Ökonom Muhammad Yunus "Menschen sind keine Geldmaschinen"
SPIEGEL ONLINE: Seitdem Sie und Ihre Grameen Bank 2006 den Friedensnobelpreis für Ihr Modell des Mikrokredits erhalten haben, gelten Sie als Anwalt der Armen schlechthin. Wie viel darf Ihrer Meinung nach ein Topmanager maximal verdienen?
Yunus: (lacht) So viel, wie der Markt erlaubt. Der Grund, weshalb jemand viel Geld verdient, liegt ja nicht in der Großzügigkeit des Unternehmens, sondern weil diese Person seiner Firma eben eine bestimmte Summe wert ist. Wenn nun der Staat festlegen würde: Ein Manager darf nur eine bestimmte Summe verdienen, dann hätte es manches Unternehmen schwer, gute Leute für verantwortungsvolle Positionen zu finden. Gehälter sollten also immer vom Markt bestimmt werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie propagieren den Markt auch als bestes Mittel gegen Armut.
Yunus: So einfach ist das nicht. Die Grundlagen des freien Marktes in der jetzigen Form sind schädlich. Man muss andere Werte als nur die Gewinnmaximierung durchsetzen. Dann funktioniert der Markt. Banken zum Beispiel geben Armen üblicherweise keine Kredite. Man muss Banken sagen: Auch die Armen haben ein Recht auf Kredite, damit sie sich selbständig machen und sich eine Existenzgrundlage schaffen können.
SPIEGEL ONLINE: Neue Marktwirtschaften wie China und Indien schlagen genau die Richtung ein, die Sie als falsch beschreiben. Der Abstand zwischen Superreichen und Bettelarmen wird immer größer.
Yunus: Diese Länder gestalten den Markt in der Tat nicht richtig. Der Markt entwickelt sich nicht automatisch zum Nutzen der Gesellschaft. Man muss ihn formen, man muss Regeln schaffen und vor allem Werte durchsetzen.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen, es gibt einen guten und einen schlechten Kapitalismus?
Yunus: Kapitalismus per se ist nur die halbe Sache. Es erfordert Arbeit, dass Kapitalismus wirklich allen nützt. Ein Beispiel ist eben das, was die Grameen Bank mit ihren Mikrokrediten unternimmt, nämlich armen Menschen Kredite, manchmal nur umgerechnet fünf Dollar, zu gewähren, damit sie sich selbst helfen können. Wir verlangen das Geld ja mit Zinsen zurück - natürlich ist das Kapitalismus, aber er hilft den Menschen, zumal im Fall der Grameen Bank die Kreditnehmer auch Anteilseigner der Bank sind.
SPIEGEL ONLINE: Das also ist der gute Kapitalismus. Und der schlechte?
Yunus: Im Kapitalismus ist Gewinnmaximierung die grundlegende Philosophie. Aber Menschen sind keine Geldmaschinen. Jeder macht Geschäfte, um Profite zu machen. Warum nicht andere Ziele definieren, zum Beispiel sozial zu sein? Warum verkaufen Pharma-Unternehmen Medikamente, die sie zehn Cent kosten, mit pompöser Verpackung für zehn Dollar? Warum nicht für zehn Cent? Ihr Ziel muss doch in erster Linie sein, Menschen zu helfen, nicht maximale Gewinne zu erzielen. Sozialen Unternehmen gehört die Zukunft.
SPIEGEL ONLINE: Immer mehr Firmen in westlichen Ländern werben inzwischen mit ihrer sozialen oder ökologischen Verantwortung. Biertrinken für den Regenwald, Essen für den Schulunterricht in Afrika - das kommt einem doch sehr als kurzlebige Marketing-Idee vor, Kosmetik fürs Image. Sie selbst haben das heute auf dem Hamburger Trendtag als Karma-Kapitalismus bezeichnet.
Yunus: Ich sage es ja: Den Firmen geht es um Gewinnmaximierung. Jetzt haben sie die soziale Verantwortung gefunden, um damit ihr Bild in der Öffentlichkeit zu verbessern - und letztlich ihre Gewinne zu steigern. Sie wollen allen zeigen: Schaut her, wir sind die Guten. Aber gleichzeitig geht es ihnen natürlich darum, ihren Aktienkurs zu steigern, Gewinne zu maximieren. Das ist ein konzeptionelles Problem.
"Ziel ist nicht, jemanden reich zu machen"
SPIEGEL ONLINE: Ihr Mikrokreditsystem hilft den Menschen aber auch nicht wirklich. Es sichert den Kreditnehmern lediglich ein Überleben auf niedrigem Niveau.
Yunus: Ich differenziere zwischen arm und nicht arm. Das ist ein Riesenunterschied. Ziel ist nicht, jemanden reich zu machen. Ziel ist, dass jemand nicht mehr arm ist. Dafür gibt es Kriterien. Hat jemand ein festes Dach über dem Kopf oder nicht? Schläft jemand in einem Bett oder auf dem Fußboden? Das sind die Unterschiede zwischen arm und nicht arm. Wenn jemand sich Geld leiht und sich selbständig macht, kann er diesen Schritt zwischen arm und nicht mehr arm machen. Er ist nicht mehr abhängig von Arbeitgebern, die ihn ausbeuten, sondern arbeitet für sich. Das ist ein großer Schritt.
SPIEGEL ONLINE: Dafür ist er dann von den Geldgebern abhängig. Rikschafahrer, Schuhputzer, Händler und Handwerker klagen über teils lebenslange Abhängigkeit von Geldgebern. In Indien nehmen sich jährlich Hunderte von Bauern das Leben, weil sie keine Chance sehen, Kredite über 500 Dollar zurückzuzahlen.
Yunus: Das sind aber keine Mikrokredite. In unserem Modell muss sich niemand das Leben nehmen, nur weil er einen Kredit nicht zurückzahlen kann. Man kann die Rückzahlung verschieben oder die Raten verkleinern, was kein Problem ist, denn der Kreditnehmer zahlt ja Zinsen. Und wenn gar kein Geld da ist, muss man eben auch die Berechnung von Zinsen stoppen, denn die Summe der Zinsen darf nicht die geliehene Summe übersteigen...
SPIEGEL ONLINE: ...was allerdings wenig Sinn macht, weil es für den Geldgeber unwirtschaftlich ist.
Yunus: Das mag ökonomisch keinen Sinn machen, aber wir reden von armen Menschen. Also gestalten wir die Regeln so, dass sie den armen Menschen helfen. Genau das meine ich: Wirtschaftliches Interesse kann doch nicht immer nur in Gewinnmaximierung liegen, sondern auch darin, dem Nutzen der Menschen zu dienen.
SPIEGEL ONLINE: In Deutschland gab es die sogenannte Ich-AG: Arbeitslose erhielten vom Staat einen Zuschuss für ihre Existenzgründung. Kann Ihr Mikrokredit-Modell auch sozial Schwachen in Industrieländern helfen?
Yunus: Es funktioniert in Großbritannien, in Frankreich, in den USA. Warum nicht auch in Deutschland? Wenig hilfreich ist dagegen, Menschen Geld zu schenken, also quasi Steuergelder zu verteilen.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie wirklich, dass alle sozial Schwachen arbeitswillig sind? Ist es nicht so, dass Menschen entweder keine Lust haben zu arbeiten oder aus körperlichen oder sonstigen Gründen gar nicht dazu in der Lage sind?
Yunus: Wenn reiche Leute von der Faulheit sozial Schwacher reden, machen sie es sich sehr einfach. Sie wollen sich nur einreden: Die sind selbst an ihrer Armut schuld, ich habe nichts damit zu tun. Schauen Sie es sich an, wer die harte, Schweiß treibende Arbeit in der Welt macht: Es sind die Armen. Um es ganz klar zu sagen: Ich fordere nicht, dass man unter keinen Umständen Geld verteilen darf, ohne es zurückzuverlangen. Aber nur so lange, bis die Menschen in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Oberstes Ziel muss sein, Menschen in die Lage zu bringen, für sich selbst zu sorgen. Wer arm ist, ist bereit, hart zu arbeiten, um aus dieser Situation zu kommen...
SPIEGEL ONLINE: ...oder lässt sich von Extremisten verführen.
Yunus: Exakt. Nehmen Sie die Islamisten: Sie geben den Armen etwas zu essen, außerdem Waffen und eine Ideologie. Es gibt gar keinen Zweifel, dass Armut die Brutstätte von Terrorismus ist.
SPIEGEL ONLINE: Dann also doch lieber Sozialhilfe verteilen?
Yunus: Menschen nur Geld zu geben, nimmt ihnen jede Initiative zur Selbsthilfe, jede Kreativität.
SPIEGEL ONLINE: Warum setzen Sie Ihr Gewicht eigentlich nicht als Politiker in ihrem Heimatland Bangladesch ein, wo derzeit eine Notstandsregierung das Chaos verwaltet? Warum haben Sie Ihre Absicht, mit einer eigenen Partei bei Wahlen anzutreten, verworfen?
Yunus: Ich habe mit vielen Menschen in Bangladesch diskutiert. Die meisten sagten zu mir: Mach ruhig, aber wir können dir nicht helfen. Ich habe festgestellt, dass ich nicht genügend Menschen motivieren kann, um ein schlagkräftiges Team für eine so große Aufgabe zusammenzustellen.
Das Interview führte Hasnain Kazim