Presse Oper und Ostpolitik
Sie hat das lebendigste Feuilleton Englands, beschäftigt den kenntnisreichsten Weinkenner Britanniens als Kolumnisten und veröffentlicht regelmäßig Renntips. Dennoch ist die traditionsreiche Londoner »Financial Times« (FT) ein Business-Blatt -- von Wirtschaftlern für Wirtschaftler geschrieben, und dabei wohl das beste Europas.
»Wir wollen«, erläutert Chefredakteur Sir Gordon Newton das Redaktionsprogramm, »dem Geschäftsmann all die politischen und wirtschaftlichen Informationen geben, die er braucht, um seine Entscheidungen zu fällen.«
Entscheidungshilfe geben 184 hauptamtlich angestellte Redakteure, die ihren Arbeitsplatz in einem düsteren Backsteinbau gegenüber der Londoner St. Pauls-Kathedrale haben. Aus dem Ausland berichten weitere 15 ständige und 80 Teilzeit-Korrespondenten.
Um seine Leser, Europas Banker und Bosse (1500 Exemplare gehen täglich in die Bundesrepublik), auf den verschärften Wettbewerb in der erweiterten EWG vorzubereiten, verdoppelte kürzlich Sir Gordon sein europäisches Korrespondentennetz. Und statt wie bisher eine Seite dürfen seine Europa-Experten seit letzter Woche zwei füllen.
Berichtet wird über alles, was europäische Investoren und Geschäftsreisende interessieren kann: über soziale Unruhen in Italien, Opernpremieren in Hamburg, Brandts Ostpolitik und über das Wetter in Frankfurt oder Genf.
An erster Stelle der Berichterstattung steht der politische Kern einer Nachricht, ob es um einen Bußgeldbescheid des Berliner Kartellamts gegen Westdeutschlands Chemiekonzerne oder den chinesisch-japanischen Handel geht. »Denn«, so Newton, der 1966 wegen seiner Verdienste um den Journalismus geadelt wurde, »ohne den politischen Rahmen zu verstehen, ist keine geschäftliche Entscheidung mehr möglich.«
Mit diesem Konzept gelang es Sir Gordon, in den 22 Jahren seiner Amtszeit die Auflage des Blattes von 50 000 auf 180000 Exemplare zu steigern. Und im Gegensatz zur »Times« des Fleet-Street-Lords Thomson (Auflage: 350 000; Verlust: zwölf Millionen Mark jährlich) macht die FT Gewinn: elf Millionen Mark 1971. Grund: Im Gegensatz zur »Times« wird die FT von Anzeigen geradezu überschüttet.
Das war nicht immer so. Als die FT 1888 als reine Börsenzeitung gegründet wurde, sah ihr Herausgeber Macrae seine Hauptaufgabe darin, jene Firmen zu diffamieren, die im Konkurrenzblatt »Financial News« inserierten.
Aus jener Zeit (genau: 1893) stammt auch die blaßrosa Farbe, die Macrae einführte, um sich auch optisch von der Konkurrenz abzusetzen. Freilich konnte dieser Trick nicht verhindern, daß die FT Ende des letzten Krieges doch von der Konkurrenz geschluckt wurde. Da aber die FT mehr Exemplare druckte als die »Financial News«, behielt ihr neuer Besitzer Name und Farbe bei.
1957 erwarb Lord Cowdray, einer der reichsten Männer Englands, die »Financial Times«. Damit wurde die Zeitung Teil eines Riesen-Imperiums, zu dem heute auch das Polit-Magazin »The Economist«, der Penguin-Buchverlag sowie Öl- und Grundstücksgesellschaften gehören.
Wegen ihrer Verdienste um die Zahlungsbilanz (die FT verkauft jährlich Anzeigen im Wert von zwölf Millionen Mark an ausländische Kunden) erhielt die »Financial Times« 1971 als erste Zeitung den »Queen's Award to Industry«. Seitdem führt das Blatt im Titel das Signum der Auszeichnung. zwei stilisierte Zahnräder unter der britischen Krone -- wie Moskaus »Prawda« den Lenin-Orden.