LÖHNE Nichts mehr drin
Tausend Beschäftigte der deutschen ITT-Tochter Standard Elektrik Lorenz ließen die Arbeit Arbeit sein. Im südhessischen Viernheim streikten 410 beschäftigte Arbeiter des Autozulieferers Walker GmbH, bei der Thyssen-Rheinstahl-Tochter Hüller in Ludwigsburg ruhte für 15 Minuten die Arbeit. Gemeinsames Anliegen der Streikenden: das Weihnachtsgeld 1975.
Landauf, landab nämlich nutzen Unternehmer das Weihnachtsfest dazu, übertarifliche Leistungen zu kürzen, die sie alljährlich als Jahresabschlußzahlung, Gratifikation oder Ergebnisbeteiligung spendieren. In Großunternehmen, vor allem aber in mittelständischen Betrieben streiten Betriebsräte mit Bossen um jene Festgelder, die -- juristisch -- so fest gar nicht sind. Vorbehaltsklauseln retten die Unternehmer vor der Pflicht zur Dauerzahlung.
So geschützt, will der Chemieriese BASF 35 Millionen Mark einsparen und zum Fest nur noch 165 Millionen Mark unter seine Mitarbeiter austeilen. Das Versandhaus Neckermann -- traditionell mit schlechter Bilanz -- strich bei so guter Gelegenheit die Prämie gar auf die Hälfte zusammen. Der Reifen-Konzern Continental bleibt zwar im Grundsatz bei der alten Regelung, doch anders als bei BASF wird den Kurzarbeitern die ausgefallene Arbeitszeit bei der Berechnung der Gratifikation nicht anerkannt. Für 15 Prozent der 19 000 Conti-Beschäftigten kann denn Unternehmenssprecher Dieter Haasis »einen gewissen negativen Effekt nicht ausschließen«. Andere Unternehmen, wie die Hoechst AG, lassen ihre Beschäftigten mit dem Hinweis auf Dividendenabhängigkeit der freiwilligen Sonderzahlungen bis auf weiteres im unklaren.
Vor allem aber kleine Betriebe, deren Chefs das Weihnachtsgeld nach Patriarchen-Art gern bei der Betriebs-Adventsfeier im neutralen Umschlag überreichen, gehen nach den Beobachtungen der IG Metall in diesem Jahr dazu über, die Gratifikation auf das »tariflich Vorgeschriebene zu kürzen«.
Den wahren Ausfall an Weihnachtsgeld und Kaufkraft konnte auch ein Computer im Bundesarbeitsministerium nicht schätzen. Das Arendt-Haus hat anhand der Tarifverträge ermittelt, daß für etwa 70 Prozent der 22 Millionen Beschäftigten der Bundesrepublik die Gratifikation oder das 13. Monatseinkommen teilweise oder ganz tarifvertraglich abgesichert sind. Dennoch wird für viele diesmal das Weihnachtsgeld erheblich bescheidener ausfallen. Denn seit Jahren zahlt die Wirtschaft, um ihre Arbeitskräfte bei Laune zu halten, mehr, als die Tarifverträge vorschreiben. Jetzt aber sind die Unternehmen auf die Laune der Bediensteten weniger angewiesen.
In der Metallindustrie. wo zu Weihnachten bis zu 40 Prozent eines Monatseinkommens tarifvertraglich abgesichert sind, oder am Bau, wo es 200 Mark sind, kann kaum etwas den Unternehmer daran hindern, früher gewährte freiwillige Zulagen zu streichen. Um wenigstens etwas noch zu retten, greifen die Rechtsexperten der Gewerkschaften nun zu den Standardurteilen der Arbeitsgerichte. Gelegentlich lassen sich nämlich -- vor allem bei Kleinunternehmen -- gewisse Ansprüche doch noch durchfechten. So entschied das Bundesarbeitsgericht pauschal, daß die Gratifikation ein zusätzliches Entgeh und keine Schenkung ist. Die meistzitierte Entscheidung der Richter in Kassel aber lautet, daß ein Anspruch auf Weihnachtsgeld besteht, wenn dies dreimal hintereinander vorbehaltlos gewährt wurde. Versäumt es das Unternehmen, bei den Zahlungen einen Vorbehalt anzumerken, kann sich der Arbeitnehmer auf »betriebliche Übung« berufen und seinen Arbeitgeber zur Kasse bitten. Erfolgversprechend ist auch eine Klage auf Zahlung, wenn das Unternehmen für ein bestimmtes Jahr Gratifikation angekündigt hat, etwa zur Jahresmitte durch Anschlag am Schwarzen Brett.
Rechtzeitig vor den Zahltagen schärfte inzwischen auch die IG Metall ihren Vertrauensleuten und Mitgliedern ein, peinlich auf die Ansprüche zu achten. Der Tarifexperte des größten Metallbezirks Nordrhein-Westfalen, Kurt Herb, forderte seine Vertrauensleute gar auf, »energischen Widerstand« zu leisten, wenn's ans Kürzen von Übertariflichem geht. Die Kollegen im Handwerk rief IG-Metall-Vorstandsmitglied Ferdinand Koob zur Wehr auf, wo es in den Handwerksbetrieben den »Ton der Betriebsfamilie und Partnerschaft« ohnehin nicht mehr gebe.
Wie viele Millionen in diesem Jahr auf den Lohn- und Gehaltszetteln fehlen werden, kann niemand schätzen. Von der Sparaktion der Unternehmer freilich sind manche Unternehmer selbst betroffen. So schätzt Hubertus Tessar, Sprecher der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, daß die Weihnachtsgeschäfte lahmen werden. »Mehr als elf Milliarden«
wie im Vorjahr -- sind im Einzelhandelsumsatz diesmal »nicht drin«.