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FINANZEN Oxer mit Graben

Den Kassen der Sozialversicherungen geht das Geld aus - ein neues Milliardenproblem für Gerhard Stoltenberg. *
aus DER SPIEGEL 13/1988

Das Thema »Entwicklungspolitik« stand auf der Tagesordnung des Bonner Kabinetts. Den Bundeskanzler drängte es jedoch, seinen Ministern mehr Grundsätzliches vorzutragen.

Im Mai werde über einen Nachtrag zum Haushalt dieses Jahres und über den Etat 1989 gesprochen. Dann sei auch darüber zu entscheiden, wie es mit dieser Regierung weitergehen solle, begann Helmut Kohl seinen Vortrag.

Von allen Seiten würden neue Ansprüche an ihn herangetragen. Da heiße es, ein »Geldgesamtpaket« (Kohl) zu schnüren, aufzurechnen, wie es um die Staatsfinanzen bestellt sei und was noch finanziert werden könne. Da gebe es ja einiges, was auf die Bundesrepublik zukomme.

In der Tat, für die Bauern werden Milliarden fällig, und für die Europäische Gemeinschaft wird ebenfalls mehr gebraucht. Auch die Verteidigung wird teurer werden, wenn ein neuer Präsident in den USA sein Amt antritt.

Da müsse die Regierung halt sehen, kam Kohl auf das Thema zurück, was dann noch für die Entwicklungshilfe übrigbleibe. »Man kann Geld, das man nur einmal einnimmt«, so faßte der Kanzler seine ökonomischen Kenntnisse zusammen, »selbstverständlich auch nur einmal ausgeben.«

Helmut Kohl hat sein Problem erkannt, aber wohl nur zum Teil. Die Vorstellung, mit einer großen Kraftanstrengung die aufgetürmte Finanzlast abzutragen, um im Wahljahr 1990 strahlend dazustehen, scheint allzu optimistisch. »Das ist nicht mehr zu schaffen«, meint ein Kabinettsmitglied, »der Stau ist zu groß.«

Dabei geht es nicht mehr nur um die unabwendbaren hohen Haushaltsdefizite. Schmerzlich machen sich jetzt vor allem Versäumnisse und Fehlentscheidungen der Vergangenheit bemerkbar. Just zu der Zeit, da die Steuern nicht mehr so üppig fließen, der Arbeitsmarkt einen kräftigen Schub aus öffentlichen Kassen vertragen könnte und die europäische Schatulle leer ist, geraten die Sozialversicherungen wieder in die roten Zahlen.

Spätestens im nächsten Jahr fehlen der Arbeitslosenversicherung fünf Milliarden Mark - Geld, das nach der Gesetzeslage aus Bonn zugeschossen werden muß. Ausgerechnet zum Wahljahr kommen auch die Rentenfinanzen wieder ins Schwimmen. Einen Kohl-Berater erinnert das an den Pferdesport: »Ein Oxer mit anschließendem Wassergraben.«

Das schwierige Hindernis ist ein Gemeinschaftswerk der Bonner Regierungsequipe. Statt Vorsorge zu treffen für die Zukunft, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge für die Rentner der starken Jahrgänge sorgen müssen (siehe Graphik), griffen die Politiker bislang immer dort zu, wo gerade etwas zu holen war: Die Arbeitslosenversicherung wurde zu Lasten der Rentenkasse saniert, die Krankenkassen zahlten für die Alten, der Bonner Finanzminister wiederum bediente sich aus der Arbeitslosenversicherung.

Exemplarisch für politische Unvernunft ist der Umgang mit der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. Das begann schon unter sozialliberaler Herrschaft, als der Rentenversicherung Geld fehlte. Die Nürnberger wurden verpflichtet, für ihre Arbeitslosen volle Rentenbeiträge zu zahlen - ein durchaus vernünftiger Ansatz, aber teuer. Als die Arbeitslosigkeit stieg, die Zuschüsse aus der Bundeskasse bis auf gut sieben Milliarden Mark wuchsen, änderte Bonn 1983 die Richtung. Die Rentenbeiträge wurden nun nicht mehr nach dem Bruttoeinkommen, sondern nach dem deutlich niedrigeren Arbeitslosengeld berechnet - und mit der niedrigeren Berechnungsgrundlage sanken auch die Überweisungen der Nürnberger an die Alterskasse.

Zusätzlich entlastete Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm die Nürnberger dadurch, daß er die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld verschärfte. Trotz steigender Arbeitslosigkeit hatten so immer weniger Versicherte Anspruch auf Leistungen aus Nürnberg, immer mehr Arbeitslose sackten in die vom Bund gezahlte Arbeitslosenhilfe und weiter in die von den Gemeinden geleistete Sozialhilfe ab.

Noch 1982 waren gut 18 Milliarden Mark Arbeitslosengeld fällig, aber nur rund fünf Milliarden Mark Arbeitslosenhilfe. Vier Jahre später zahlten die Nürnberger, obwohl die Zahl der Arbeitslosen inzwischen um rund 400 000 gestiegen war, nur noch gut 14 Milliarden. Der Finanzminister überwies dagegen neun Milliarden Mark für Arbeitslose, die Blüm aus der Versicherungsleistung hinausgeschoben hatte.

Das aus Nürnberger Sicht erfreuliche Ergebnis: Ende vergangenen Jahres befand sich noch eine Rücklage von gut vier Milliarden Mark in der Arbeitslosen-Kasse.

Das sprach sich bis nach Bonn herum, die Überschüsse aus den Beiträgen der gut 20 Millionen in Nürnberg versicherten Arbeitnehmer wurden schnell kassiert. Nur gegen entsprechenden Ersatz war Finanzminister Gerhard Stoltenberg bereit, Müttern der Jahrgänge vor 1921 nachträglich eine Art Kindergeld - wie von Blüm gewünscht - aus der Bonner Kasse zu zahlen. So wurden die Nürnberger Leistungen wieder ausgeweitet und die Belastungen des Bundeshaushalts durch die Arbeitslosenhilfe verringert.

Weil das noch nicht reichte, verschoben Stoltenberg und Blüm auch noch eine weitere Milliardenlast aus Bonn nach Nürnberg. Die Rücklage der Arbeitslosenversicherung wird dadurch in diesem Jahr aufgezehrt. Von 1989 an fehlen jährlich selbst bei günstiger Wirtschaftsentwicklung um die fünf Milliarden Mark.

Mit der unseligen Gewohnheit, sich fiskalisch von Etatjahr zu Etatjahr zu

retten, ist Kohls Regierung allerdings auf einem gefährlichen Weg. Schon ist eine Entwicklung in vollem Gange, die sehr bald, wenn sie von der Politik weiter ignoriert wird, die Grundlage des klassischen Bismarckschen Versorgungssystems erschüttern wird.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten ist die sogenannte Nettoreproduktionsrate der Bevölkerung von 1,174 (1965) auf 0,6 (1985) gefallen - bei einer konstanten Bevölkerungszahl beträgt die Rate 1,0. Anders ausgedrückt: 1965 kamen noch 1 044 328 Deutsche zur Welt, 1985 waren es nur 586 155.

Gleichzeitig wird die Zeitspanne, in der ein Bundesbürger arbeitet, immer kleiner; er tritt im Schnitt mit 25 Jahren in den Beruf und wird Rentner mit knapp 60 Jahren. Die Lebenserwartung nimmt zu, die Vergreisung des deutschen Volkes ist in vollem Gange. Im Jahre 1960 waren erst 780 000 Bürger über 80 Jahre alt, im Jahr der nächsten Bundestagswahl werden es schon weit mehr als zwei Millionen sein.

Die christlich-liberale Koalition hat die Probleme bisher erfolgreich verdrängt. Sie will nicht zur Kenntnis nehmen, daß ein bedrohlicher Strukturwandel die deutsche Wirtschaft und die Gesellschaft erfaßt hat, gegen den das Sterben der Montanindustrie an Saar, Rhein und Ruhr wie die Pleite eines Zeitungskiosks anmutet.

Vor allem die Sozialversicherungen sind betroffen. Doch unbeirrt geht die Bonner Regierung etwa in der Rentenversicherung davon aus, daß alles auch künftig so funktionieren wird wie bisher. Wenn die Zahl der Beschäftigten um jährlich 100 000 steigt, heißt es in Bonner Beschwichtigungen, und wenn die Löhne um 3,5 Prozent wachsen, dann seien die Rentenfinanzen bis 1991 sicher. Aber die Beschäftigtenzahl steigt kaum noch, die Tarifabschlüsse liegen bei zwei Prozent. Der Trend zur Teilarbeitszeit läßt die Einnahmen der Rentenversicherung schrumpfen.

Außerdem ist Blüm mit seinen Plänen zur Reform des Gesundheitssystems gerade wieder einmal dabei, einen anderen Zweig - die Rentenversicherung - zu belasten. Vom nächsten Jahr an soll die Alterskasse den vollen durchschnittlichen Krankenkassenbeitrag für die Rentner zahlen - gut ein Prozent mehr als derzeit.

Dadurch werden der Rentenversicherung in den beiden nächsten Jahren bis zu vier Milliarden Mark fehlen. Die Bonner Koalition wird nicht verhindern können, daß im Wahljahr wieder einmal die altbekannte Frage gestellt wird: »Sind die Renten sicher?«

Die Ebbe in den Sozialkassen kommt dem Finanzminister denkbar ungelegen. Ohnehin ist nicht zu sehen, wie Kohl sein Versprechen einlösen will, die Nettokreditaufnahme des Bundes wieder zu verringern. Schon 1989, so hatte der Kanzler angekündigt, werde über Steuererhöhungen und Subventionsabbau die Neuverschuldung um zehn Milliarden geringer ausfallen - und dann mit gut 30 Milliarden Mark wieder in dem Rahmen liegen, den das Grundgesetz in Artikel 115 vorschreibt.

Ohne Mühe zählen selbst die Haushaltsexperten der regierenden Koalition für 1989 Positionen zusammen, die den Kreditbedarf allein des Bundes auf weit über 50 Milliarden Mark treiben: 2,5 Milliarden mehr Zinsen für Altschulden, zwei Milliarden Mark mehr für den Verteidigungshaushalt, fünf Milliarden für die Arbeitslosen und eine Milliarde für die Rentenversicherung. Hinzu kommen neue Ausgaben für die EG und den Lohnabschluß des öffentlichen Dienstes.

Schließlich wird 1990 die letzte Stufe der Steuerreform erreicht, die Mindereinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe mit sich bringt. »Die geraten in unglaublich rauhes Wasser«, sagt Rudi Walther (SPD), Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Bundestages, den Regierenden voraus.

Weitsichtige aus dem Regierungslager bereiten denn auch längst vorsichtig den nächsten politischen Salto vor. Neben höheren Schulden und höheren Steuern müsse auch wieder daran gedacht werden, so geben sie zu bedenken, ob sich der Sozialstaat noch alles leisten könne, was er dem Bürger gewährt.

Einer, der mit dem Abbau von Leistungsgesetzen schon große Erfahrungen hat, sagt es deutlich. Wenn die Arbeitslosenversicherung bereits in diesem Jahr Zuschüsse aus Bonn benötige, so meint FDP-Wirtschaftsexperte Otto Graf Lambsdorff, dann müsse »notfalls auch daran gedacht werden, auf der Kostenseite bei der Bundesanstalt für Arbeit einzugreifen« - und das heißt, Leistungen abzubauen.

[Grafiktext]

DIE LAST DER BESTEN JAHRE Modellrechnung des Bundesinnen - ministeriums zur Gesamtbevölkerung (Deutsche und Ausländer) nach Altersgruppen; in Millionen insgesamt 20 bis unter 60 Jahre (Erwerbs-Jahrgänge) unter 20 Jahre 60 Jahre und mehr

[GrafiktextEnde]

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