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Mit Perestroika am Abgrund

aus DER SPIEGEL 34/1990

Irina Morosowa postiert sich als eine der ersten vor der Kühltruhe, in der Neonröhren zwei zerknüllte Papiertüten beleuchten. Bald folgt ihr ein Dutzend weiterer Menschen, die im Supermarkt am Moskauer Taganskaja-Platz schweigend vor der leeren Truhe warten, als müsse jeden Moment ein Wunder geschehen.

Nach einer Viertelstunde schieben die ersten ihre Einkaufswagen unruhig hin und her, die kleinen Räder quietschen, und schließlich geschieht, was alle offenbar erwarteten. Die Wand, an der die Truhe steht, hat ein kleines Fenster, das nun geöffnet wird. Eine dahinter stehende, weiß bekittelte Frau wirft mit beiden Händen etwas heraus, das mit dumpfem Aufprall in die Kühltruhe fällt.

Hastig greift Irina Morosowa zweimal zu, wird dabei von den neben ihr Stehenden schon bedrängt und geht schnell einige Schritte zur Seite. Nun betrachtet sie, was sie in der Hand hält: zwei Stücke einer dicken, gräulich schimmernden Wurst.

Einige Kunden schimpfen, »so wirft man nicht mal den Hunden ihren Fraß vor«. In zwei oder drei Tagen aber werden sie wieder vor dieser Kühltruhe stehen. In dem riesigen Supermarkt mit zwölf Kassen gibt es noch eine Menge weiterer Kühltruhen und Regale, die ebenfalls leer sind. Hinter ihnen aber befindet sich kein Fenster, durch das sie aufgefüllt werden könnten.

Die Sowjetunion im Jahre sechs der Perestroika: Im Lebensmittelladen werden die Kunden behandelt wie Tiere im Zoo. Zur Fütterungszeit müssen sie sich vor der Truhe versammeln. Wer zu spät kommt, geht leer aus. Die Klappe ist wieder geschlossen.

Vor einigen Jahren noch, sagt Irina Morosowa, »konnte ich in diesem Geschäft alle Lebensmittel kaufen, die ich brauchte«. Nun aber gibt es hier und in den meisten anderen Läden Moskaus »wochenlang kein Fleisch und keinen Käse, kein einziges Stückchen Obst und kein Gemüse«.

»Warum kommst du überhaupt hierher«, brüllt sie plötzlich ein alter, leicht gebeugter Mann an, »bleib doch, wo du herkommst.«

Am Dialekt muß der Alte wohl erkannt haben, daß Irina Morosowa nicht in Moskau lebt. Morgens um fünf hat sie sich in Rybinsk, nordöstlich von Moskau, in den Zug gesetzt und ist in die Hauptstadt gefahren. »Bei uns gibt es auch nichts«, sagt sie dem Alten, »oder warum, glaubst du, fahre ich vier Stunden, um einzukaufen?«

Irina schiebt ihren Wagen langsam weiter, eine junge Moskauerin wirft ihr Worte wie Steine hinterher: »Nichts gibt es hier, von Woche zu Woche wird es schlechter, und dann kommen auch noch Leute wie du hierher, verschwinde lieber.«

Die Sowjetunion in diesen Wochen: Die Versorgungsmisere auf dem Land treibt immer mehr Bürger in die Städte, als habe die große Krise nicht auch diese längst erreicht. Mal gibt es kein Waschpulver und keine Zahnpasta, mal keine Schuhe und keine Zigaretten. In den staatlichen Läden sind Lebensmittel knapp wie seit Jahren nicht mehr. Die Schlangen vor den Brotständen werden länger; sicheres Zeichen dafür, daß auch das Grundnahrungsmittel bald zur Mangelware wird.

Von der großen Trostlosigkeit zum kleinen Paradies sind es nur ein paar Kilometer, es ist die Strecke vom Taganskaja-Platz zum Zwetnoj bulwar. Kunden betreten die turnhallengroße Markthalle dort durch ein Spalier von roten und violetten, von orangenen und weißen Blüten. Hinter den Blumenhändlern haben die Obst- und Gemüseverkäufer ihre Tische aufgebaut, präsentieren Paprika und Tomaten, Auberginen und Zucchini, Bohnen und Möhren, Pfirsiche und Melonen.

Irina Morosawa kommt nicht hierher, die wenigen Kunden verlieren sich in der weiten Halle. Eindeutig in der Überzahl sind die Verkäufer, die Usbeken, Georgier und Ukrainer, die ihre zu Hause angepflanzten Produkte anbieten. Kein Käufer stört die Ruhe eines Metzgers, der seinen Kopf auf die Theke gelegt hat und nun eingeschlafen ist neben einer Waage, einem Ferkel und vier Reihen gerupfter Hühner.

Es gibt nicht viele, die sich ein Hühnchen für 15 Rubel leisten können oder eine große Melone für 60 Rubel, in einem Land, in dem der Durchschnittslohn bei 260 Rubel liegt und Rentner meist nur 70 Rubel im Monat bekommen. Für Menschen dieser Einkommensklasse, und sie sind die Masse, ist das kleine Paradies nur ein großes Ärgernis.

»Es ging uns nie sonderlich gut«, sagt Irina Morosowa, »aber jetzt geht es uns dreckig.« Mit diesem Satz der Hausfrau aus Rybinsk läßt sich die Situation der gesamten sowjetischen Wirtschaft beschreiben. Landwirtschaft und Industrie des Landes arbeiteten nie sonderlich effektiv, nun aber läuft häufig gar nichts mehr.

Alle sehen die Misere: die Arbeiter in den Fabriken, in denen immer weniger hergestellt wird; die Bauern auf dem Lande, deren Ernte zu rund einem Drittel noch auf dem Feld, während des Transports oder in den Lagerschuppen verkommt; die Statistiker in den Behörden, die das Ausmaß des Desasters in volkswirtschaftlichen Kennziffern erfassen: Die Arbeitsproduktivität sinkt (minus 1,5 Prozent), die Inflation wächst (voraussichtlich über 20 Prozent in diesem Jahr), das Handelsbilanzdefizit steigt und die Arbeitslosigkeit ebenfalls.

Und die Politiker, die in Moskau und die im Westen? Sie vermitteln vor allem den Eindruck großer Ratlosigkeit.

Fast flehentlich bat Michail Gorbatschow die Regierungschefs der sieben führenden westlichen Industriestaaten um Hilfe, als die sich Mitte Juli in Houston trafen. Die Bundesrepublik versprach einen Kredit, fünf Milliarden Mark, das klingt nach viel Geld. Das meiste davon aber taucht nur für einen Tag, vielleicht auch nur für eine Stunde als Zahl auf einem Moskauer Konto auf, dann entfleucht es wieder Richtung Westen, zu deutschen und anderen ausländischen Firmen, bei denen die Sowjetunion im Zahlungsverzug ist.

Die Deutsche Bank hat dafür gesorgt, daß Bonn dieses Darlehen verbürgt. Die Banker, die an diesem risikolosen Kredit gut verdienen, sorgten sich um ihre Kundschaft aus der Industrie, denen die Sowjets keine Rechnungen mehr bezahlten.

Die USA und Großbritannien warten erst einmal ab. Vielleicht, weil sie in Ruhe zusehen wollen, wie die Wirtschaft der Sowjetunion und damit auch die Macht des Landes immer weiter abbröckelt. Vielleicht, weil sie wirklich nicht wissen, wie diesem Staate zu helfen ist.

Erst mal sollen schlaue Leute, von Weltbank und Weltwährungsfonds und anderen Organisationen, bis Jahresende herausfinden, was denn die Gründe für den Verfall der sowjetischen Wirtschaft sind und ob Kredite ihn aufhalten könnten.

Einfach wird die Ursachenforschung für die Ökonomen des Westens nicht. Die Planwirtschaft allein können sie für das Desaster nicht verantwortlich machen. Schließlich ist die starre Planung vergangener Jahrzehnte bereits ein wenig abgebaut, wird hier und da im großen Sowjetreich schon etwas Marktwirtschaft geprobt.

Rund 190 000 kleine Privatunternehmen, von der Computerwerkstatt bis zur Gaststätte, arbeiten mitten in der Planwirtschaft. Stolz berichten die Moskauer Umgestalter von 1500 registrierten Gemeinschaftsunternehmen, die mit westlichen Industriefirmen dem Land Zugang zu fortschrittlicher Technik und Devisen verschaffen sollen. Die Leiter der großen Staatskonzerne sollen sich mehr am Bedarf ihrer Kundschaft orientieren, deshalb wurden sie von einigen irrsinnigen Plankennziffern befreit.

Waren die Reformschritte noch »zu langsam, zu halbherzig«, wie der sowjetische Wirtschaftsreformer Leonid Abalkin befindet? Oder müßten die Reformen eher »langsamer, systematischer« verwirklicht werden, wie der Sowjetunion-Kenner Friedrich Wilhelm Christians meint, der Aufsichtsratschef der Deutschen Bank?

Ist die Versorgungsmisere nun ein Zeichen dafür, daß es noch viel zuwenig Marktwirtschaft oder bereits zuviel in relativ kurzer Zeit gibt? Wie arbeiten die neuen Privatbetriebe, die Jointventures, und wie die alten Staatskonzerne?

Ein Hinterhof in Moskau, der nur durch einen anderen Hinterhof zu erreichen ist: Tauben suchen auf einem offenen Müllkübel zwischen den faulenden Abfällen nach Freßbarem, eine Holztür steht offen, irgendwo ruft eine Stimme: »Kommen Sie ruhig rein.«

Hinter diesem Eingang befinden sich die Büroräume eines sowjetischen Privatunternehmens. Dem Chef, Wictor Lisonkow, wurden nach einem Unfall beide Beine amputiert. Nun liegt er neben dem Schreibtisch auf einer Couch, der Oberkörper wird von zwei dicken Kissen hochgehalten, so daß Lisonkow das Telefon bequem erreicht. Von diesem Zimmer aus, in dem sich Essensdüfte mit den von draußen hereinziehenden, leicht süßlichen Gerüchen der Mülltonne mischen, steuert Lisonkow seine Firma mit acht Beschäftigten.

Seit seinem Unfall weiß er, daß es die Planwirtschaft nicht schafft, annähernd genügend Arm- und Beinprothesen herzustellen. Lisonkow wollte nicht Jahre auf Prothesen warten, er entwickelte und baute sie zunächst für sich selbst, später für jeden, der bereit war, für die künstlichen Arme und Beine zu zahlen.

Das kleine Gewerbe mußte sich lange Zeit in einem Keller verstecken. Es verstieß schließlich gegen einen Grundsatz der sozialistischen Wirtschaft: Die Produktion elementarer Güter war den Staatsbetrieben vorbehalten; wenn die nicht genügend Prothesen herstellten, dann gab es eben keine.

Nachdem Gorbatschow 1987 Sowjetbürgern erlaubte, kleine Firmen zu gründen, konnte Lisonkow seinem Geschäft ganz offen nachgehen, eine Werkstatt mieten, Arbeiter anheuern. Nur Privatbetrieb sollte er seinen Privatbetrieb nicht nennen. Offiziell heißen solche Firmen Kooperative. Das klingt noch ein bißchen nach Sozialismus, auch wenn es mit dieser Wirtschaftsform nichts mehr zu tun hat. Kein Plan schreibt Lisonkow vor, was und wieviel er zu produzieren hat.

Im Vorraum zu Lisonkows Werkstatt wirbt ein Opernsänger lautstark um seine Angebetete. Ein grauhaariger Mann in langer weißer Unterhose schaut dem Treiben auf dem Bildschirm eines kleinen Schwarzweiß-Fernsehers gelangweilt zu. Nebenan hämmern, bohren und schrauben zwei Männer an der Prothese herum, die er bald anprobieren will.

Ein Regal, das vom Boden bis zur Decke reicht, ist gefüllt mit Arm- und Beinprothesen. Es sind zuwenig, viel zuwenig. Der kleine Privatbetrieb kann die Lücken der staatlichen Versorgung nicht annähernd füllen.

Unzählige Männer und Frauen in den Staatskonzernen, den Planungsbehörden und Parteigruppierungen sorgen dafür, daß Lisonkows Betrieb diesen Mangel genausowenig ausgleichen kann, wie Tausende anderer Kooperativen es in anderen Bereichen der Wirtschaft nicht schaffen können. Jahrzehntelang haben diese Bürokraten, die eigentlichen Herren des Systems, in einem ganz speziellen Sinn ausgesprochen erfolgreich zusammengearbeitet.

Der allgegenwärtige Mangel, der an Prothesen, der an Maschinen oder Schrauben, verschaffte denen, die ihn verwalten, viele Annehmlichkeiten. Sie haben eine Datscha, einen Privatwagen, und wenn es in keinem Laden Moskaus mehr »Schampanskoje« gibt - sie haben stets genügend Sekt im Kühlschrank.

Privatunternehmen wollen am Mangel mitverdienen. Sie sind zu klein, um ihn zu beheben, aber oft groß genug, diejenigen zu stören, denen die Verteilung knapper Güter bisher das Leben erleichterte. Die alten Nutznießer des Mangels müssen schon aus Eigeninteresse die neuen Privatunternehmen bekämpfen.

Lisonkow bräuchte mehr Maschinen, mehr Material, eine größere Werkstatt. Woher aber soll er das alles bekommen? Maschinen muß er bei den staatlichen Firmen bestellen. Die dürfen viele Maschinen, weil es sogenannte Defizitwaren sind, gar nicht an Privatunternehmen verkaufen. Neue Räume für eine Werkstatt muß Lisonkow bei der Stadtverwaltung beantragen. Dort zeigen ihm die alten Bürokraten erst mal, daß sie auch in diesen neuen Zeiten noch die Macht haben. Sie finden keine geeigneten Räume. Ein leerstehendes Haus, das Lisonkow selbst entdeckte, ließen sie abreißen, bevor der Kleinunternehmer es übernehmen konnte.

Der Opernsänger wird inzwischen häufig von lauten Flüchen übertönt. Der Grauhaarige geht einige Schritte vor und zurück, ein wenig unsicher noch und stark auf eine Krücke gestützt. Zwei von Lisonkows Arbeitern haben ihm die Prothese an den rechten Beinstumpf geschnallt. Die drückt noch an mehreren Stellen. Darüber flucht der Grauhaarige. Und darüber, daß »die elenden Bürokraten« solche Betriebe »unterstützen und nicht blockieren sollten«.

Diese Wahrheit ist sehr bequem, ein wenig zu bequem. Die elenden Bürokraten allein können es nicht sein, die Privatbetriebe allüberall behindern. Peter Bischko, der eine Computer-Kooperative mit 86 Beschäftigten leitet, wird nicht von irgendeinem Bürokraten vorwurfsvoll gefragt, warum er sich denn einen neuen Wolga gekauft hat. Es fragt ihn sein Nachbar, der den ganzen Tag Bier trinkt und Domino spielt. Der wirft ihm auch vor: »Wer soviel Geld hat, muß ein schlimmer Gauner sein.«

Nur im Suff entstanden ist dieser Vorwurf nicht, auch wenn er mit Peter Bischko sicher den Falschen trifft. Bischko und seine Belegschaft liefern vielen Betrieben Computer, erstellen Programme, bilden Mitarbeiter aus. Die ersten 100 000 Rubel Gewinn haben sie sofort wieder ausgegeben für zwei große Computer.

Von den rund 16 000 bis 18 000 Kooperativen, die in Moskau arbeiten, sind aber nach Bischkos Schätzung nur etwa 600 so groß wie seine Firma. Nur 600 haben einen festen Kundenstamm, zahlen Steuern und investieren Geld.

Jede vierte Kooperative, sagt Bischko, nennt sich jetzt so, weil das besser klingt als Schwarzhändler oder Diebesbande. Das bißchen Freiheit, das der zögernde Aufbruch in Richtung Marktwirtschaft für privaten Handel und Geschäfte gibt, nutzen die Ganoven häufig als erste.

Verschwinden irgendwo zwei Drehmaschinen, tauchen die beiden sicher bald im Angebot einer sogenannten Kooperative auf. Und die Geschichte davon macht schnell die Runde, denn es gibt genügend Leute, denen es ganz recht ist, wenn in der Folge gleich alle Privatunternehmer beschimpft werden als »Diebe«, »Aussauger« oder »Spekulanten«. So geraten die Unternehmer und die Marktwirtschaft schon gehörig in Verruf, bevor beide richtig arbeiten. »Sieben Jahrzehnte Sozialismus«, sagt Peter Bischko achselzuckend, »hinterlassen halt ihre Spuren.«

Es ist Mitternacht in Moskau, und in einem Hotelzimmer am Lenin-Prospekt plant ein deutscher Mittelständler die Zukunft der Neun-Millionen-Stadt. »Das wird ein Hammer«, sagt Reiner Roland Lang und donnert mit der Faust auf den Tisch. »Das bringt euch richtig etwas«, verspricht er einem sowjetischen Verhandlungspartner.

Ein Technologie- und Handelszentrum mit Läden, Hotelzimmern und Büros für westliche Konzerne will der Inhaber einer badischen Maschinenbaufirma errichten. Alles in großem Stil. Siemens soll dort einziehen. Und wenn dann noch »mein Freund Niefer kommt«, der Chef von Mercedes-Benz, »was meinscht, was dann abgeht?«

Für eine Stunde ist die Sowjetunion die große Chance für deutsche Unternehmen, der riesige unbefriedigte Markt mit 290 Millionen potentiellen Kunden. Und die Konzerne aus dem Kapitalismus sind die große Chance für die Sowjetunion, aus der Krise herauszufinden. Ganz klar ist für Lang in diesem Moment, daß auf das Technologie- und Handelszentrum der »Mercedes-Stern obendrauf kommt«, der einmal »bis zum Roten Platz rüberleuchten wird«.

Am nächsten Morgen befindet sich Reiner Roland Lang wieder in der grauen Gegenwart deutscher Unternehmer, die in der Sowjetunion investieren. »Du sollst nicht diskutieren, du sollst Maschinen verkaufen«, brüllt er Wladimir P. Sawin an, »sonst ist es aus, sonst läuft hier gar nichts mehr.«

Lang war der erste deutsche Unternehmer, der mit einem sowjetischen Partner eine Gemeinschaftsfirma gründete (SPIEGEL 33/1987). Homatek (kyrillisch: Xomatek) heißt sie, beteiligt ist neben Langs schwäbischer Maschinenbaufirma Heinemann die Moskauer Werkzeugmaschinen-Fabrik Ordschonikidse. Homatek beschäftigt in Moskau rund 100 Leute, Wladimir P. Sawin ist der Generaldirektor, und er hebt hilflos beide Hände: »Alle wollen unsere Maschinen, aber niemand kann sie bezahlen.«

Langs Kopf ist gerötet, sein Hemd spannt gefährlich über dem Bauch, der ganze Mann erweckt den Eindruck, gleich müsse irgend etwas platzen. »Was ist mit der DDR?« fragt er Sawin. Der Generaldirektor holt das Telex, mit dem die DDR alle Verträge storniert hat. Es ist nüchtern formuliert wie ein Todesurteil. Die DDR war der Hauptkunde für die Homatek-Maschinen. Doch DDR-Firmen, die nicht wissen, wie sie die nächsten Wochen überstehen sollen, kaufen keine neuen Maschinen.

Vor drei Jahren noch klang Joint-venture für sowjetische Wirtschaftsreformer wie ein Zauberwort, das dem Land Zugang zu Devisen und fortschrittlicher Technik aus dem Westen verschafft. Als Gorbatschow solche kommunistisch-kapitalistischen Gemeinschaftsunternehmen zuließ, als in recht kurzer Zeit rund 1500 angemeldet wurden, schien der Zauber auch zu wirken.

Inzwischen aber sind Joint-ventures nur ein weiterer Beleg für die These, daß es nicht möglich ist, inmitten der Riesen-Planwirtschaft kleine kapitalistische Inseln zu schaffen. In Zahlen: Von den 1500 vereinbarten Gemeinschaftsunternehmen haben nur rund 200 die Arbeit aufgenommen, und von diesen arbeiten etwa 120 mit Verlust, immer mehr melden Konkurs an. Axel Lebahn, bei der Deutschen Bank zuständiger Direktor für das Sowjetunion-Geschäft, warnt: »Zur Zeit kann man deutschen Firmen nicht zu Jointventures raten.«

Reiner Roland Lang fragt Wladimir Sawin immer wieder: »Warum werfen die uns hier ständig Knüppel zwischen die Beine?« Sawin weiß darauf keine Antwort. Er weiß nur, warum sowjetische Firmen kaum noch Maschinen bei Homatek bestellen: Sie werden nun nicht mehr von der staatlichen Planbehörde zugeteilt, die Firmen müssen die schönen Maschinen nun selbst bezahlen.

»Ich habe einige neue Angebote rausgeschickt«, versucht Sawin zu beschwichtigen. Der Satz soll Hoffnung wecken, die Tonlage aber verrät, daß Sawin sich von dieser Initiative auch nicht die Rettung der Gemeinschaftsfirma verspricht.

»Wieviel Maschinen verkaufst du?« drängt Lang. »Ich brauche Geld.« Mit den Rubel, die das Joint-venture auf russischen Konten ausweist, kann der Deutsche nichts anfangen. Er kann sie nicht in Dollar oder D-Mark umtauschen. Er muß sie »glatt vergessen«. Und zu Hause, im Schwarzwald, »sitzt die Bank und dreht mir den Hahn ab«.

In Bedrängnis geraten ist nun auch Langs bundesdeutsche Firma, der Maschinenbau-Hersteller Heinemann, der mehr als zwei Drittel des Umsatzes im Geschäft mit der Sowjetunion erwirtschaftet. Wenn Heinemann seine Teile nicht mehr an Homatek in Moskau loswird, weil Homatek kaum noch Maschinen in der Sowjetunion oder in der DDR verkaufen kann, droht dieser kapitalistisch-kommunistischen Firmengemeinschaft der Zusammenbruch.

Unter ihr begraben würde wohl auch Langs großer Traum von einem Technologie- und Handelszentrum in Moskau. Das vorgesehene Areal, auf dem Bagger schon den Schrott wegschieben, liegt auf dem Werksgelände von Langs sowjetischem Partner Ordschonikidse.

Ein anderes Grundstück kann Lang nicht bekommen. Als Ausländer darf er nicht einen einzigen Quadratmeter sowjetischen Bodens erwerben. Zweifelhaft auch ist, ob er tatsächlich Mieter für sein Gebäude fände. Warum sollten sich Siemens oder Mercedes stark in einem Land engagieren, in dem sie kein Werksgelände kaufen dürfen, in dem sie ihre Rubel-Einnahmen nicht in Devisen wechseln können?

Je klarer Lang das drohende Ende sieht, um so verbissener kämpft er. »Keine Angst, ich pack' das schon«, sagt er, »ich weiß nur noch nicht wie.«

Einem Feldherrn gleich steht Weniamin Kalner auf einer Brücke der Moskwa und zeigt mit weit ausgestreckten Armen nach links und rechts, auf Werkshallen und Bürogebäude, längs des Flusses und längs der Straße, so weit der Blick reicht. »Das ist eine eigene Stadt«, sagt Kalner. Viel Mühe gibt er sich nicht, seinen Stolz darauf zu verbergen, Vize-Chef des Lastwagen-Konzerns Sil zu sein, der allein in dieser Moskauer Dependance 60 000 Menschen beschäftigt.

Das Bild des selbstzufriedenen Managers aber vermag Kalner allenfalls noch für zwei weitere Sätze aufrechtzuerhalten: »Der Konzern stellt jedes Jahr 200 000 Lastwagen her, insgesamt beschäftigen wir 120 000 Menschen.« Dann ist Kalner schon bei den Problemen, die dieses Staatsunternehmen wie alle anderen derzeit umtreiben. Und die hängen allesamt mit der Perestroika zusammen, denn »vorher hatten wir keine Schwierigkeiten«.

Vorher: Da legten die Bürokraten von Gosplan fest, daß Sil 200 000 Lastwagen im Jahr herzustellen hat, das staatliche Komitee für Materialversorgung Gosnap lieferte die nötigen Rohstoffe und kaufte exakt 200 000 Lkw zum vorher festgelegten Preis ab.

Heute: Da wird der Übergang zu ein bißchen Marktwirtschaft geprobt. Der Staat will seinen Staatsbetrieben nur noch einen Teil ihrer Produktion abnehmen, vielleicht 60 oder 70 Prozent. Gosnap will nur für diesen Teil die Rohstoffe liefern. Und die Führer der großen Konzerne, Leute wie Kalner, werden von vielen neuen Fragen gequält, die sie nicht beantworten können: »Wo bekommen wir nun den Stahl her, der uns für die Produktion fehlt? Wie versorgt man eine Fabrik mit Rohstoffen? Wo finden wir Käufer für die Lkw, die der Staat uns nicht mehr abnimmt?«

Viele Firmen in der Sowjetunion könnten einen Lastwagen von Sil gut gebrauchen. Wenn sie den nun aber nicht mehr von Gosplan auf Antrag bewilligt und zugeteilt bekommen, wenn sie ihn selbst bezahlen müssen, dann verzichten viele erst mal auf die Anschaffung. »Und welchen Preis können wir von Firmen verlangen, die vielleicht doch einige Lkw kaufen?« fragt sich Kalner.

Einkauf, Verkauf, Kostenkalkulation: Nach Jahrzehnten zentraler Planwirtschaft sind dies für die Chefs der riesigen sowjetischen Konzerne Vokabeln aus einer sehr fremden Welt. Die neuen Freiheiten bringen für sie nur neue Schwierigkeiten. Und wenn sie die Freiheiten nutzen, bringt das mitunter die ganze Volkswirtschaft in Schwierigkeiten.

Nachdem rund 40 000 Betriebe endlich ein bißchen von dem durften, was ihnen zuvor strengstens verboten war, nämlich selbständig Außenhandel betreiben, bestellten sie erst mal eine Menge Waren im Westen. Um die Bezahlung kümmerten sich die wenigsten, das war zuvor ja auch nie ihre Aufgabe. Die Folge: Westliche Firmen klagten über die miserable Zahlungsmoral der sowjetischen Handelspartner. Die hohe Kreditwürdigkeit des gesamten Landes, bis vor einem Jahr noch von Bankiers in aller Welt gelobt, ist dahin.

Weniamin Kalner ist einer, der sich im Kombinat für mehr Markt stark gemacht hat und der deshalb auch in die Führungsspitze aufstieg. Nun ist er Vize-Chef des Riesenkonzerns, kann mehr entscheiden als jeder Vize-Chef zuvor und muß eingestehen: »Ich weiß nicht, wie ich unsere Arbeitsplätze sichern soll.«

Sieben Jahrzehnte Planwirtschaft haben Realitäten geschaffen, die den Übergang zur Marktwirtschaft tatsächlich als Aufgabe für Generationen erscheinen lassen. In fast allen Branchen verfügen große Staatskonzerne über eine Monopolstellung. Werden sie privatisiert, an die Belegschaft oder Außenstehende verkauft, wandelt sich das staatliche in ein privates Monopol. Können diese Konzerne dann auch noch ihre Preise frei gestalten, verlangen sie Monopolpreise. Die Inflation würde noch stärker steigen, aber in den Fabriken von Sil würde kein einziger Lastwagen zusätzlich produziert.

Für die Marktwirtschaft ist Kalner nach wie vor. »Ich bin kein Konservativer«, fügt er ganz erregt hinzu, »aber . . .« Das Wirtschaftssystem sei viel zu kompliziert, um es im Schnelldurchgang umzustellen. Die Betriebe, ihre Führer müßten auf die neue Zeit vorbereitet werden. Und die Bevölkerung auch. Die verliere nämlich langsam die Geduld. »Unsere Arbeiter sagen das, fragen Sie die doch«, sagt Kalner und verabschiedet sich eilig.

Einige Arbeiter von Sil stehen neben einem hohen Sockel, auf dem die Büste eines früheren Sil-Direktors ruht: Sie schimpfen über Lebensmittel und Schuhe und Zigaretten, die es nicht gibt oder die zu teuer sind für Leute mit 260 Rubel im Monat. Warum sollten sie sich einsetzen in der Fabrik für einen Lohn, mit dem sie nichts kaufen können? Ein Arbeiter erzählt einen alten Witz, der inzwischen Realität wurde: »Der Staat tut so, als ob er uns bezahlt, und wir tun so, als ob wir arbeiten.«

Schneller noch als die Wirtschaft verfällt die Währung. Ein Rubel ist ein Stück Papier, ein sehr kleines. Ausländischen Unternehmern wie Roland Lang, aber auch Managern vieler Staatskonzerne nutzt ein Rubel-Schein weniger als ein Tempo-Taschentuch. Sowjetische Firmen verkaufen gesuchte Maschinen oft nicht mehr, sie tauschen nur noch. Der Kunde muß sich zuvor Kühlschränke besorgen. Die sind seltener und wertvoller als Rubel.

Wenn die Währung nichts mehr wert ist, welchen Wert hat dann die Perestroika, die große Umgestaltung der Sowjetunion? Für die Arbeiter der Lastwagenfabrik ist Perestroika nur ein weiteres nicht eingehaltenes Versprechen.

Was hilft es ihnen, wenn Kalner erklärt, daß die alte Planwirtschaft keineswegs besser war, daß in den siebziger und achtziger Jahren nur die hohen Einnahmen für Ölexporte es dem Land ermöglichten, die Mängel des Systems einigermaßen zu verdecken? Was hilft ihnen der Hinweis, daß der Zusammenbruch der östlichen Wirtschaftsgemeinschaft RGW und das Selbständigkeitsstreben der Sowjetrepubliken die Krise noch verschärfen?

Die Sil-Arbeiter sind es leid, immer wieder neue Erklärungen und Versprechungen zu hören, auch wenn die neueste Verheißung sich nun Marktwirtschaft nennt. Warum sollte es sich ausgerechnet dieses Mal lohnen, für das neue Ziel zeitweilig Entbehrungen in Kauf zu nehmen? Vielleicht geht es dann ja einigen besser, aber daß ausgerechnet er dabei ist, daran glaubt kaum einer.

»Was hat die ganze Perestroika denn gebracht?« fragt ein Verwaltungsangestellter von Sil. »Ein paar Leute sind reicher als vorher, und ganz viele sind ärmer.«

Die neuen Reichen, die Chefs und Eigentümer von Kooperativen, fahren mit einem Volvo oder BMW durch Moskau, sitzen abends in Restaurants wie dem Lasagne in der Pjatnizki-Straße, lassen sich ihr Tuborg von Bedienungen im Stretch-Mini servieren und bezahlen mit Dollar oder D-Mark.

Die neuen Armen, das sind die Alten, die Rentner, deren Einkünfte sich kaum erhöht haben, während alles teurer wurde. Die Opfer der Inflation finden sich nun an Moskaus Tischinski- Markt wieder und verkaufen Teile ihres Hausstandes.

Eine alte Frau lehnt an einer Bretterbude, neben ihr, auf einer Obstkiste, liegen ein Paar Schuhe und ein grüner Filzhut. Sie ist 86 Jahre alt, sagt die Frau. Von ihrer Rente, 70 Rubel, zahlt sie 13 für die Wohnung und 2 Rubel für das Telefon. Einmal im Monat will sie sich wenigstens Tomaten leisten und frisches Obst, erzählt sie noch, bevor sie richtig wütend wird: »Was sollen diese dummen Fragen, glaubt ihr, es macht mir Spaß, meine Sachen zu verkaufen? Eine Schande ist das. Wenn meine Rente um ein paar Rubel erhöht wird, verdreifacht sich der Fleischpreis. Und jetzt verschwindet endlich und laßt mich in Ruhe.«

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