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KARRIEREN Mister Mittelmaß

Der FDP-Vize Rainer Brüderle könnte in einem schwarz-gelben Kabinett Bundeswirtschaftsminister werden. Dabei zweifeln selbst Liberale an seiner Kompetenz. Von Markus Feldenkirchen
aus DER SPIEGEL 37/2005

Es ist nicht der »Musikantenstadl« in der ARD, sondern die FDP-Kundgebung in Mainz, aber die Stimmung ist ähnlich gut. Der Gastgeber hat die Verbraucherschutzministerin Renate Künast gerade »Jeanne d'Arc der frei laufenden Hennen« genannt. Dann hat er für die Freiheit der Genforschung geworben und gesagt: »Man kann schlimme Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson nicht mit Kamillentee kurieren.« Es hat eigentlich nur ein Pointen-Tätä der Band gefehlt, aber dafür lässt Rainer Brüderle beim Reden gern die gestreckte Hand von der Stirn seitlich in die Luft schwingen, wie Mainzer Karnevalisten beim Narrhallamarsch.

Die Menschen im Kurfürstlichen Schloss mögen das. Es sind Liberale mit Lederwesten oder Schnurrbart. Ihr Idol steuert gerade wieder auf eine seiner Kernaussagen zu. Er ist Fachpolitiker, der Moderator hat ihn angekündigt als »Mister Mittelstand«. »Meine Damen und Herren«, sagt Brüderle und hebt die Stimme, dann kommt's: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«

Manchmal wirkt Rainer Brüderle wie der Karl Moik der deutschen Wirtschaftspolitik.

Er nähert sich jetzt seiner berüchtigten Schlussoffensive: »Wir müssen in Deutschland die Fenster aufmachen, damit der Mief abzieht. Jalousien hoch und Licht an.« Die Lederwestenschnurrbartliberalen johlen bereits, als ihr Star noch einen draufsetzt. »Jetzt gilt's! Jetzt muss der Aufbruch kommen! Glückauf!« Seine Stimme krächzt jetzt, sie hält der Euphorie nicht mehr stand, die in Brüderle tobt.

Er befindet sich auf seinem persönlichen Narrhallamarsch ins Wirtschaftsministerium. In ein paar Wochen schon könnte er Bundesminister sein. Erbe von Wolfgang Clement. Für ihn wäre das ein Märchen aus dreitausendundeiner Nacht, so lange etwa hofft er schon auf diesen Posten. Er ist sein Lebenstraum, auch wenn er ihn ziemlich allein träumt. Seine eigenen Parteifreunde witzeln über mangelnde Kompetenz. Und nur neun Prozent der Bundesbürger halten Brüderle für den geeignetsten Kandidaten in einer schwarzgelben Regierung. Damit liegt er weit hinter Peter Müller, Merkels Wirtschaftsmann im Wahlkampfteam.

Vielleicht liegt es daran, dass Brüderle der Prototyp eines Politikers ist, der Windmaschine oder auch Dampfplauderer genannt wird, dem keine Floskel zu abgelutscht ist, dessen Aktionismus größer ist als sein Reservoir an Grundsätzen.

Manchmal, in ruhigen Minuten, verfasst Brüderle kluge Schriften, die sich lesen, als wäre er der Nachlassverwalter seines Vorbilds, des großen Ökonomen Adam Smith. In diesen Aufsätzen versucht er nachzuweisen, wieso Privilegien, Subventionen und Protektionismus einer Volkswirtschaft mehr schaden als nutzen. »Jede noch so gut gemeinte Schutzvorrichtung bringt nämlich neue Verwerfungen hervor und provoziert Handlungen, die man bei der Konzeption vorher nicht mitbedenken konnte«, schreibt Brüderle.

Man kann also den Eindruck gewinnen, er sei ein richtiger Wirtschaftsliberaler, dem die Freiheit des Marktes etwas Heiliges ist, ein Mann mit Standpunkt. Aber dann gibt es Abende wie jenen in Villingen-Schwenningen, an dem die örtliche FDP ins Haus der Betriebskrankenkasse geladen hat und Rainer Brüderle an einem Tisch zwischen vielen kleinen Provinzgrößen sitzt.

Er hält ein kleines »Impulsreferat«, das den Titel »Mehr Freiheit für den Mittelstand« trägt. Anschließend klettern sieben weitere Menschen zu ihm auf die Bühne für eine Diskussionsrunde. Um Brüderle herum sitzen nun der Mann von der Handwerkskammer, der Mann von der Industrie- und Handelskammer Schwarzwald-Baar-Heuberg und der Landesinnungsmeister der Fliesenleger, Herr Messner.

Messner sagt, dass im Vermittlungsausschuss 53 Handwerksberufe vom Meisterbrief entbunden worden seien. Das hat Herrn Messner »irgendwie traurig gemacht«, und die Fliesenleger seien »am allerallerschlimmsten betroffen«. Herr Messner weint jetzt fast. »Das ist eine Zerschlagung des deutschen Handwerks. Ich fordere, dass man diese Missstände beseitigt - bei aller Liberalität.« Er guckt dabei Brüderle an. Der nickt tröstend.

Es geht Herrn Messner und den anderen Kammerleuten nicht um mehr Freiheit. Sie wollen geschützt werden, sie wollen ihre alte Handwerksordnung wiederhaben und den Meisterzwang. Es ist ein schwäbischer Singsang der Ständevertreter, die um ihre Privilegien bangen und ihre heile, staatlich geschützte Welt bewahren wollen, eine Welt, in der es kein vereintes Europa gibt, keine Globalisierung und so wenig Wettbewerb wie möglich.

Brüderle verspricht Hilfe, er möchte ihr Schutzheiliger sein, eine Art Jeanne d'Arc der Fliesenleger. Adam Smith passt einfach nicht so gut nach Villingen-Schwenningen,

deshalb lässt ihn Rainer Brüderle meist zu Hause.

»Den kann man eigentlich nur zur Handwerkskammer schicken«, lästern Kollegen aus dem FDP-Vorstand. Ihr Mister Mittelstand sei in Wahrheit ein Mister Mittelmaß. Ein Mister Schuhsohle, weil es ihm vor allem um kleine Handwerksbetriebe wie die Schuhmacher gehe. Es ist das Milieu, in dem er groß wurde, Landau in der Pfalz, der Vater Textilhändler, für den der kleine Rainer die Krawatten zu den Kunden trug.

So wurde er im Lauf der Jahrzehnte als Wirtschaftspolitiker zu einem äußerst lebendigen Beispiel für die Kluft zwischen Theorie und Praxis, zwischen intellektuellem Anspruch und der Befriedigung von Eitelkeiten, dem Bedürfnis, es der eigenen Klientel recht zu machen, oder dem schlichten Wunsch, gemocht zu werden.

Irgendwo in Rainer Brüderles Kopf muss es eine Stimme geben, die dann immer wieder kreischt: »Rainer, da musst du handeln!« Dann greift Brüderle meist zu seiner Lieblingswaffe, der Pressemeldung.

Als es im Januar hieß, die Rentenkasse sei überraschend voll, war Brüderle sofort zur Stelle und forderte, die Renten müssten erhöht werden. Als er Minister für Wirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz war, musste die eigene Landeszentralbank ihn für seine ausufernde Subventionspolitik rügen. Vor allem Winzer, Bauunternehmer und andere Mittelständler konnten sich immer auf ein paar Mark extra aus dem Hause Brüderle verlassen.

Es war die Zeit, als keine Weinkönigin vor den Küssen des Ministers sicher war. Er küsste leidenschaftlich, und nebenbei steigerte er die Subventionen für den Weinbau in steilen Hanglagen nicht um 20 Prozent, nicht um 100, sondern um mehr als 200 Prozent. Nur nannte er das nicht Subventionen, sondern »existentiell notwendige Anpassungshilfen«. Der Rainer, lästern Parteifreunde, sei kein Ordnungspolitiker, sondern ein Unordnungspolitiker.

Dass hinter der liberalen Fassade oft etwas anderes schlummert, zeigt sich auch, wenn er über die Gesellschaft redet, über Ausländer oder alleinerziehende Mütter. Es klingt dann wie aus dem Textbaukasten für oberbayerische Bierzeltreden. Als die FDP-Fraktion über den Beitritt der Türkei debattierte, warnte Brüderle: »Dann kriegen wir Zustände wie in Kreuzberg.«

Im kleinen Schwenningen berichtete er den Menschen aus der Welt der Großstadt: »Wenn ich in Frankfurt S-Bahn fahre, seh ich lauter verhaltensgestörte Kinder«, und lieferte die Erklärung gleich mit: »Wenn es heute lauter Lebensteilzeitpartnerschaften gibt, muss man sich nicht wundern, wenn am Ende fußkranke Kinder dabei rauskommen.« Und dann schmettert er bei seinen Veranstaltungen einen Satz mit besonderer Inbrunst unters Volk: »Deutschland muss wieder Deutschland werden!«

Damit Deutschland wieder Deutschland wird, will Brüderle persönlich die Fenster aufreißen, die Jalousien hochziehen und für die Fußkranken das Licht anknipsen. Nach 1998 und 2002 ist dies nun sein dritter Anlauf gen Wirtschaftsministerium. Er hält sich mehr denn je für unverzichtbar.

Brüderle meint, den Standort Deutschland retten zu müssen. Dabei ist er selbst Teil des deutschen Problems. Er könnte der Gewinner eines Systems sein, in dem innerparteiliche Machtspiele oder uralte Koalitionsgesetze schwerer wiegen als die Qualifikation. So könnte er im Fall einer schwarz-gelben Regierung gleich von mehreren glücklichen Umständen profitieren. Davon, dass die FDP gerade einen äußerst schwachen Vorsitzenden hat. Guido Westerwelle hält eigentlich nicht viel von Brüderle, aber er will sich mit seinem ehrgeizigen Vize und dessen Deutschland-Südwest-Bataillonen auch nicht anlegen.

Brüderle würde zudem von der Koalitions-Bauernregel profitieren, wonach eine Partei, die das Finanzministerium bekommt, nicht das Wirtschaftsministerium besetzt. Da sich Angela Merkel auf Paul Kirchhof als Finanzminister festgelegt hat, stünde der FDP also das Wirtschaftsressort zu. Es sind solche problemfernen Kriterien, nach denen in der deutschen Politik die wichtigsten Posten ausgekartelt werden. Und Medienerfahrung bringt Brüderle schließlich mit.

Einmal war er Gast in der »Harald Schmidt Show«. Schmidt kündigte als Programmpunkt »Saufen mit Brüderle« an. Dann kam Brüderle und sagte: »Wir haben ein Imageproblem. Die Produkterotik muss ein bisschen vermittelt werden.« Er meinte den deutschen Wein. Er verriet, dass er meist schon mittags anfange, Wein zu trinken, und Schmidt sagte: »Ich würde gern tagsüber trinken, aber ich schaffe es nicht.«

»Das is' 'ne Übungsfrage«, ermutigte Brüderle. Später sagte er noch was Politisches. »Es wäre wichtig, wenn sich in Deutschland etwas ändert. Wenn sich nichts ändert, dann ändert sich auch nichts.« »Sehr gut«, sagte Schmidt. »Das finde ich mal konkret. Ich hatte schon Angst, Sie kommen jetzt mit 'ner Floskel.«

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