

Globale Wirtschaftskrise Die Folgen der falschen Therapie


Fensterputzer in China: Was ist Realität an den Finanzmärkten, was nur Schein?
Foto: CHINA STRINGER NETWORK/ REUTERSEs ist - wieder einmal - ein böses Erwachen aus süßen Träumen. Die Börsen beben: Seit Ende vorigen Jahres sind die Indizes in den reichen Ländern massiv eingebrochen. Dow Jones , Dax und Nikkei haben bis zu einem Fünftel ihres Wertes verloren. Besonders hart getroffen hat es die großen Banken, gerade die Deutsche Bank . Die Währungen der Schwellenländer sind abgeschmiert.
Chinas Notenbank verpulvert ihre Devisenreserven mit atemberaubender Geschwindigkeit. Allein im Januar hat sie mehr als 100 Milliarden Dollar auf den Markt geworfen, um den Wert des Yuan zu stützen. Weltweit verfallen die Rohstoffpreise, Öl kostet heute 75 Prozent weniger als noch vor vier Jahren. Anleihen von ehemaligen Euro-Krisenstaaten werden wieder mit höheren Zinsen belegt.
Ein neuer Lehman-Moment?
Es ist eine derart breite Abwärtsbewegung, dass sie an frühere Momente des bösen Erwachens erinnert. An das Jahr 2008, als nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers plötzlich die Stabilität des Weltfinanzsystems insgesamt infrage stand. Oder an 2001, als nach den Terroranschlägen vom 11. September die alte globale Ordnung zerbrochen zu sein schien.
Jedes Mal sahen die Akteure an den Finanzmärkten schlagartig die Welt in anderem Licht. Eine neue Realität war über sie gekommen, unerwartet und unerbittlich. Sie begannen, sich eine neue, eine düsterere Story zu erzählen: über den Zustand der Welt, über die Zukunftsaussichten von Unternehmen, Märkten, Staaten.
Dieses Mal ist der Weckruf nicht so eindeutig, dafür aber umso besorgniserregender. Anders als bei früheren Crashs gibt es keinen offensichtlichen Auslöser. China und andere wichtige Schwellenländer kriseln schon länger. Die Eurozone steht auf rissigem Fundament. Die allmähliche Straffung der Geldpolitik in den USA ist schon seit zwei Jahren Thema.
Sicher, es gibt einige politische Großrisiken: Krieg in Syrien, Terror in der Türkei, Spannungen mit Russland, der mögliche Zerfall der EU im Zuge von Flüchtlingskrise und der Brexit, ein möglicher Wahlsieg des unberechenbaren Donald Trump in den USA. Aber all diese Problemherde schwelen entweder schon seit Langem, oder sie sind eher entfernte Möglichkeiten als unmittelbare Gefahren.
Anleger und Investoren verlieren das Vertrauen in den Staat
Das derzeitige Börsenbeben hat andere Ursachen: Der Glaube an die allmächtigen Fähigkeiten staatlicher Wirtschaftspolitik schwindet. Denn darauf fußte die Börsenstory seit vielen Jahren: Was auch geschehen mochte, im Zweifel würden die Staaten - vor allem in Gestalt ihrer Notenbanken - schon bereitstehen: Sie würden die Lage stabilisieren und die Kurse wieder nach oben hieven. So wurden schlechte Nachrichten zu guten: Negative Wirtschaftsmeldungen sorgten immer wieder für Kurssprünge - in freudiger Erwartung weiterer staatlicher Finanzspritzen.
Doch diese Story ist kaum noch vereinbar mit der Realität. Die Zinsen liegen nahe null, zum Teil sogar im negativen Bereich, das gab es noch nie. Die Notenbanken in den reichen Ländern haben so viele Wertpapiere vom Markt gekauft, dass sich ihre Bilanzen beispiellos aufgebläht haben. Vielerorts haben die Staatsschuldenberge schwindelerregende Höhen angenommen, die nun die Spielräume für weitere defizitfinanzierte Konjunkturprogramme verengen.
Erreicht haben die Notenbanker und Regierungen mit diesem Großeinsatz nicht so viel wie erhofft: Eine kräftige und dauerhafte Belebung der Wirtschaft hat nicht stattgefunden. Investiert wird wenig, der Produktivitätsfortschritt ist fast zum Stillstand gekommen. Kurz: Die überstimulierte Weltwirtschaft reagiert kaum noch auf die Therapie. In der Realwirtschaft zeigen die Frühindikatoren wieder mal nach unten. (Achten Sie auf die Ergebnisse der Eurozonen-Einkaufsmanager-Umfrage am Montag und auf den deutschen Ifo-Geschäftsklimaindex am Dienstag.)
Nun geht den Staaten auch noch die konjunkturpolitische Munition aus. (Wir haben an dieser Stelle bereits im vorigen August darüber diskutiert). Entsprechend bestürzt reagieren die Börsen. Reichlich Gesprächsstoff für die Finanzminister und Notenbankchefs der G20-Staaten, die sich Freitag und Samstag in Shanghai treffen.
Was jetzt? Taumelt die Welt ungebremst in die nächste Krise?
Die derzeitige Standardantwort von Wirtschaftspolitikern und Ökonomen lautet: mehr vom Gleichen - wenn viel nicht hilft, ist mehr auf jeden Fall besser.
Entsprechend bereitet sich die Europäische Zentralbank darauf vor, ihr Anleihekaufprogramm abermals aufzustocken. Das aber wirkt nur, wenn die Börsen die Story auch dieses Mal wieder glauben und die Kurse entsprechend steigen. Die Strafgebühr auf Zentralbankeinlagen ("negative Zinsen") könnte noch mal angehoben werden. Das aber würde den ohnehin fragilen Bankensektor weiter destabilisieren.
Überall herrscht eine gewisse Ratlosigkeit
Die OECD forderte diese Woche eine "stärkere gemeinsame Antwort" der Wirtschaftspolitik. Zentraler Punkt: koordinierte staatliche Investitionsprogramme in den wichtigsten Ländern. Das aber können sich viele Regierungen kaum noch leisten.
Gut möglich, dass mehr vom Gleichen genau die falsche Therapie ist - dass sie mehr schadet als nützt.
Eine gewisse Ratlosigkeit ist erkennbar. Neben Konjunkturprogrammen empfiehlt die OECD, Märkte zu liberalisieren und faule Bankkredite abzuschreiben, insbesondere in der Eurozone. Gute Ideen, die aber alles andere als neu sind - und bisher wahlweise an reformmüden Südeuropäern oder an abschreibungsunwilligen Deutschen gescheitert sind.
Problematisch dabei ist: Je mehr die traditionellen Instrumente der Wirtschaftspolitik an Wirksamkeit einbüßen, desto mehr greifen wieder protektionistische Ideen um sich. Freihandel und Globalisierung sind zu Schmähworten geworden. Zweifelhaft, ob das US-EU-Abkommen TTIP - am Montag beginnt die nächste Verhandlungsrunde - noch politisch durchsetzbar sein wird.
Vor allem geht es wieder darum, dem eigenen Land einen vermeintlichen Vorteil gegenüber dem jeweiligen Ausland zu verschaffen. Donald Trump verspricht den Amerikanern Schutz vor Billigimporten. Brüssel streitet mit Peking über Stahllieferungen zu Dumpingpreisen. Auch die negativen Einlagezinsen haben eine protektionistische Komponente: Damit lassen sich Währungen abwerten, um so Exporte anzukurbeln, ein willkommener Nebeneffekt. Die Europäer sind sogar drauf und dran, untereinander wegen der Flüchtlingsströme wieder die Grenzen zu schließen; etwaige Behinderungen im Warenverkehr würden sie billigend in Kauf nehmen.
Nach Finanz-, Euro- und Schwellenländer-Krise droht als Nächstes eine Globalisierungskrise. Kein Wunder, dass die Börsen beben.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche
Montag
Brüssel - Verlorene Posten: Fortsetzung der Verhandlungen über das US-EU-Freihandelsabkommen TTIP (bis Freitag).
London - Euro-Stimmung: Neuer Einkaufsmanagerindex für die Eurozone.
Dienstag
München - Deutschland-Stimmung: Neuer Ifo-Geschäftsklimaindex für Deutschland.
Mittwoch
Brüssel - Im Zeichen der Flüchtlingskrise: Treffen der EU-Justiz- und Innenminister.
Frankfurt - Geld ohne Hüter: Die Bundesbank, in Daueropposition zur EZB, stellt ihre Bilanz vor. Präsident Weidmann erklärt sich der Presse. Achten Sie auf Äußerungen zu Negativzinsen und Anleihekäufen.
Nürnberg - Lust auf was Neues? Neue Zahlen zur Verbraucherstimmung in Deutschland (GfK-Konsumklimaindex).
Donnerstag
Frankfurt - Jede Menge Kohle: Die EZB veröffentlicht die Geldmenge M3 für die Eurozone im Januar. Zuletzt war sie wieder deutlich schneller als die Referenzrate von 4,5 Prozent gewachsen - eigentlich ein Grund, weitere expansive Maßnahmen zu überdenken.
Freitag
Shanghai - Krisenkonferenz: Treffen der G20-Finanzminister und -Notenbankgouverneure (bis Samstag). Für Deutschland dabei: Schäuble, Weidmann und dessen Vize Claudia Buch.
Zürich - Nach Blatter: Der Weltfußballverband Fifa wählt einen neuen Präsidenten.
Samstag
Ludwigshafen - Lucke reloaded: Bundesparteitag der neuen Partei von Ex-AfD-Chef Lucke - Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa).
Sonntag
Los Angeles - No business like… - Verleihung der Oscars.

Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.