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STREIK Pflock im Neuland

Versöhnlicher Ausgang des härtesten Arbeitskampfes in der Bundesrepublik: IG Metall wie Arbeitgeber feiern ihren Kompromiß als »Modell für Europa«. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Als alles vorbei war, kam für die Spitzenfunktionäre der IG Metall noch das Schlimmste: Hans Mayr und seine Kollegen mußten ihrer Basis den Kompromiß im härtesten und teuersten Arbeitskampf der deutschen Nachkriegsgeschichte nahebringen.

Im Stuttgarter Gewerkschaftshaus bestätigte sich am vergangenen Mittwoch der alte Gewerkschafterspruch, wonach ein Streik leichter anzufangen als zu beenden ist. Ruppige Parolen wie »Wir wollen keinen Leber-Tran, das ist ein Arbeitgeberplan«, empfingen die erschöpften Gewerkschaftsführer.

Metaller, Streikposten mit den roten Helmen auf den Köpfen, darunter viele ausländische Arbeitnehmer, die den Streik besonders engagiert geführt hatten, unterbrachen mit Pfiffen und Buhrufen den Bericht des Stuttgarter Verhandlungsführers Ernst Eisenmann.

Doch am Ende war das Getöse lediglich jener Lärm, den ein Truppenrückzug mit sich zu bringen pflegt. Leuten wie dem Betriebsratsvorsitzenden der Elektrofirma SEL, Alois Süß, reichte es: Für eine weitere halbe Stunde Arbeitszeitverkürzung »hätten wir noch vier Wochen streiken müssen«. Mit 87 zu 31 Stimmen billigte die Metaller-Tarifkommission den Kompromiß des Schlichters Georg Leber: Die Nation atmete auf, die Zeit der Würdigung begann.

Wolfram Thiele, der Chef des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, glaubt, daß der Kompromiß »vielleicht in ein paar Jahren als etwas Historisches angesehen« wird. Und Thieles Kontrahent Hans Mayr, der IG-Metall-Führer, dachte über die Grenzen hinaus: »Von diesem Arbeitskampf wird man noch lange sprechen, bei uns und in Europa.« Es sei »ein Tor aufgemacht worden«, sagte Mayr, »durch das noch viele gehen werden«.

Georg Leber, der Schlichter, hatte die beiden Parteien, die sich sechs Wochen lang immer tiefer in ihre Stellungen eingegraben hatten, mit den Mitteln des gesunden Menschenverstandes auf den gemeinsamen Weg gebracht: Jeder bekommt etwas, und was er bekommt, kann der andere ertragen.

Die IG-Metall-Führung kann ihren Mitgliedern mit dem 38,5-Stunden-Kompromiß den Einstieg in die 35-Stunden-Woche verkaufen. Die Arbeitgeber sind ihrem lange gehegten Plan nähergekommen, die branchenweiten zentralistischen Tarifverträge aufzubrechen: Mit der Flexibilisierung, die sowohl 37 als auch 40 Stunden Arbeitszeit erlaubt und nur im Betriebsdurchschnitt 38,5 Stunden verlangt, kann die Arbeitszeit in den einzelnen Betrieben so, wie es die Produktion vernünftig erscheinen läßt, verabredet werden.

Jetzt gibt es »Maßanzüge für die Betriebe«, freut sich der Bonner Arbeitsminister Norbert Blüm, »der Tarifvertrag hat einen kleinen Bruder bekommen«.

Der Zeugungsort des neuen Familienmitglieds der bundesdeutschen Arbeitswelt liegt in Italien. Dort nämlich machte Georg Leber, der Geburtshelfer, über Pfingsten Urlaub, als sich Arbeitgeber und IG Metall am Ende der zweiten Juniwoche endgültig verhakt hatten.

Hans Mayr, der stets in sich gekehrte IG-Metall-Chef, hatte seinen Notplan wohl schon lange im Kopf, den er am Donnerstag nach Pfingsten, einen Tag nachdem die Verhandlungen abgebrochen waren, in die Tat umsetzte. Der Gewerkschaftsführer mietete ein Charterflugzeug und flog von Frankfurt nach Verona.

Auf dem Militärflughafen der norditalienischen Stadt stiegen Mayr und sein Begleiter, der IG-Metall-Sekretär Albert Schunk, in ein Auto und fuhren nach Sirmione am Gardasee. Dort, in dem kleinen Hotel La Paül, trafen die Gewerkschafter den ehemaligen Verteidigungsminister und früheren Chef der IG Bau-Steine-Erden, Georg Leber.

Mayr, der seinen Besuch erst am Tag zuvor telephonisch angekündigt hatte, hatte ein wichtiges Anliegen. Auf der Gartenterrasse des Hotels jenseits der Alpen, wo die Sonne beinahe so strahlte wie auf den Plakaten der IG Metall, leiteten die beiden das Ende des Tarifkonflikts ein.

Mayr stellte Leber zunächst eine Frage: Ob er überzeugt sei, daß die wöchentliche Arbeitszeit in Zukunft weniger als 40 Stunden betragen müsse. Als Leber dies bejahte, hatte Mayr nur noch eine zweite Frage: »Bist du bereit, die Schlichtung zu übernehmen?«

Leber, so erzählte er Ende der vergangenen Woche, hätte den Auftrag nicht angenommen, wenn er nicht damals schon eine Idee gehabt hätte, wie der Konflikt zu lösen sei. Der alte Gewerkschafter hatte im Urlaub nützliche Dinge aufgeschrieben: Schon bei dem Gespräch in Sirmione, so Leber, habe er ein Papier in der Tasche gehabt, auf dem er die Grundzüge des nun vereinbarten Kompromisses notiert hatte.

Schon vorher nämlich, erzählt Leber, sei er von Industriellen angesprochen worden, ob er gegebenenfalls als Schlichter zur Verfügung stehe. Und schon damals habe er sich gesagt: »Du kannst erst ja sagen, wenn du einen Kompromiß im Kopf hast.« Auf langen Spaziergängen habe er sich dann die Formel überlegt, die zur Beendigung des Streiks geführt habe. Nur ein einziges Wort, so Leber, sei daran geändert worden.

Wie immer es gewesen sein mag: Ob Leber tatsächlich schon Wochen vor Beginn der Schlichtung den Kompromiß im Kopf hatte oder ob IG-Metall-Chef Mayr bei dem Gespräch in Sirmione etwas nachgeholfen hat - bei seiner Vermittlertätigkeit im Ludwigsburger Schloßhotel Monrepos ließ der gewiefte Taktiker sich jedenfalls nicht anmerken, wieweit seine Überlegungen bereits gediehen waren.

Leber tat so, als käme er wirklich direkt aus dem Liegestuhl und wisse von gar nichts. Mit »Fragen über Fragen« lotete er die Kompromißbereitschaft der Kontrahenten aus.

Arbeitgeber und Gewerkschafter waren des Lobes voll. Anders als der in der Druckindustrie gescheiterte CDU-Politiker Kurt Biedenkopf vermittelte Leber der Runde den Eindruck, zuhören zu können und trotzdem kompetent zu sein.

Den Unterschied zwischen Leber und Biedenkopf orten Teilnehmer der Gesprächsrunden vor allem im Reich der Psychologie. Der an den Arbeitgebern abgeprallte Biedenkopf sei aufgetreten wie ein »Studiosus«. Emsig habe der Professor sich stets Notizen gemacht, nur selten habe er seinen akademischen Habitus abgestreift. Schließlich sei er mit einem eigenen Vorschlag vorgeprescht, ohne daß er die Chancen für eine Annahme genügend erkundet habe.

Leber dagegen, so sein Mitschlichter, der Konstanzer Rechtsprofessor Bernd Rüthers, sei mit »souveräner Leichtigkeit« vorgegangen. Er scheute sich allerdings auch nicht, von seiner Autorität Gebrauch zu machen. »Ich verlange Bewegung, meine Herren«, drängte er immer dann, wenn die Verhandlungen sich festfraßen.

Leber, der aus zahllosen Tarifverhandlungen um die seelische Verfassung der Partner wußte, setzte auf ein bewährtes Druckmittel: Die letzte Verhandlungsrunde zog sich über 21 Stunden hin - so lange, bis auch dem letzten in der Runde der Sinn nur noch nach einem Ende stand.

Einem Vertreter aus der Arbeitgeber-Delegation, dem Mercedes-Personalvorstand Manfred Gentz, verlegte Leber sanft, aber bestimmt den Fluchtweg aus einer der entnervenden Sitzungen. Als Gentz seine Papiere packte, weil er angeblich dringend zu einer wichtigen Sitzung in sein Unternehmen mußte, ermahnte ihn Leber: »Sie wollen doch auch, daß wir fertig werden.«

Als er spürte, daß die Zeit reif war, am Freitag vorletzter Woche, konfrontierte Leber Arbeitgeber und Gewerkschafter

mit seinem Lösungsvorschlag. Auch seinen Mitschlichter Rüthers hatte er erst wenige Stunden zuvor beim Frühstück im Stuttgarter Hotel Graf Zeppelin in seine Pläne eingeweiht.

Die »Schockwirkung«, die der Vorschlag nach den Worten seines Erfinders bei den Tarifkontrahenten auslöste, behandelte Leber nach einem bewährten Rezept. Zunächst warb er in Einzelgesprächen für seine Idee, dann setzte er die Kombattanten massiv unter Druck.

In drastischen Farben malte er aus, welche Folgen ein Scheitern seiner Bemühungen nach sich ziehen würde. »Dies ist«, sagte er, »die letzte Instanz.« Nach einer vergeblichen Schlichtung komme »nur noch der Abgrund«.

Um seinen Drohungen Nachdruck zu verleihen, griff der Routinier zu einer List: Er mobilisierte die Öffentlichkeit. Anders als vorgesehen, kündigte er vergangenen Montag an, daß er am Dienstagvormittag die Presse über den Stand der Schlichtung informieren werde.

Das wirkte. Denn von nun an, so ein Beteiligter, wußten alle, daß Georg Leber gegen jeden, der eine Einigung blockierte, »das Schwert der Öffentlichkeit« schwingen würde.

Trotzdem sah es in der dann folgenden Nacht im Schloßhotel zu Ludwigsburg so aus, als sei Lebers Schwert nicht scharf genug: Bei der IG Metall legte sich der Tarif-Experte Hans Janßen quer. Janßen waren 1,5 Stunden Arbeitszeitverkürzung einfach zu wenig.

Auf der anderen Seite weigerten sich die Arbeitgeber, zusätzlich zu 1,5-Stunden-Arbeitszeitverkürzung die Löhne zu erhöhen. Die Industriellen gaben ihren Widerstand erst auf, als Leber ankündigte, er werde keinem Tarifabschluß zustimmen, der weniger als zwei Prozent Lohnsteigerung vorsehe.

Den bockbeinigen Janßen, dem letztlich die ganze Richtung nicht paßte, räumte Leber mit Hilfe von Hans Mayr und dessen Vize Franz Steinkühler von der Zielgeraden. Leber ließ Mayr und Steinkühler, die in Stuttgart logierten, mitten in der Nacht nach Ludwigsburg herbeischaffen. Nach einem einstündigen Gespräch wußte Leber, daß Janßen auf verlorenem Posten kämpfte.

Am Dienstagmorgen, um 7.00 Uhr, hatte Leber es geschafft. Er verließ den Verhandlungsraum in Ludwigsburg und ließ sich in sein Stuttgarter Hotel chauffieren. Vier Stunden später, nach einem Duschbad und einem kräftigen Frühstück, verkündete er vor der Presse seinen Kompromiß.

»Mit der Wahl Lebers«, da hatte Hans Mayr, der Reisende nach Verona, wohl recht, »haben wir eine glückliche Hand gehabt.«

Die Frage des Publikums, ob Leber den teuren Streik nicht eher hätte abkürzen können, wußte auch »der Mann des Jahres« (ZDF) nicht zu beantworten: »Das kann keiner sagen.«

Tarifkonflikte, das hatte Leber schon in früheren Streiks gelernt, brauchen - wie Birnen und Äpfel - Zeit zur Reife. Das gilt wohl um so mehr, wenn »tarifpolitisches Neuland« betreten wird, wie Lebers Ko-Schlichter Rüthers feststellt.

Der IG Metall fehlen nach Abschluß des Kampfes knapp 500 Millionen Mark in der Streikkasse; Gesamtmetall hat seine Mitgliedsfirmen mit schätzungsweise 900 Millionen Mark unterstützt. Doch diese Kosten wie die kaum abschätzbaren Produktionsausfälle zählt Georg Leber zu den »Verschleißkosten der freiheitlich verfaßten Gesellschaft«, in der Arbeitskämpfe nun einmal unausweichlich seien.

Ob die Auseinandersetzungen mit derart gravierenden Irrtümern und Fehleinschätzungen gepaart sein müssen wie in diesem Streik, ist eine andere Frage.

Die IG Metall setzte die unglückselige Forderung der »35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich« in die Welt, obwohl ihrer Führung klar war, daß eine um fünf Stunden verkürzte Arbeitszeit nie zu erreichen war. Mit der mißverständlichen Formel »Lohnausgleich« war eigentlich nur gemeint, daß trotz kürzerer Arbeitszeit die Nominallöhne nicht sinken sollten. In der Öffentlichkeit wurde die Botschaft meist so übersetzt, als seien die Metaller übergeschnappt: »Die wollen mehr Geld und weniger arbeiten.«

Die Arbeitgeber, befeuert von der Propagandahilfe des Bundeskanzlers Helmut Kohl, glaubten irrigerweise, nur siegen zu können. »Lieber eine Woche Arbeitskampf als eine Minute Arbeitszeitverkürzung«, machte Gesamtmetall-Chef Dieter Kirchner die Unternehmer heiß.

Beide Seiten unterschätzten den Durchhaltewillen ihrer Gegner. Die Gewerkschafter setzten darauf, daß die großen Auto-Konzerne die mittelständische Gesamtmetall-Basis irgendwann zum Einknicken bringen würden. Die Arbeitgeber wollten erst gar nicht glauben, daß die IG Metall überhaupt in den Streik zieht.

Als es dann doch dazu kam, wollte es Kirchner noch immer nicht wahrhaben. »Der Arbeitskampf«, verbreitete er, könne »eigentlich nicht lange dauern«. Die Mitglieder, so Kirchner, stünden ja nicht hinter der IG-Metall-Führung. Heute sind die Arbeitgeber schlauer. Sie hätten, bekannte Ford-Chef Daniel Goeudevert, sowohl die Kraft als auch die Kasse der IG Metall nicht richtig eingeschätzt. »Das war«, so Goeudevert, »der Flop des Jahres.«

Die Rückkehr des Realitätssinns bewirkte Töne, die vor zwei Wochen undenkbar gewesen wären: Georg Lebers »Pflock in der Landschaft«, sagte ein Arbeitgeberfunktionär, sei »ein bedeutender Beitrag zur Modernisierung der Volkswirtschaft«. Er setze für ganz Europa »neue Maßstäbe«.

In ihrem betrieblichen Alltag nämlich sind die Unternehmer künftig beweglicher. Sie können die teuren Fachkräfte, die raren Computer-Fachleute zum Beispiel, weiterhin 40 Stunden in der Woche arbeiten lassen. Die preiswerten und leichter ersetzbaren Kräfte an den Fließbändern dürfen dagegen häufiger pausieren. Hier könnte die Chance mancher Arbeitsloser liegen, wieder einen Job zu bekommen.

Künftig dürfen die wöchentlichen Arbeitszeiten ungleichmäßig, zum Beispiel auf bestimmte Tage, an denen viel zu tun ist, verteilt werden. Dadurch können teure Überstunden entfallen.

Ein weiterer Vorteil für die Unternehmen: Grundsätzlich, das ist die wesentlichste Neuerung, sind die Laufzeiten der Maschinen nicht mehr an die Arbeitszeiten der Bedienungsmannschaften gekoppelt. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, den kostspieligen Maschinenpark optimaler auszunutzen.

Daß die Deutschen mit ihrem Streik womöglich eine »Weichenstellung für die Zukunft« erreicht haben, wie Arbeitgeberführer Thiele meint, schien sich zu Beginn der letzten Woche schon zu bestätigen. Bei Georg Leber meldete sich eine ausländische Delegation, die sich über die Arbeitszeitverkürzung informieren wollte. Die Herren kamen aus Japan.

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