»Nur die Arbeiterklasse zählt«
SPIEGEL: Nicht einmal die britischen Politiker bezweifeln noch, daß Ihre Nation in eine mörderische Krise abgerutscht ist. Die Preise steigen mit einer Rate von ungefähr 20 Prozent. die Zahl der Arbeitslosen steigt, die Produktion schrumpft, die Industrie verlor 1974 mehr als 14 Millionen Arbeitstage durch Streiks. Geht Britanniens Wirtschaft bankrott?
BENN: Wir befinden uns in einer Zeit starken politischen Wandels -- in einer Zeit, in der eine Menge alter Probleme, die wir lange vor uns hergeschoben hatten, endlich entschieden werden muß. Wir befinden uns am Beginn einer Periode großer, fundamentaler Reformen, die unbedingt erforderlich sind. Um die Instabilität mache ich mir keine Sorgen. Die Briten waren schon immer fähig, sich an neue Entwicklungen anzupassen, weil sie einen ausgeprägten Realitätssinn haben. Was bei uns als umstürzlerisch erscheint, ist viel eher Druck auf Veränderung.
SPIEGEL: Ist es mit fundamentalen langfristigen Reformen getan? Braucht Britannien nicht schnelle Hilfe?
BENN: Als ich China besuchte, sagte man mir dort, es werde 300 Jahre dauern, den Sozialismus in China einzuführen. Ich sagte, das sei sehr lang, und die Chinesen antworteten:« Nehmen Sie doch Britannien als Beispiel. Die Briten bekämpften den Feudalismus, als sie Karl I. 1649 hinrichteten -- vor über 320 Jahren. Und im Britannien von heute gibt es immer noch Überbleibsel von Feudalismus.« Die Chinesen liegen da nicht allzu falsch.
SPIEGEL: Sie richten Ihre Reformpolitik auf die nächsten 300 Jahre aus?
BENN: Meine Strategie ist nicht ganz so langfristig. Aber die Neuordnung der Industrie wird wohl in den nächsten fünf Jahren noch keine statistisch meßbaren Ergebnisse bringen.
SPIEGEL: Bis dahin wollen Sie aber die Macht- und Vermögensverteilung
* In seinem Dienstzimmer vor einer Traditionsfahne britischer Gewerkschaften.
in der Industrie zugunsten der Arbeiter geändert haben?
BENN: Ja, wir haben eine Situation erreicht, in der die Arbeiter erwarten, daß sie den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft einnehmen werden. Wir haben Bedingungen zu schaffen, unter denen es möglich ist, dem Volk Verantwortung zu übertragen. Und das kann nicht dadurch erreicht werden, daß man es einlädt, ein System zu stützen, das es als grundlegend unfair, ungerecht und unbefriedigend betrachtet.
SPIEGEL: Sie wollen einen großen Teil der britischen Industrie voll verstaatlichen oder unter Staatskontrolle bringen. Bleibt dem privaten Sektor überhaupt noch ein Spielraum?
BENN: Seit 1968 haben wir die Wirtschaft nach der Größe der Unternehmen aufgeteilt und erkannt, daß rund hundert Großunternehmen -- seien sie nun in öffentlichem oder Privatbesitz -- einer besonderen Behandlung bedürfen. Alle übrigen Firmen -- 98 Prozent der Gesamtzahl der Unternehmen -, die alle zum privaten Sektor zählen, gehören in eine andere Kategorie. Wir haben erklärt, daß jede Firma über ihre Politik Rechenschaft ablegen muß, wenn sie eine bestimmte Größenordnung erreicht. Wir sind nicht länger bereit, einen öffentlichen Sektor zu akzeptieren, der durch Maßnahmen der Regierung ständig mit Verlust arbeitet, und einen privaten Sektor, der durch Subventionen der Regierung Gewinn abwirft. Bei den 98 Prozent der Firmen. welche die Größenordnung von Monopolunternehmen nicht erreichen, gibt es in unserem Programm kein Konzept und keinen Ehrgeiz zur Verstaatlichung.
SPIEGEL: Werden durch Ihren Versuch, die Kontrolle über die größten Unternehmen zu gewinnen. nicht viele Investoren abgeschreckt, ihr Geld dort anzulegen?
BENN: Ich glaube, wir haben andere Investitionsmotive als den kurzfristigen Profit zu suchen, weil im Gegensatz zu der Behauptung, daß die Industrie langfristig plant und die Regierung ständig wechselt, nur die Regierung den Zeitraum überblicken kann, der für eine industrielle Entwicklung oder einen Neuaufbau erforderlich ist.
SPIEGEL: Was wird das Kriterium sein, nach dem Sie Investitionen in die richtigen Branchen lenken werden. wenn es nicht die Rentabilität sein soll?
BENN: Es hängt davon ab, was Sie unter Rentabilität verstehen. Wenn Sie fragen: »Wollen Sie eine Verzinsung des Kapitals?« so ist die Antwort ja. Aber der Zeitraum für viele Entwicklungen ist weit länger, als die City oder der Investor in Rechnung stellen kann. Für die City ist es schwierig, dies zu glauben und zu verstehen: Uns komm; es darauf an, das Vertrauen wiederherzustellen. Vertrauen ist nicht das, was die City fühlt. wenn sie morgens aufwacht, und was sie über den Industrieminister denkt. Was zählt, ist das Vertrauen der Arbeiterklasse.
SPIEGEL: Deren Vertrauen hängt davon ab, daß man ihre Arbeitsplätze erhält. Welchen Sinn sehen Sie aber darin, Produktionskapazitäten in Industriezweigen wie etwa der Motorradindustrie oder dem Schiffbau zu erhalten, wenn deren Produkte nicht absetzbar sind?
BENN. Sie sind absetzbar.
SPIEGEL: Es scheint, daß die Leute nicht genügend britische Motorräder und Schiffe kaufen wollen.
BENN: Wenn wir die Motorradindustrie nehmen, die auf einem technologischen Niveau arbeitet, das unserem Land vollkommen angemessen ist, so wurde diese Industrie mit einer langen Reihe kapitalistischer Eigentümer völlig zu Hackfleisch gemacht. Nun, da in der Energiekrise der Markt für Motorräder in Amerika rasch wächst, sind wir völlig aus dem Geschäft. Warum? Geschah das, weil die Arbeiter streikten? Nein. Geschah das, weil die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern schlecht waren? Nein. Es lag daran, daß die Arbeitgeber nicht in neue Anlagen investierten, weil sie keinen Profit dabei erkennen konnten.
SPIEGEL: Hilft denn da Verstaatlichung?
BENN: Wenn Verstaatlichung dafür sorgt, daß rasch investiert wird, dann ja. Ich bin allerdings ein sehr strenger Kritiker unserer nationalisierten Industrien, weil sie sehr bürokratisch sind und dazu tendieren, nicht anders als private Unternehmen zu handeln.
SPIEGEL: Die Staatsunternehmen zeichnen sich vor allem durch massive Defizite aus.
BENN: Das ist eine Frage der Preisfixierung. Wenn man Staatsunternehmen einsetzt, um die Inflation zu kontrollieren, erhält man Defizite, die vom Steuerzahler gedeckt werden müssen. Das hat nichts mit Effizienz zu tun.
SPIEGEL: Sie sind ein Gegner der britischen EG-Mitgliedschaft. Mit wem aber wollen Sie noch Geschäfte machen, wenn Britannien auf Ihre Empfehlung hin Europa den Rücken kehrt?
BENN: In dieser Form ist die Frage nicht richtig gestellt. Ich bin ein Mitglied des Kabinetts, das im Vertrauen auf gewisse klare Ziele mit den EG-Mitgliedern neu verhandelt. Das Wichtigste -- und das ist mein Beitrag zu dieser Diskussion -- ist, daß alles mit der ausdrücklichen Zustimmung des britischen Volkes geschieht. Denn, offen gesagt, ist Britannien gegenwärtig kein Mitglied des Gemeinsamen Marktes. Herr Heath trat diesem bei, aber er nahm das britische Volk niemals mit. Der britische Eintritt in den Gemeinsamen Markt war wie eine Herztransplantation von Christiaan Barnard. Die Operation wurde beendet, aber der Patient hatte keinen Vorteil davon.
SPIEGEL: Können Sie mit Ihrer Philosophie von Nationalisierung. Arbeitermacht und mehr direkter Demokratie hoffen, Premier zu werden?
BENN: Manchmal wird mir vorgeworfen, das sei in Wirklichkeit keine Politik, das sei einfach nur Ehrgeiz. Die Antwort darauf ist kurz und einfach: In der britischen Politik gibt es eine Menge von Leuten, die ihr Leben durch Ehrgeiz ruiniert haben. Ich habe nicht die geringste Absicht, das zu tun -- nicht die geringste.