AUTOINDUSTRIE Neue Gerüchte, alte Affären
Besuchern vermittelt DaimlerChrysler derzeit ein Bild großer Ruhe und Gelassenheit. In den deutschen Mercedes-Benz-Fabriken wird, weil Ferienzeit ist, oft nur im Ein-Schicht-Betrieb produziert. Und in der Konzernzentrale in Stuttgart-Möhringen sind viele Büros verwaist, weil die Manager in den Urlaub fuhren wie Konzernchef Jürgen Schrempp, der vor gut zwei Wochen seinen vorzeitigen Abschied erklärt hatte, und Mercedes-Boss Eckhard Cordes, der ebenfalls seinen Rücktritt anbot, weil Chrysler-Chef Dieter Zetsche neuer Konzernboss wird und nicht er selbst.
Im Inneren des DaimlerChrysler-Konzerns aber dampft und brodelt es. Manager machen Kasse und lösen ihre Aktienoptionen ein, als befänden sie sich auf einem sinkenden Dampfer. Die Belegschaft liest in den Zeitungen, dass in Deutschland rund 5000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt in der Affäre um Graumarktgeschäfte. Die US-Börsenaufsicht SEC und das US-Justizministerium untersuchen mutmaßliche Schmiergeldzahlungen des Konzerns. Und immer noch ist offiziell nicht entschieden, wer die Mercedes Car Group demnächst sanieren soll, wenn Cordes gegangen ist.
Kurzum: Mercedes-Benz hat alles, was ein Unternehmen, das mit Absatz-, Kosten- und Qualitätsproblemen zu kämpfen hat, nicht braucht. Und hinzu kommen Gerüchte, die gar nicht abwegig genug sein können, um für eine kurze Zeit weitere Verwirrung zu stiften.
VW-Markenchef Wolfgang Bernhard, so das jüngste Gerücht, werde wieder zurückkehren und Mercedes-Boss werden - jener Bernhard, dem der DaimlerChrysler-Aufsichtsrat vor einem Jahr einstimmig bescheinigt hatte, er sei nicht geeignet für die Führung der Mercedes Car Group, und der dann zu VW wechselte. Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende von DaimlerChrysler, Betriebsrat Erich Klemm, findet dafür nur ein Wort: »Quatsch.«
Das Präsidium des Aufsichtsrats ist sich einig, dass Schrempps Nachfolger Zetsche die Führung von Mercedes möglichst am 1. September, spätestens aber am 12. September, vor Beginn der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt, interimsmäßig übernimmt. Anschließend kann Zetsche dann binnen einiger Monate einen geeigneten Chef für diesen zentralen Teil des Konzerns suchen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Entwicklungschef Thomas Weber und der einstige BMW-Vorstand Carl-Peter Forster, derzeit Vize-Chef von General Motors in Europa.
Bis dahin dürfte es auch mehr Klarheit in der Affäre um Graumarktgeschäfte und mutmaßliche Bestechungszahlungen geben. Nachdem mehrere Niederlassungsleiter und Top-Manager des Deutschlandvertriebs entlassen wurden, liegt mittlerweile der interne Abschlussbericht vor. Aus ihm und vor allem aus den Unterlagen, die von den Anwälten der Beschuldigten bei Arbeitsgerichten eingereicht wurden, ergibt sich ein schöner Einblick in die Graumarktgeschäfte, die bei DaimlerChrysler seit Jahren fester Bestandteil des Geschäfts waren - und von denen auch die Konzernspitze wusste.
Schon am 11. Mai 1998 berichtete Jürgen Fahr, Vertriebsleiter Deutschland, schriftlich an »Herrn Dr. Zetsche«, damals Vertriebsvorstand bei Daimler-Benz, über das »Parallelmarktgeschäft«. Es ging um Fahrzeuge, die von der deutschen Vertriebsorganisation entgegen den internen Regeln nicht an Endkunden, sondern an Wiederverkäufer veräußert worden waren. Diese hatten die Autos dann unter anderem nach Taiwan und in andere Länder exportiert und den dortigen Partnern des Konzerns, die exklusive Vertriebsrechte für ihr Gebiet hatten, das Geschäft erschwert.
Fahr bezifferte den Umfang des Graumarktgeschäfts damals auf rund 4000 Fahrzeuge im Jahr und erklärte, warum die deutschen Daimler-Benz-Niederlassungen nicht völlig darauf verzichten wollten. »Absatzschwächen in einzelnen Baureihen
werden nirgends so intensiv verfolgt und öffentlich gemacht wie in Deutschland.« Deshalb habe der Vertrieb in der Auslaufphase der S-Klasse versucht, »den Abstand zu unserem Wettbewerber BMW nicht zu groß werden zu lassen beziehungsweise Audi auf Distanz zu halten, und deshalb alle Möglichkeiten zur Stabilisierung unserer Marktanteile in diesem Segment konsequent ausgeschöpft«.
Graumarktgeschäfte gehören zum Geschäftsalltag, berichten DaimlerChrysler-Manager. Wenn eine deutsche Niederlassung ihre Absatzziele nicht ereichen konnte, verkaufte sie mit hohen Rabatten an Graumarkthändler, die diese Autos dann ins Ausland weiterveräußerten. Das schmälert nicht nur die Rendite, sondern verärgert auch die ausländischen Vertriebspartner des Konzerns, denen die Exklusivrechte für ihr Land vertraglich zugesichert sind.
Das Geschäft trieb mitunter seltsame Blüten. So verkaufte auch die Auslandsvertriebsorganisation des DaimlerChrysler-Konzerns an deutsche Graumarkthändler, weil sie die Fahrzeuge in ihren Auslandsmärkten nicht loswurde. Die Graumarkthändler boten die Fahrzeuge dann auch in Deutschland an und erschwerten den eigenen Daimler-Benz-Niederlassungen das Geschäft.
In einem Bericht vom 7. Juli 2004 beschreibt die Konzernrevision ("Hohes Risiko - Schneller Handlungsbedarf erforderlich") solche Geschäfte mit den Vertretungen in Aserbaidschan, Kirgisien und Usbekistan. In den Jahren 2001 bis 2003 lieferte die Vertriebsorganisation DaimlerChrysler Overseas die überwiegende Zahl der Fahrzeuge (durchschnittlich 67,9 Prozent), die sie offiziell an die Regionalvertretungen in den drei Staaten verkaufte, tatsächlich an bekannte Graumarkthändler, die diese Autos dann in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland auf den Markt brachten.
»Die mit Kenntnis von RCENA/3 (Vertrieb MB Osteuropa) durchgeführten Graumarktgeschäfte«, notierte die Konzernrevision, könnten den Absatz in den westeuropäischen Märkten erschweren, in die solche Fahrzeuge gelangten. Zudem droht dem DaimlerChrysler-Konzern noch eine Umsatzsteuernachzahlung für jene Fahrzeuge, die in Deutschland blieben.
»Bei mangelhaften oder fehlenden Ausfuhrnachweisen für Exportgeschäfte besteht das Risiko der Umsatzsteuernachzahlung«, heißt es im Revisionsbericht, »dabei liegt es im Ermessen der Finanzbehörden, eine zusätzliche Strafzahlung zu erheben.«
DaimlerChrysler-Chef Schrempp können die vom Konzern jahrelang geförderten Graumarktgeschäfte kaum verborgen geblieben sein. Die Revisionsabteilung untersteht ihm persönlich. Den brisanten Bericht erhielt unter anderem Steffen Hoffmann, der Leiter des Stabs des Vorstandsvorsitzenden.
Weil diese Geschäfte jahrelang geduldet wurden, hat DaimlerChrysler vor den Arbeitsgerichten, vor denen die entlassenen Vertriebsmanager Kündigungsschutzklagen eingereicht haben, bislang auch eine schlechte Figur abgegeben. Zumal auch die Belege für angebliche private Bereicherung in vielen Fällen nicht stichhaltig sind. So konnten Vertriebsmanager, die von Graumarkthändlern angeblich Vergünstigungen erhalten haben, nachweisen, dass sie ordentliche Rechnungen bekommen und bezahlt haben.
Gar nicht mehr erwähnt im Abschlussbericht der Konzernrevision wird Jürgen Schrempps Bruder Wolfgang, Chef von DaimlerChrysler in Italien. Ihm war vorgeworfen worden, dass ein nicht autorisierter Verkäufer in Deutschland mehrere hundert Smarts mit Preisnachlässen von über 30 Prozent angeboten habe, die aus Italien stammten. Wolfgang Schrempp legte der Revision eine eidesstattliche Versicherung vor, nach der er von möglichen Graumarktgeschäften seines Bereichs nichts gewusst hat.
Für Dieter Zetsche wird der Mercedes-Benz-Vertrieb einer jener Bereiche sein, um die er sich vorrangig kümmern muss, wenn er im September interimsmäßig die Leitung der Mercedes Car Group übernimmt. Die Mannschaft ist durch die Affäre verunsichert, und das Geschäft läuft schlecht, weil das Image der Marke durch Qualitätsprobleme Kratzer abbekommen hat. In den ersten sechs Monaten sank der Absatz in Deutschland um sieben Prozent.
Auf einer außerordentlichen Sitzung, zu der die Verkaufsleiter am vergangenen Donnerstag in Berlin zusammenkamen, wurde ein kleines Notprogramm beschlossen, um den Absatz ein wenig anzukurbeln. Bislang mussten Händler ihre Vorführwagen in der Regel sechs Monate halten, bevor sie diese an Kunden verkaufen konnten. Diese Haltedauer wurde völlig aufgehoben. Jetzt können Vorführwagen, die Händler vom Werk mit 15,8 Prozent Nachlass bekommen, schon nach einem Tag verkauft werden.
Dennoch rechnet der Vertrieb nicht mehr damit, dass er das Absatzziel für dieses Jahr noch erreicht. In Deutschland sollten, ohne Berücksichtigung des Absatzes an Werkangehörige, 256 000 Mercedes-Benz-Fahrzeuge verkauft werden. Jetzt geht der Konzern nur noch von einem Absatz von 220 000 Autos aus.
Die sinkenden Verkaufszahlen und der Produktivitätsfortschritt in den Fabriken beispielsweise bei der bevorstehenden Einführung der neuen C-Klasse führen dazu, dass Mercedes-Benz in Deutschland nach Schätzungen des Managements rund 5000 Arbeitsplätze streichen muss.
Entlassungen schließt der Zukunftssicherungsvertrag, der im vergangenen Jahr abgeschlossen wurde, bis 2012 aus. Deshalb wird es wohl Zetsches erste Amtshandlung als neuer Mercedes-Chef sein, mit dem Betriebsratsvorsitzenden Klemm über ein Abfindungsprogramm zu verhandeln.
Das klingt nach allem, nur nach einem nicht: nach ruhigen Zeiten bei DaimlerChrysler. DIETMAR HAWRANEK