Nottötungen in der Mast Warum 13 Millionen Schweine im Müll landen

Ferkel in Mecklenburg-Vorpommern
Foto: Jens Büttner/ dpaDer Mann in dem Schweinestall, lässig auf das Gatter gestützt, schaut sich das Tier an. Seit Tagen hatte sich das Mastschwein in der Krankenbucht kaum bewegt, die Hinterbeine kann es gar nicht mehr benutzen, von seinen Artgenossen wird es geschubst, geärgert und angeknabbert. Nach einer Weile holt der Mann einen Holzknüppel, öffnet das Gatter und drischt auf den Schädel des Tiers ein. Immer wieder, bis es still liegenbleibt.
Tot ist es aber nicht, nach einer Weile - der Mann ist längst weg - hebt es den Kopf, versucht aufzustehen. Erst eine halbe Stunde später kommt der Mitarbeiter wieder und setzt ein Bolzenschussgerät auf dem Kopf des Tieres an - nach minutenlangem Todeskampf, in dem das Schwein zuckend durch die ganze Gitterbox robbt, stirbt das Tier endlich. All das ist auf Video zu sehen, eine Woche lang gefilmt von einer versteckten Kamera im Schweinemastbetrieb von Woosmerhofer Landerzeuger in Vielank in Mecklenburg-Vorpommern.
Als die Tierärztin Diana Plange die Filmaufnahmen sieht, entfährt ihr ein "Oh je!", sie verknotet ihre Hände. So geht es bei einigen Aufnahmen, die der SPIEGEL ihr vorspielt, die Zustände findet sie "absolut unsäglich". Ihr fachliches Urteil: "Es handelt sich hier eindeutig um strafbare Handlungen."
Mehr als 13,5 Millionen Schweine werden "notgetötet"
Jedes fünfte in Deutschland für die Fleischindustrie geborene Schwein erreicht das Schlachtalter gar nicht, weil es erkrankt oder verletzt wird. In Zahlen bedeutet das: Mehr als 13,5 Millionen sogenannter Falltiere werden vorzeitig "notgetötet".
Schon länger gibt es Hinweise darauf, dass kranke oder verletzte Schweine in der Intensivtierhaltung nicht fachgerecht getötet werden. Die aktuellen Aufnahmen zeigen die Grausamkeit: Offensichtlich leidende, kranke Schweine werden mangelhaft betäubt und verenden langsam und qualvoll.
Während der Arbeiter in dem einen Stall das Schwein regelrecht totprügelt, sind auch dokumentierte Tötungen in einer Anlage im brandenburgischen Drebkau dilettantisch: Ein Arbeiter schlägt einem Schwein mit dem Bolzenschussgerät auf den Kopf und setzt das Gerät erst danach an - erkennbar falsch, denn das Schwein zappelt weiter stark, die Betäubung wirkt also nicht richtig.

Schweinemastbetrieb im brandenburgischen Drebkau
Foto: Animal Rights WatchLaut Tierschutz-Schlacht-Verordnung (TierSchlV) muss höchstens 20 Sekunden nach dem fachgerechten Betäuben per Bolzenschussgerät der sogenannte Entblutungsschnitt folgen, der die Schweine erst wirklich tötet. Der Arbeiter in dem brandenburgischen Betrieb scheitert bei dem Versuch: Das Tier bewegt sich weiter stark. Mehrfach ist auf den Aufnahmen zu sehen, wie die Arbeiter viel zu lange mit dem Entblutungsschnitt warten - wenn sie ihn überhaupt machen.
Der Betrieb in Drebkau gehört zur Spreefa GmbH, die wiederum Teil der LFD Holding ist. Die LFD (Landwirtschaftliche Ferkelzucht Deutschland) führt unter anderem die Betriebe des niederländischen "Schweinebarons" Adrianus Straathof weiter, gegen den seit 2014 in Deutschland ein Tierhalteverbot besteht. Straathof gab seine LFD-Anteile an einen Treuhänder ab und zog sich aus der Geschäftsführung zurück. Die Aufnahmen legen nahe, dass auch fünf Jahre später die Missstände nicht vollständig behoben sind.
Achtung, die folgende Fotostrecke könnte für manche Menschen verstörend wirken.

Nottötungen in der Schweinemast: Tierqual für den Profit
Die Aufnahmen wurden mit versteckten Kameras gefilmt, die von Ende Januar und Anfang Februar bis Mai in den zwei Schweineställen der Tierhaltungsbetriebe installiert waren, zusätzlich hat ein Team mit mobiler Kamera gedreht. Die Tierrechtsorganisation Ariwa hat die Videos zugespielt bekommen, dem SPIEGEL und Report Mainz liegen sie ebenfalls vor. Ariwa kennt solche Bilder seit Jahren: "Diese Zustände stellen die Normalität in deutschen Betrieben dar", sagt Sprecherin Sandra Franz: "Die betroffenen Tiere sind von vornherein als 'Verluste' einkalkuliert. Da eine Behandlung der Tiere nicht rentabel wäre, werden sie einem langsamen und leidvollen Tod überlassen."
Ohne Aktivisten bliebe die Öffentlichkeit ahnungslos
Diana Plange zeigt sich bestürzt, überrascht ist auch sie allerdings nicht: "Solche Zustände sind nicht selten." Kontrollen deckten nur einen kleinen Teil auf, sagt Plange. Ohne Aktivisten, die heimlich filmten, würde kaum etwas an die Öffentlichkeit gelangen. Plange ist unerschrocken und hat schon als Amtsveterinärin für Wirbel gesorgt. Heute ist sie Tierschutzbeauftragte des Landes Berlin und kämpft dafür, dass die Zustände in der Tierhaltung verbessert werden.
Die aktuellen Videos aus den sogenannten Krankenbuchten belegen Plange zufolge, dass die Betriebe massiv gegen das Tierschutzgesetz verstoßen. Die handtellergroßen offenen Wunden bei einem Tier an Vorder- und Hinterläufen schätzt sie älter als vier Wochen. Das Tier und auch andere mit verletzten Klauen, schweren Entzündungen oder bewegungsunfähigen Hinterbeinen werden auch mit Behandlung nicht mehr gesund und schlachtfähig - was der einzige Grund wäre, die Schweine leben zu lassen.
Die Ausstattung der Krankenbuchten in den Betrieben entspricht zudem nicht den Vorgaben: Die Abteile sind verdreckt, der Futtertrog ist unter verkrusteten Ablagerungen kaum noch zu erkennen. Die vorgeschriebene Einstreu mit Stroh gibt es nicht, die ersatzweise mögliche weiche Gummimatte liegt in einer Bucht - allerdings ist sie viel zu klein. Der Rest ist harter Beton und Spaltenboden.
Auf Anfrage des SPIEGEL hat die Spreefa, Muttergesellschaft des brandenburgischen Betriebs, eingeräumt, dass die gefilmten Nottötungen "nicht sachgerecht durchgeführt" wurden. Die Mitarbeiter würden geschult, aber: "Das, was auf den Aufnahmen zu sehen ist, entspricht nicht den Sorgfaltskriterien und Vorgaben des Unternehmens." Man habe einen Mitarbeiter anhand der Aufnahmen identifiziert und ihm gekündigt, der Betriebsleiter sei abgemahnt worden.
Woosmerhofer Landerzeuger ließ über eine renommierte Anwaltskanzlei mitteilen, alle Mitarbeiter hätten eine landwirtschaftliche Ausbildung im Bereich Tierproduktion, seien geschult, würden überwacht und hielten sich an die gesetzlichen Vorschriften. Die regelmäßigen Kontrollen durch Veterinäramt und die zuständigen staatlichen Behörden hätten bei den Haltungsbedingungen keine Verstöße gegen tierschutzrechtliche Vorschriften ergeben. Die Nottötungen seien "auf Grund der guten Haltungsbedingungen selten" und würden "tierschutz- und fachgerecht durchgeführt". Die per Video dokumentierte nicht fachgerechte Tötung sei von dem Betrieb "nicht erwünscht und auch nicht geduldet", man habe dem Mitarbeiter fristlos gekündigt. Zu den Zuständen in den Krankenabteilen äußerte sich die Kanzlei nicht.
Für "wenige schwarze Schafe" sind die Zahlen viel zu hoch
Auch wenn die Betriebe einzelne Mitarbeiter verantwortlich machen, bestätigen die Aufnahmen, was schon lange vermutet wird: In der Intensivtierhaltung werden kranke und verletzte Schweine häufig viel zu spät behandelt - und falsch getötet. Schon 2017 hat die Tierärztin Elisabeth große Beilage eine Studie fertiggestellt, für die sie in vier Tierkörperbeseitigungsanlagen (TBA) ging und die angelieferten Schweinekadaver auf "tierschutzrelevante Befunde, die auch für einen Tierhalter erkennbar und bewertbar gewesen wären" untersuchte.
Es war eine ungewöhnliche Studie, denn TBA werden nicht auf Einhaltung der Tierschutzvorgaben kontrolliert. Im Klartext: Wenn ein totes Tier erst auf dem Weg zur Entsorgung ist, kontrolliert niemand mehr, wie es lebte und wie es verendete. Dabei wäre das notwendig: Schon die eher oberflächliche Untersuchung ergab, dass mehr als 13 Prozent der Mastschweine mit "länger anhaltenden erheblichen Schmerzen und/oder Leiden" gelebt hatten, wie es in der Studie heißt. Einige der Schweine kamen sogar lebend in der TBA an.
Insgesamt geht es, so der Befund, um 300.000 Schweine pro Jahr. Die Zahl könne "nicht mit den Versäumnissen und Unterlassungen weniger 'schwarzer Schafe'" erklärt werden, schreibt große Beilage, und sollte "unbedingt Anlass sein, Maßnahmen zur schnellstmöglichen Abstellung zu ergreifen". Die Untersuchung belegt auch, dass die Filmaufnahmen der Aktivisten auf einen verbreiteten Notstand hinweisen: Fast 62 Prozent der von große Beilage kontrollierten Schweinekadaver waren mangelhaft betäubt und/oder getötet worden. Bis heute ist die Untersuchung unveröffentlicht, die Veterinärin hat sich damit offenbar keine Freunde gemacht. Dem SPIEGEL liegt die Studie vor, große Beilage wollte sich dazu auf Anfrage aber nicht äußern.
Gesetzesverschärfung hängt im Landwirtschaftsministerium fest
Der Bundesrat hat zwar im April 2019 entschieden, die Kontrollrechte der Amtstierärzte auf TBA zu erweitern. Aber der Beschluss liegt seither im Bundeslandwirtschaftsministerium von Julia Klöckner (CDU), die sich bisher nicht dazu hat durchringen können, verpflichtende Vorgaben zu machen. Auch wenn die Bundestierärztekammer die Bundesregierung schon vor einem Jahr dazu aufgefordert hat, "unverzüglich" die rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen.
Die Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands e.V. (ISN) hatte schon im März 2018 geklagt, dass immer wieder über die Untersuchung berichtet wird und damals folgende Stellungnahme veröffentlicht: "Seit der Studie - und insbesondere auch seit der Erfassung der Daten Anfang 2016 - ist viel passiert."
Die aktuellen Aufnahmen der dilettantischen Nottötungen in den Betrieben in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern beweisen das Gegenteil. Über die Gründe kann man nur spekulieren, klar ist: Ein Bolzenschussgerät ist nicht so billig wie ein einfacher Holzknüppel. Das Gerät kostet zwischen 100 und 150 Euro, jeder Schuss kostet zudem rund 30 Cent. Und in der Schweinemast zählt jeder Cent.
"Die Tierindustrie ist ein rechtsfreier Raum"
Juristisch ist die Lage allerdings verzwickt: Das deutsche Tierschutzgesetz stellt klar, dass kein Tier unnötig leiden darf, die EU-Verordnung 1099/2009 präzisiert: "Aus Sicht der Ethik ist es zwingend erforderlich, stark leidende Nutztiere zu töten, wenn es wirtschaftlich nicht tragbar ist, das Leiden der Tiere zu lindern." Wirtschaftlich ist es bei einem Preis von weit unter zwei Euro pro Kilogramm Schlachtgewicht so gut wie nie tragbar, kranke Schweine zu behandeln.
Eine seltsame Situation, da gleichzeitig viele Verbraucher in Umfragen betonen, dass ihnen das Tierwohl sehr am Herzen liege. Der Anteil von Bio-Schweinefleisch im Handel liegt aber immer noch bei weniger als einem Prozent. Die Haltungsbedingungen stehen seit Jahren in der Kritik und seit Jahren scheitert die Bundesregierung daran, verpflichtende Vorgaben zu machen.
Die Tierrechtsorganisation Ariwa hält die Tierindustrie für einen rechtsfreien Raum: "Unsere jahrzehntelange Erfahrung zeigt: In deutschen Tieranlagen kann über Jahre vorsätzlich, systematisch und gravierend gegen das Tierschutzgesetz verstoßen werden, unter den Augen der zuständigen Kontrollbehörden und ohne strafrechtliche Konsequenzen."
Strafrechtsprofessor spricht von "Organisierter Kriminalität"
Jens Bülte, Strafrechtsprofessor an der Uni Mannheim, setzt sich wissenschaftlich mit der Frage auseinander, wie das deutsche Tierschutzstrafrecht in Agrarunternehmen angewendet wird. Er schätzt die Situation ähnlich ein wie Ariwa. Ohne Aktivisten, die Schweineställe betreten, kämen nur sehr wenige Fälle an die Öffentlichkeit, sagt Bülte.
Die Kontrollen sind mangelhaft, die Veterinärämter so unterbesetzt, dass statistisch gesehen ein Tierhalter in Nordrhein-Westfalen nur rund alle 15 Jahre mit einer Überprüfung rechnen muss. Trotz vieler Verstöße kommt es nur selten zu Strafverfahren - in der Regel stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Geringfügigkeit oder mangels Beweises ein. "Hier wendet manche deutsche Staatsanwaltschaft geltendes Recht schlicht nicht an", sagt der Strafrechtsprofessor.
Dabei gibt es in der Tierhaltung genauso Wirtschaftskriminalität wie in jeder anderen Branche auch - nach Definition des Bundeskriminalamts handelt es sich in manchen Fällen sogar um Organisierte Kriminalität. Bülte findet die fehlende Strafverfolgung gefährlich, weil das von jedem potentiellen Täter quasi als Aufforderung zur Begehung von Straftaten verstanden werden müsse: "Die kriminologische Forschung zeigt, dass die faktische Sanktionslosigkeit als Ansporn wirkt, gerade in Unternehmen".
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