
Wohnen in Prag: Platte schlägt Altbau
Wohntrend in Tschechien Sehnsucht nach der Platte
Wer auf einen der unzähligen Prager Türme steigt, der sieht sie in allen vier Himmelrichtungen am Horizont stehen. Wie Trutzburgen umzingeln Plattenbausiedlungen das alte Prag. Jeder dritte Tscheche lebt in der Platte, in der Hauptstadt fast sogar jeder zweite. Und das wird wohl auch so bleiben.
Die Platte ist wieder angesagt. Entgegen allen Prophezeiungen. Laut einer aktuellen Studie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften halten fast 40 Prozent der Tschechen das Leben im Plattenbau für eine "optimale Wohnform". Bei der letzten Umfrage im Jahr 2001 waren es nicht einmal halb so viele. Wer also in den vergangenen Jahren sein Geld in eine Wohnung in einer gigantischen Betonsiedlung aus der kommunistischen Zeit investiert hat, der hat alles richtig gemacht, wie es scheint. Nach einem längeren Preisverfall zieht die Nachfrage mittlerweile wieder an - und mit ihr auch der Preis.
Immobilienmakler bestätigen den Trend. Vor zehn Jahren waren die Betonriesen aus den sechziger bis achtziger Jahren oft noch in schlechtem Zustand. Nun aber habe sich viel getan, sagt Maklerin Iveta Smetanová. "Nicht nur dass die Alteingesessenen bleiben, auch junge Familien zieht es in die Platte." Für eine 80-Quadratmeter-Wohnung, drei Zimmer plus Küche, in einer Prager Platte muss ein Kunde heute umgerechnet gut 100.000 Euro zahlen.
Investition in die Zukunft
Háje, Prager Südstadt. In knapp 20 Minuten gelangt man mit der Metro auf direktem Weg von der Altstadt hierher. Die Südstadt entstand in den siebziger und achtziger Jahren und ist die größte Plattenbausiedlung in der Tschechischen Republik. Mehr als 80.000 Menschen leben hier, eine Stadt in der Stadt. Viele der Wohnblöcke sind mittlerweile wärmeisoliert, marode Fenster wurden ausgetauscht, die Fassaden tragen dezente Farben, die weitläufigen Grünflächen sind gepflegt.
"Schauen Sie sich das an. Die ganzen Kippen." Die Rentnerin Marta Svobodová wohnt schon seit 33 Jahren in der Südstadt. "Aber ansonsten lebt man hier gut. Ich hoffe, dass ich hier sterben werde", sagt sie und fegt den langen, schnurgeraden Gehweg vor ihrem Bau - obwohl von Schmutz und Müll hier kaum eine Spur ist.
Zwei Blöcke weiter kommt die nächste Generation von Südstadtbewohnern aus einem der 15 Eingänge. Ein junges Paar mit Plänen. "Wir werden hierher ziehen. Gerade haben wir uns eine Zwei-Zimmer-Wohnung gekauft", freut sich die junge Frau. Vorher hätten sie weiter Richtung Innenstadt gewohnt, zur Miete. Doch zur Miete zu wohnen heißt in der tschechischen Gesellschaft, in einem Provisorium zu leben. Das soll nun ein Ende haben. Wenn Kinder kommen, will das Paar sogar ein eigenes Haus bauen. "Die Wohnung ist eine Investition für die Zukunft", sagt der Mann, "zum Vermieten oder Spekulieren."
Fragt man hier Familien mit Kindern, dann sind auch sie zufrieden in der Platte. Spielplätze, die Schule, Freunde, der Wald mit Wander- und Radwegen - alles in der Nähe. Auch die Geschäfte für alles Notwendige. Die Infrastruktur funktioniert.
"Es ist wichtig, dass man sich auf dem Weg von der Metro nach Hause für sein Umfeld nicht schämt", meint die 38-jährige Kulturwissenschaftlerin Lucie Zadražilová. Sie leitet eine auf fünf Jahre angelegte interdisziplinäre Studie und sammelt Daten über Geschichte und Charakter, über Vor- und Nachteile von Plattenbausiedlungen. Gerade eine Siedlung wie die Südstadt sei mit der Anbindung an Natur und Stadtzentrum sowie einigermaßen erschwinglichen Preisen "eine ideale Kombination für das städtische Wohnen vor allem für Familien". Damit könnten die neuen Developer-Komplexe, die in den vergangenen Jahren auf einer Wiese im Großraum Prag eilig aus dem Boden gestampft wurden, nicht konkurrieren, bestätigt auch Maklerin Smetanová. Die Platte sei eben erprobt.
Professor neben Fabrikarbeiter
Wohnungskauf, Investition, Lebensqualität - Begriffe, die man in Deutschland nicht mit einem Plattenbau verbindet. Vielmehr Leerstand, Abriss, Rückbau. Den leeren Wohnraum versuchen Ämter immer wieder zu füllen mit jenen, die keine Wahl haben: Flüchtlinge, Asylbewerber.
Doch auch in Deutschland gibt es eine verhaltene Renaissance der Platte. Studenten, Intellektuelle, Künstler entdecken die Platte als kultverdächtigen, nonkonformen Lebensraum, der obendrein billig ist. Der Leipziger Kunsthistoriker Arnold Bartetzky schreibt von "Plattenbausiedlungen als potentiellen Freiräumen für alternative Lebensweisen".
Tschechien ist schon viel weiter. Der Stadtsoziologe Michal Illner lebt seit Jahren in einer Prager Plattenbausiedlung am Stadtrand und bezeichnet sich als "Plattenbau-Patrioten". Er ist ein Beispiel dafür, dass in Tschechien - ganz nach der kommunistischen Devise - bis heute der Professor neben dem Fabrikarbeiter wohnt. "In Tschechien", meint Illner, "leben so viele Menschen in Plattenbauten, dass wir gar nicht mit solch einer Verachtung auf diese Art des Wohnens hinabschauen können."