Plastiktüten-Schwemme Ein Beutel erstickt die Welt
Düsseldorf - Der Astronaut der Raumfähre Atlantis staunte nicht schlecht, als er aus dem Shuttle ins All blickte. Ein sanft flatternder Gegenstand schwebte an seinem Fenster vorbei. Verdutzt zückte der Mann seine Kamera und fotografierte das undefinierbare Objekt.
Die Bodenstation analysierte das Bild. Drohte der Mannschaft auf ihrer Mission im September vergangenen Jahres Gefahr? Schließlich gab Houston Entwarnung. Es handelte sich bloß um eine Plastiktüte, die eine Crew achtlos im All zurückgelassen hatte und die jetzt in der Erdumlaufbahn kreiste.
Der Befund sorgte bei der Mannschaft für Heiterkeit. Dabei wirft der Vorfall ein Schlaglicht auf die verhängnisvolle Ausbreitung der Kunststoffbeutel - sogar bis ins Weltall.
In erster Linie ist der unaufhaltsame Siegeszug ein höchst irdisches Problem. Etwa 500 Milliarden Plastiksäcke spucken die Fabriken weltweit pro Jahr aus, schätzt die US-Umweltorganisation Worldwatch. Von der superdünnen Gemüsetüte bis zu extrastarken Müllsäcken reicht das Sortiment.
In Deutschland bringt die Beutelflut kaum noch jemanden auf die Barrikaden - anders als in den siebziger und achtziger Jahren, als Umweltschützer die Parole "Jute statt Plastik" ausgaben. Mülltrennung und Recycling haben das Problem entschärft. In anderen Weltregionen bedroht die Tütenschwemme dagegen Menschen und Tiere in zunehmenden Maß. "Die Tüten werden vor allem in armen Ländern immer gebräuchlicher", sagt Brian Halweil von Worldwatch.
In Bangladesch verstopft der Plastikmüll die Gullys
In Afrika gehen die Menschen immer seltener mit Körben und festen Taschen einkaufen. Stattdessen lassen sie sich Gemüse und Brot in die vorwiegend aus Asien importierten Billigbeutel packen. Mangels flächendeckender Abfallentsorgung verteilt dann der Wind die benutzten Tüten über das Land. Sogar in der Massai Mara, dem berühmtesten Nationalpark Kenias, hängen die bunten Plastikfetzen in den Akazien - für Touristen ein unschöner, aber immer normalerer Anblick.
Genauso ist es auch in anderen Ländern. Südafrikaner bezeichnen die Tüten zynisch als "national flower", Nationalblüte. Die entfaltet auch im Winter ihre volle Pracht und leuchtet weit mehr als nur eine Saison lang. An die tausend Jahre kann es nach Angaben des Uno-Umweltprogramms Unep dauern, bis sich eine herkömmliche Plastiktüte aufgelöst hat.
So sind die Wegwerftaschen auch mehr als ein ästhetisches Problem, das Touristenströme versiegen lässt. "Plastikmüll blockiert Gullys und Siele und führt zu ernsthaften Überflutungen", heißt es in einem Unep-Bericht zur Entsorgungssituation in Kenia. Die Bewohner von Bangladesch haben diese Erfahrung bei den letzten Hochwassern bereits gemacht.
Seehunde werden regelrecht erdrosselt
Kenias Friedensnobelpreisträgerin und stellvertretende Umweltministerin Wangari Maathai sieht noch ein anderes Problem. Sie geht davon aus, dass feuchte Plastiktüten ein günstiges Umfeld für die Verbreitung des Malariaerregers sind.
Tödlich sind die Tüten auch für Tiere. In der Steppe Afrikas verenden Jahr für Jahr Vögel und Säuger, die einen Beutel gefressen haben. Meeresbewohner leiden besonders, denn Plastikmüll absorbiert im Wasser Chemikalien. "Im Pazifik vergiftet Kunststoff massenhaft Albatrosse", sagt Meeresbiologe Stefan Lutter vom World Wildlife Fund (WWF).
Eine Million Seevögel, 100.000 Seehunde und andere Meeressäuger sowie unzählige Fische sterben nach Unep-Angaben jedes Jahr durch den Plastikmüll. Viele werden regelrecht erdrosselt.
Selbst Eisbären sind nicht sicher - die Strömung treibt Plastiktüten bis in die Arktis. Seit Anfang der neunziger Jahre sind die Beutel zwischen Spitzbergen im Nordatlantik und den Falkland-Inseln im Südatlantik omnipräsent, wie der britische Meeresforscher David Barnes beobachtet hat. Das Problem ist kaum in den Griff zu bekommen, auch weil viele Seeleute die Marpol-Charta der Uno-Schifffahrtsorganisation von 1978 ignorieren, die die Entsorgung von Plastik auf hoher See untersagt.
Freunde und Gegner der Tüte bekriegen sich im Internet
An Land hingegen formiert sich Widerstand gegen die Tüten. Nach den Industriestaaten reift auch in den Entwicklungsländern die Erkenntnis, dass die oft kostenlosen Taschen an der Kasse mehr schaden als nützen. Umweltschützer fordern drastische Maßnahmen bis hin zum Totalverbot. Selbst Regierungen schließen sich dem Protest an. Uganda und Kenia folgten im Sommer dem Vorbild Tansanias und führten hohe Steuern auf dünne Tüten ein. Dicke Beutel wurden gleich ganz verboten.
Auch in Ländern, in denen es seit Jahrzehnten zum Lebensgefühl gehört, sich seine Einkäufe ungefragt einpacken zu lassen, findet ein Umdenken statt. Im November 2007 will San Francisco einen Ratsbeschluss vom Frühjahr umsetzen, der Plastiktaschen in größeren Supermärkten und Apotheken verbietet.
In Großbritannien hat die 1500-Einwohner-Gemeinde Modbury mit derselben Maßnahme einen Anfang gemacht; London will nachziehen, weil die Deponien überquellen. Die ersten Supermärkte bringen schon stabile Mehrwegtaschen unter die Leute. Auch Paris verbietet Tüten, die sich biologisch nicht abbauen lassen.
Aktivisten geben rührige Tipps
Die Kunststoff-Lobby läuft dagegen Sturm. In den USA hat der Plastikverband mit www.plasticbag.com eine Netz-Kampagne für besseres Recycling und neue Materialien gestartet. Darin heißt es, dass die konkurrierende Papiertüte bei der Herstellung wesentlich mehr Wasser und Energie verbrauche.
Das bestreiten auch Tütenskeptiker nicht. Sie fragen sich aber, ob die Alternative unbedingt eine Plastik-Wegwerftüte sein muss. Die Regierung von Singapur hat nun mit einem "Bring your own bag"-Aufruf reagiert: An bestimmten Tagen sollen die Bürger ihre eigenen Taschen mit in den Supermarkt bringen.
Auf Internetseiten wie www.reusablebags.com geben Aktivisten zudem rührige Tipps. Sie raten etwa, im Büro stets ein paar Taschen für Kollegen bereit zu halten, damit diese keine neuen Plastiktüten aus der Mittagspause anschleppen.
Die ersten Gewinner der neuen Bewegung zeichnen sich schon ab: In Bangladesch rechnen die Hersteller von Jutetaschen mit deutlich steigenden Absatzzahlen.