Profi-Schreiber statt Personalabteilung Arbeitszeugnisse im Akkord

Arbeitszeugnis: Trend zum Einheitstext
Foto: TMNHamburg - Jennifer Herbert liebt die Routine: Rein ins Arbeitszimmer, Computer hochfahren, einmal kurz durchatmen - und dann loslegen: "Günter Mergan war in der Zeit vom 1.1.2002 bis zum 31.3.2010 als Ingenieur in unserem Unternehmen beschäftigt", tippt sie in den PC. Einige Absätze später schreibt sie: "Sein Arbeitsstil ist gekennzeichnet durch größtes Verantwortungsbewusstsein, seine ausgeprägte Selbstorganisation sowie seinen hohen Qualitätsanspruch. Für die Zukunft wünschen wir ihm weiterhin beruflichen Erfolg und alles Gute."
Ein paar Stunden braucht Jennifer Herbert an diesem Montag, dann ist sie mit dem ersten Arbeitszeugnis fertig. Sofort beginnt sie mit dem nächsten. Dieses Mal für die Mitarbeiterin eines anderen Unternehmens. Danach folgt die nächste Beurteilung - für einen Mann aus einer dritten Firma.
Jennifer Herbert macht das jeden Tag, Woche für Woche. Sie verdient ihr Geld damit, Zeugnisse für Firmen zu schreiben, in denen sie nie gearbeitet hat - und deren Mitarbeiter sie nie zu Gesicht bekam. "Das geht gut", sagt sie.
Was für Jennifer Herbert Alltag ist, klingt für Außenstehende merkwürdig, wenn nicht skandalös: Unternehmen lagern das Verfassen von Arbeitszeugnisse an externe Schreiber aus - ohne dass diese jemals die Personen gesehen haben, über die sie urteilen. Dabei ist das Abschlusszeugnis das Kernstück einer jeden Bewerbung. Für die meisten Personalabteilungen ist es das entscheidende Dokument, wenn es um die Vergabe einer Stelle geht.
Oft verändert nur ein einziges Wort die Wirkung eines Zeugnisses. Wenn einem ehemaligen Angestellten etwa die "volle Zufriedenheit" statt der "vollsten Zufriedenheit" über seine Arbeit bescheinigt wurde, lassen potentielle Chefs diesen Bewerber lieber zu Hause. Worauf es beim Schreiben der Zeugnisse folglich ankommt, ist Fingerspitzengefühl und Fachwissen.
Kein Wunder also, dass heute Ratgeber und Software für Arbeitszeugnisse meterlange Regale in Fachbuchhandlungen füllen. Doch obwohl Unternehmen viel Geld in ihre Personalabteilungen investieren, gleichen sich die Beurteilungen der unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Berufen teilweise bis ins kleinste Detail. Der Trend geht zum Einheitszeugnis.
"Ich habe mich gefragt, was kann ich, was anderen Leuten nützt?"
Ein Problem, das Ute Daniel bekannt ist. Die Personalerin arbeitet bei dem Telekommunikationsanbieter Orange. Natürlich sei es enorm wichtig für die Mitarbeiter, dass sich ihr Zeugnis von dem der Kollegen unterscheide. Doch für solche Feinarbeiten hätten die wenigsten Unternehmen Zeit. "Wir haben so viele unterschiedliche Aufgaben zu erledigen", sagt Daniel. "Jede Minute, die wir sparen können, ist viel wert." Für Daniel und ihre Kollegen war es daher ein Gewinn, als sie Jennifer Herbert vor einigen Jahren als Ghostwriterin für Arbeitszeugnisse engagierten.
Herbert ist gelernte Industriekauffrau, doch auf einmal verlor sie ihren Job bei dem Computerhersteller Hewlett-Packard. "Bei HP wurde umstrukturiert, und ich musste mit einer Reihe anderer Leute gehen", erzählt die 40-Jährige. "Damals habe ich mich gefragt, was kann ich, was anderen Leuten nützt?"
Die Idee war schnell geboren: Herbert entschloss sich, Arbeitszeugnisse zu schreiben, denn aus ihrer Erfahrung im Personalreferat bei HP wusste sie: "Die Kollegen haben oft nicht den Kopf frei, um korrekte und dazu noch individuelle Zeugnisse aufzusetzen. Warum sollte ich ihnen diese Last nicht abnehmen?"
Heute geht Herbert bei jeder Beurteilung nach einem bestimmten Prinzip vor: Verlangt ein Mitarbeiter ein Zeugnis, muss sein Chef oder die Chefin als allererstes einen Beurteilungsbogen ausfüllen und dabei Fragen nach der Tätigkeit, Qualität Auffassungsgabe und auch Schnelligkeit ausfüllen. Den wiederum schickt er an Herbert. "Meine Aufgabe ist es dann, alles sinnvoll zusammenzutragen und dabei eine gute Wortwahl zu treffen." Dass sie die Mitarbeiter selbst nie zu Gesicht bekommt, sei nebensächlich. "Meinen Sie, dass das in den Personalabteilungen anders ist?"
Herbert muss auf einen Schlag zig Zeugnisse schreiben
Die Unternehmen schätzen Herberts Dienste. Für die Firmen ist es unwichtig, wer ein Zeugnis verfasst, entscheidend ist, dass es pünktlich und in ordentlicher Form fertig wird. Denn die Personalabteilungen sind oft selbst Opfer von Schrumpfkuren, da kommt es sehr gelegen, wenn man administrative Aufgaben auslagern kann.
Längst ist Herbert nicht die einzige, die Zeugnisse auf Bestellung verfasst. Diverse Anbieter offerieren ähnliche Dienste - die Branche der Ghostwriter wächst.
Vor allem die Wirtschaftskrise hat das Geschäft angekurbelt. Denn die Ghostwriter sind besonders dann gefragt, wenn Unternehmen mehrere Leute entlassen oder ganze Produktionsstätten verlagern. In diesem Fall müssen oft Hunderte Arbeitszeugnisse auf einen Schlag geschrieben werden. "Was den Personalabteilungen ein Graus ist, ist letztlich mein Glück", sagt Herbert.
Zu Herberts Kunden zählen Unternehmen wie der Babynahrungshersteller Milupa, die Investment-Gesellschaft Axa oder der IT-Dienstleister Colt Technology Services. Aber auch kleine Firmen sind mit dem Erstellen von Zeugnissen oft überfordert und lagern diese Aufgabe aus. "Ich bin sehr ausgelastet", sagt Herbert.
30 bis 35 Euro für ein Zeugnis
Wie teuer ein Zeugnis ist, will Herbert nicht öffentlich machen. Das hänge vom Volumen des Auftrags ab und könne stark schwanken, sagt sie lediglich. Brancheninsider berichten aber, dass ein Zeugnis rund 30 bis 35 Euro wert ist, in Einzelfällen auch mehr.
"Das rechnet sich für uns", sagt Ute Daniel von Orange. Andernfalls müsse ihre Abteilung zusätzliche Arbeit leisten.
Auch bei den Mitarbeitern kommen die Fremd-Zeugnisse gut an. "Ich habe noch nie gehört, dass jemand unzufrieden war", sagt Daniel. Selten müsste eine Kleinigkeit korrigiert werden. Die Qualität der Zeugnisse sei sogar gestiegen, seit man sie nicht mehr selbst auf die Schnelle zusammenschustern müsse.
Herbert berichtet ebenfalls über glückliche Mitarbeiter. In einem Fall habe sich jemand bei ihr gemeldet, der von seinem Arbeitgeber schon oft ein Zwischenzeugnis verlangt habe - und jedes Mal aufs Neue enttäuscht war, dass sich die Sätze aus dem vorigen Zeugnis wiederholten. Als Herbert ihm dann ihre Fassung vorstellte, sei der Mann überrascht gewesen. "Ach, so anders kann ein Zeugnis aussehen?"