Paris im Streik Der Tag der Improvisationstalente
Treffpunkt 8.15 Uhr am Haupttor des Gare de lEst in Paris. Isabelle wartet auf ihre Mitfahrgelegenheit. Endlich schert ein alter Renault mit beschlagenen Scheiben aus dem Verkehrsgewühl aus und hält kurz an. Die junge Frau öffnet die Tür und quetscht sich in das vollbesetzte Auto.
Place du General Catroux, 8 Uhr. Oliver, Unternehmensberater, hat seinen Bekannten schon vor Tagen angerufen: Kannst du mich am Mittwoch morgen auf deiner Vespa mitnehmen? Jetzt ist er als Beifahrer auf dem Weg ins Büro in La Defense. Sein Chauffeur schlängelt sich durch die stehenden Autos.
Etwas später am Boulevard de Sébastopol. Julien ist früh aufgestanden, um sich eines der städtischen Leihfahrräder Vélib zu sichern. Im Rad-Körbchen vorne liegen seine Rollerblades. Für den Rückweg, wenn ich Pech habe", sagt er grinsend und tritt in die Pedale.
Streiktag Eins in Paris. Natürlich herrscht Chaos in der Stadt, speziell die Peripherique, der große Autobahnring um die Stadt, und die Boulevards sind an diesem Tage voller als sonst; doch sonst spürt man im Großen und Ganzen kaum einen Unterschied zum normalen Alltagswahnsinn während der Rushhour. Die Streik erprobten Franzosen haben vorgesorgt.
Wie schon vor drei Wochen, als die Verkehrsgesellschaften schon einmal die Arbeit niederlegten, hat sich die Bevölkerung zu Mitfahrgemeinschaften zusammengeschlossen, Räder geliehen, die Turnschuhe übergezogen. Die Berufstätigen aus den Vororten sind heute Morgen früh aufgestanden, um die Staus zu umgehen, oder sind wie Studentin Sophie gestern Abend kurzfristig zu Freunden in die Stadt umgezogen. Meine Cousine wohnt in St-Germain-des-Prés. Von dort kann ich zu Fuß zur Uni laufen. Ich schlafe bei ihr auf dem Sofa, wie auch schon beim letzten Mal, erzählt Sophie.
Die Metro steht bis auf wenige Ausnahmen still
Was das Improvisationstalent betrifft, sind die Franzosen diesmal allerdings noch ein wenig stärker herausgefordert. Denn diesmal verkehren noch weniger Regionalverkehrszüge als zuletzt, die Metro ist bis auf wenige Ausnahmen stillgelegt, der RER-Bahnverkehr in die Vororte fast vollständig eingestellt. Hinzu kommen womöglich noch Stromausfälle, weil auch die Bediensteten der Energieversorger mit Streiks gedroht haben.
150 Millionen Euro pro Tag hatte der Ausstand im Oktober gekostet, diesmal könnte es noch teurer werden. Doch der größte Unterschied im Vergleich zum Streik von vor einem Monat ist, dass diesmal kein Ende absehbar ist. Im schlimmsten Fall können sich die Arbeitsniederlegungen bis zum 20. November hinziehen - bis zu dem Tag also, für den auch die Beamten Aktionen angekündigt haben.
Doch nicht nur die Verkehrsbetriebe und Strom- und Gasversorger protestieren gegen die Sozialreformen der Regierung auch die Fischer, die Minenarbeiter und die Künstler der Opéra de Paris und der Comédie-Française. Sie alle profitieren von teilweise jahrhundertealten Vorruhestandsregelungen. Die Tänzer der Pariser Oper etwa können sich auf eine Renten-Vereinbarung berufen, die 1698 von Ludwig XIV. verabschiedet wurde.
"Règimes spéciaux" kosten fünf Milliarden Euro pro Jahr
Insgesamt profitieren 1,6 Millionen Menschen von diesen, nun auf dem Prüfstand gestellten Vorruhestand-Sonderregelungen. 500.000 davon sind noch beschäftigt, der Rest ist bereits in Rente. Den Staat kosten diese régimes spéciaux jährlich rund fünf Milliarden Euro an Zuschüssen. Eine Stange Geld, die gerne auch schon die Vorgänger von Präsident Nicolas Sarkozy eingespart hätten. Doch ihre Versuche, diese heilige Kuh zu schlachten, scheiterten kläglich. Beim historischen Streik im November 1995 gingen eine Million Menschen gegen die Reform des damaligen Ministerpräsidenten Alain Juppé auf die Straße, der Politiker musste daraufhin seinen Hut nehmen.
Diesmal jedoch steht die französische Bevölkerung in Mehrheit hinter ihrer Regierung. In einer gestern veröffentlichten Umfrage sprachen sich 55 Prozent der Franzosen gegen den Streik aus. Ein guter Rückhalt für Präsident Sarkozy, der sich fest entschlossen gibt, diesmal nicht klein bei zu geben. Bereits seit den frühen Morgenstunden sitzt die Regierung mit den Gewerkschaften am Verhandlungstisch, um eine Lösung zu finden.
Die Präsidentin der Bahngesellschaft SNCF, Anne-Marie Idrac, die in einem Radiobericht die Kosten eines Streiktages allein für die SNCF auf 20 Millionen Euro pro Tag beziffert, hat ihren Mitarbeitern bereits gestern in einem öffentlichen Brief ein Angebot unterbreitet. Es sieht Gehalts- und Rentenerhöhungen für diejenigen vor, die länger als bis zum derzeit gültigen Vorruhestandsalter arbeiten, und verspricht Hilfe für diejenigen, die im höheren Alter auf einen weniger stressigen Posten innerhalb des Unternehmens wechseln wollen.
Gut verdienende Eisenbahner
Bis dato können Eisenbahner in Frankreich mit 55 in Vorruhestand gehen, Zugführer sogar schon mit 50 Jahren. Um eine maximale Rente zu erreichen, muss ein Eisenbahner bisher 37,5 Jahre in das Rentensystem einzahlen. Die französische Regierung will diese Frist nun auf 40 Jahre ausdehnen.
Mit dem Vorruhestand, der auf eine Vereinbarung aus dem Jahr 1850 zurückgeht, soll die hohe Verantwortung und die Beschwerlichkeit des Eisenbahner-Berufes ausgeglichen werden. Eisenbahner verdienen in Frankreich bei einer 35-Stunden-Woche rund 44.000 Euro brutto jährlich. Deutsche Eisenbahner haben eine Arbeitszeit von 41 Stunden pro Woche und verdienen dagegen nur 33.000 Euro brutto. Auch sie können mit 55 Jahren Vorruhestand beantragen, jedoch ist die Anzahl der Genehmigungen auf 7100 Personen pro Jahr begrenzt.
Die französischen Eisenbahner sind also wesentlich besser gestellt als ihre deutschen Kollegen. Trotzdem haben die Gewerkschaften heute Mittag eine Verlängerung des Streiks verabschiedet. Auch morgen werden also die Bahnhöfe und U-Bahnsteige weitgehend verwaist sein, während sich um Paris herum über 200 Kilometer Stau formieren und in der Stadt sich die Anwohner entweder zu Fahrgemeinschaften zusammenschließen oder um die Vélib-Fahrräder reißen.