon. Der einstige Mansfeld-Kommandeur sitzt heute in der SED-Bezirksleitung von Halle.
Anfang Januar gab auch Otto Hahn auf, der langjährige Vorsitzende der Mansfelder IG Bergbau Energie und als ranghöchster FDGB-Gewerkschafter der dritte im Führungstrio des Großkombinats. Bis zuletzt hatte der Gewerkschafter an die Allmacht der Partei geglaubt und gegen den Klassenfeind agitiert. Hahn: »Im vergangenen November habe ich mir zum erstenmal in meinem Leben Westfernsehen angeguckt.«
Jetzt plagt den gelernten Bergmann, der es über den zweiten Bildungsweg zum promovierten Philosophen brachte, das Gewissen, er fühlt sich schuldig. »In Wahrheit wußten wir doch, was falsch lief, aber wir haben die Kollegen belogen und betrogen«, gibt Hahn, wie viele aus der SED, sein pflichtgemäßes Schuldbekenntnis ab. Er kann »verstehen«, wenn er »auf der Straße als Schuft beschimpft« wird.
Die Stimmung in den Mansfeld-Betrieben ist gereizt. Erst allmählich wird den Menschen bewußt, wie unsicher die garantierten Arbeitsplätze geworden sind. Zu lange waren die Gesetze der Ökonomie außer Kraft gesetzt.
»Wenn hier die knallharte Marktwirtschaft kommt«, sagt ein Bergmann vom Thomas-Münzer-Schacht in Sangerhausen bei Eisleben, »dann sind wir am Ende, dann kommt die Arbeitslosigkeit der Massen.«
Die Marktwirtschaft kommt bereits, wenn auch behutsam. Ende vergangenen Jahres wurde die in den Zwanzigern gebaute und heute völlig veraltete Kupfer-Silber-Hütte »Fritz Beyling« in Hettstedt geschlossen - aus Gründen des Umweltschutzes, wie der aus Berlin angereiste Schwerindustrie-Minister Kurt Singhuber betonte.
Noch geht die sozialistische Arbeitsbeschaffung auf. Die 130 Hüttenleute finden ohne Probleme einen Job im benachbarten Walzwerk. Dort werden dringend Arbeitskräfte benötigt.
Doch die nächsten Stillegungen sind bereits beschlossene Sache, und dann ist es nicht mehr so einfach mit Ersatzarbeitsplätzen. Mitte des Jahres wird die Ilsenburger Hütte dichtgemacht, die Schadstoffbelastung der Umgebung ließ sich nicht länger geheimhalten. Der Boden in und um Ilseburg ist mit Schwermetallen verseucht. Aber das ist nicht der einzige Grund für das nahe Ende der alten Hütte. Gewichtiger ist, daß jeder Arbeitsplatz dort mit mehr als 100 000 Mark jährlich subventioniert werden muß. Die Mitarbeiter bei vollem Lohnausgleich in die Frühpension zu schicken wäre wirtschaftlicher. SED-Minister Singhuber, ein langjähriger Planer und Vollstrecker einheitssozialistischer Industriepolitik: »Das werden wir uns künftig nicht mehr leisten können.«
Wie bislang gerechnet wurde, steht mit deutscher Gründlichkeit in vertraulichen Akten des Kombinats. Die Gewinnung einer Tonne reinen Kupfers aus eigenen Erzschächten kostet im Schnitt 105 600 Mark. Verkauft aber wurde das Edelmetall an die Abteilung Metallurgiehandel des Volkseigenen Außen- und Binnenhandelbetriebs der Deutschen Demokratischen Republik in Ost-Berlin zum Festpreis von 12 300 Mark.
Mehr als manche aufwendige Analyse machen diese beiden Zahlen deutlich, warum die DDR-Wirtschaft am Nullpunkt angelangt ist.
Das stattliche Defizit von 93 300 Mark pro Tonne wurde ordnungsgemäß dem zuständigen Singhuber-Ministerium in Rechnung gestellt. In dem geforderten Subventionsbetrag berücksichtigt war bereits ein Aufschlag von acht Prozent der Herstellungskosten, das sind 8448 Mark. Diesen Betrag überwies das Kombinat als planmäßigen Gewinn nach Berlin zurück.
Offiziell mußte mit Hilfe solcher Rechenkunststücke nie ein Verlust ausgewiesen werden. So florierte eine Wirtschaft, für die es keine am Bedarf und an Kosten orientierte Rentabilitätsrechnung gab.
Die wahrhaft profitablen Geschäfte des Mansfelder Erzbergbaus sind schon lange Vergangenheit. Die Grafen von Mansfeld hatten im Mittelalter ganz gut an den Gruben verdient. Jahrhunderte später, der Kapitalismus blühte auch in Deutschland, kassierten die Aktionäre der Mansfeld AG ordentliche Dividende. Nur die Bergleute wurden für ihre Frondienste lausig entlohnt.
Spätestens in den sechziger Jahren jedoch waren die inzwischen volkseigenen Erzschächte im Eislebener Revier ausgelaugt. Der Metallanteil am geförderten Kupferschiefer sank dramatisch, der Abbau wurde immer teurer.
Die Arbeiter-und-Bauernführer aber wollten nicht die Totengräber der fast 800 Jahre alten Mansfelder Bergwerkstradition sein. »Der Kupferbergbau hat seine Zukunft bis weit in das nächste Jahrtausend«, beruhigte der Minister Singhuber noch Mitte der Achtziger die Kumpels vor Ort.
Die Bergleute fuhren weiter in die Schächte ein. Niemand fragte nach den Kosten für das aufwendige Arbeitsbeschaffungsprogramm. »Da sind Milliarden an Kapital verpulvert worden«, sagt heute ein SED-Funktionär in Eisleben, »die anderswo als Investitionsmittel dringend gebraucht wurden.«
Es gehört zu den Kuriosa des DDR-Sozialismus, daß der VEB Mansfeld, nach normalen ökonomischen Kriterien ein Konkursunternehmen, zur Keimzelle eines der größten Kombinate im ostdeutschen Staat ausgebaut wurde.
Profitable Unternehmen wie etwa die früheren Allgemein Deutschen Metallwerke Oberschönweide in Berlin oder die 1925 gegründeten Leipziger Metallwerke wurden dem VEB Mansfeld zugeschlagen.
Mansfeld, nun nach dem DDR-Mitbegründer Wilhelm Pieck benannt, wucherte durch die zwangsverordnete Konzentrationswelle zum Koloß. Das kaum noch durchschaubare Geflecht unterschiedlicher Metallbetriebe sollte, so hofften die Staatsplaner, den Niedergang des Mansfelder Erzbergbaus kaschieren und das Kombinat zu einem Metallkonzern von Weltniveau verschmelzen.
Trotzig hielten die Funktionäre an der viel zu teuren Kupferproduktion fest. Aus einer Million Tonnen Erzförderung konnten in den vergangenen Jahren nur noch 7000 Tonnen Metall gewonnen werden. Eine sinnlos geringe Beute. Um die alten Erzschmelzen auszulasten, importierten die Staatssozialisten zusätzlich große Mengen Kupferschrott aus dem westlichen Ausland - meist mit Kunststoff ummantelte alte Kabel oder kleingehäckselte Halbleiter, die aus guten Gründen des Umweltschutzes in Ländern wie der Bundesrepublik nicht mehr verarbeitet werden durften.
Die Einfuhr des Rohmaterials und die Ausfuhr des reinen Metalls besorgten SED-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski und dessen Firma Intrag. Natürlich wußten die Mansfeld-Direktoren um die Gefahren dieser Art Kupferproduktion. Aber die Intrag zahlte in bar und Valuta.
Da flossen einige Millionen Mark-West extra in die Kassen des Kombinats. »Außerdem«, sagt Ex-Generaldirektor Reichmann heute, »konnten wir uns kaum gegen solche Aufträge wehren.«
Die Folgen sind verheerend. Seit Ende der siebziger Jahre wurden die gesetzlichen Grenzwerte von Schwermetall-Emissionen im Umkreis der Kupferhütte Ilsenburg um das 40fache überschritten. Bis zu 300 Tonnen Schwermetalle schleuderte die Uraltschmelze jährlich in die unmittelbare Umgebung.
Bei Anwohnern wurden Schadstoffe wie Blei, Kupfer, Cadmium und auch Dioxine im Blut nachgewiesen. Den Behörden war das bereits seit Ende der siebziger Jahre bekannt.
In einer Studie vom März 1988 forderte die Bezirkshygiene-Inspektion Magdeburg eindringlich Sofortmaßnahmen - vom »Speiseverbot von Wald- und Wiesenpilzen« aus der Umgebung und regelmäßigen »vorbeugenden Erholungskuren« für Kinder bis hin zur Schließung der Produktionsstätten. Die Studie verschwand damals im Panzerschrank der SED-Bezirksleitung. Erst jetzt wurde der Umweltskandal öffentlich, Mitte des Jahres muß die Ilsenburger Hütte schließen.
Dann wird auch für die längst unsinnig gewordene Erzförderung etwa im Sangerhausener Thomas-Münzer-Schacht das endgültige Aus kommen. Mehr als 2000 Bergleute werden dann in der armen Vorharz-Region ihren nach DDR-Maßstab mit monatlich 1600 Mark blendend bezahlten Job verlieren.
Mansfeld-Chef Rost sucht verzweifelt nach neuen Überlebenskonzepten für seinen Konzern. Seine Hoffnung liegt, wie bei vielen Ost-Managern, im Westen. Gemeinsam mit der Frankfurter Metallgesellschaft (MG) würde Rost gern ins Anlagenbau-Geschäft einsteigen.
Nun verhandelt der Staatsunternehmer mal in West-Berlin, mal in Frankfurt mit dem MG-Vorstandsvorsitzenden Heinz Schimmelbusch. Eins hat der DDR-Mann bereits gemerkt: »Der Schimmelbusch ist ein ganz ausgezeichneter Fachmann.«
Den Einstieg ins Computergeschäft, von Vorgänger Reichmann noch mit hohem Aufwand betrieben, hat Rost inzwischen wegen »mangelnder Erfolgsaussichten« von der »Liste zur Neupositionierung des VEB Mansfeld Kombinat« gestrichen.
Ein Konzept für neue Massenarbeitsplätze gibt es nicht. Rost rechnet inzwischen mit mehr als 8000 Arbeitslosen in den nächsten Jahren.
Vielleicht werden es noch mehr, denn der Koloß Mansfeld droht auseinanderzubrechen. »Früher«, sagt ein enger Rost-Mitarbeiter, »gab es Flankenschutz von Partei und Regierung.« Jetzt dagegen werde der Generaldirektor »ziemlich allein gelassen«.
Gesunde und gewinnbringende Unternehmen, die vor Jahren dem Eislebener Kombinat zwangsweise angegliedert wurden, drängen zurück in die Selbständigkeit. Sie glauben, allein bessere Überlebenschancen zu haben als im Verbund des maroden Staatskonzerns.
Zu den aufmüpfigen Mansfeld-Töchtern gehören der Aluminiumproduzent VEB Leichtmetallwerk Rackwitz bei Leipzig und die Eisen- und Hüttenwerke Thale, wo Rosts Vorgänger Reichmann jetzt im blauen Arbeitskittel seinen Dienst versieht und auf neue Karrierechancen wartet.
Die Betriebe stellen sich um, die Menschen auch. Reichmann, der ehemalige Genosse Generaldirektor, versucht nun, mit den Sozialdemokraten anzubandeln. In Thale will er, »wenn man mich läßt«, beim Aufbau eines SPD-Ortsvereins helfen.
Der FDGB-Mann Otto Hahn möchte sich endlich zum richtigen Gewerkschafter wenden. Nötiges Rüstzeug für den Kampf um die Arbeiterrechte brachte der überzeugte Kommunist Ende Dezember bei seinem ersten Westbesuch mit - ein Buch über das Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
»Wenn es sein muß«, sagt Hahn, »kann ich auch Streiks organisieren - natürlich immer im Rahmen der Legalität.«
Wie es im Buche steht.