Radikalreform Obama will Supercop für die Finanzbranche
New York - Sie trafen sich jeden Mittag um eins, und einmal die Woche mussten sie bei ihren Chefs zum Rapport antreten. Dabei erhitzten sich die Gemüter oft so, dass jemand wutentbrannt den Raum verließ. Am nächsten Tag ging dann alles wieder von vorne los. "Es war wie Spülen", berichtet Diana Farrell im "Wall Street Journal". "Du denkst, du bist fertig, und stellst den letzten Teller weg - und dann kommt eine ganz neue Ladung Teller."

Präsident Obama (am Dienstag): Schwieriger Weg durch den Kongress
Foto: NICHOLAS KAMM/ AFPFarrell ist Vizedirektorin des National Economic Councils (NEC), des Wirtschaftsrats im Weißen Haus. Ihre besagten Chefs sind Finanzminister Tim Geithner und Top-Wirtschaftsberater Larry Summers. Und bei dem qualvollen Prozess, den die Ökonomin beschreibt, handelt es sich um eines der bisher größten Projekte, das US-Präsident Barack Obama anzupacken wagt - die größte Reform der Finanzaufsicht seit der Großen Depression in den dreißiger Jahren.
Die Entwirrung und Neuordnung des seit damals fast unveränderten, byzantinischen US-Regulierungsgestrüpps ist lange überfällig: Das bürokratische Labyrinth, Kompetenzgerangel und Flickwerk des amerikanischen Systems gilt als mitverantwortlich für die globale Finanzkrise. Oder zumindest dafür, dass sie nicht zeitig erkannt und abgewendet wurde.
Nach monatelangen, internen Debatten wird Obama die Pläne an diesem Mittwoch endlich offiziell bekanntgeben. Damit läutet er die zweite Phase im Kampf gegen die Krise ein: Bisher war er damit beschäftigt, das wankende System zu stabilisieren, unter anderem mit enormen Staatsinvestitionen. Nun will er das ganze, morsche System umkrempeln, um eine Wiederholung des Debakels zu vermeiden.
Reformbau mit fünf Säulen
Ein Blick auf die Liste der Aufsichtsbehörden und ihrer Abkürzungen zeigt, woran es hakt. Hier bietet sich ein einziger Buchstabensalat: SEC, CFTC, Fed, FDIC, OCC, NCUA, OTS. "Unglücklicherweise haben das Wachstum des Nichtbankensektors wie auch all die Komplexitäten und Finanzinstrumente dieses alte Aufsichtssystem überholt", sagte Obama in einem gemeinsamen Interview mit der "New York Times" und dem Wirtschaftssender CNBC.
Geplant sind nun dramatische Neuerungen, darunter an erster Stelle eine noch stärkere, kontrollierende Machtstellung der US-Notenbank. Gegenwehr ist programmiert: Schon jetzt formiert sich Widerstand - in der Industrie, die sich gegängelt fühlt, und im Kongress, der sofort beginnen wird, das komplexe Maßnahmenpaket zu zerpflücken.
"Es wird wie immer eine schwere Geburt sein", unkte Obama am Dienstag im Rosengarten des Weißen Hauses - und setzte sofort die Daumenschrauben an: "Wir erwarten, dass der Kongress rasch handelt." Ein hochrangiger US-Regierungsvertreter unterstrich die Dringlichkeit am Dienstagabend so: "Wir können es uns nicht leisten, länger zu warten."
Und so hat die Regierung die Maßnahmen in den letzten Tagen schon mal behutsam vorgezeichnet, um potentiellen Aufruhr abzufedern. Geithner und Summers skizzierten die Pläne in einem Essay für die "Washington Post". Das Finanzministerium offenbarte dann am Vorabend der Obama-Rede - die aus dem East Room des Weißen Hauses live im Fernsehen übertragen wird - weitere Details.
Die fünf Säulen der Reform:
- Die Federal Reserve Bank wird zur obersten "Finanzpolizei" - zum "Supercop" der Branche. Sie wird alle großen Finanzinstitutionen, deren Kollaps systemerschütternd wäre, zentral beaufsichtigen und unter anderem dafür sorgen, dass sie ausreichend kapitalisiert sind.
- Exotische Investitionsvehikel wie Credit-Default Swaps (CDS) und andere Derivate werden stärker kontrolliert und aus der bisherigen regulatorischen Grauzone ans Licht gezogen. Rating-Agenturen verlieren ihre Macht über das Schicksal der Finanzkonzerne.
- Zum Schutz der Verbraucher wird eine völlig neue Behörde eingerichtet, eine Consumer Financial Protection Agency - "ein Amt, das sich für Haushalte und Konsumenten einsetzt", wie es am Abend aus dem Finanzministerium hieß. Die anderen Aufsichtsämter werden konsolidiert, Lücken im System werden gestopft, ohne gleich alles neu zu erfinden.
- Die Regierung selbst wird mehr Handlungsfreiheit und neue "Werkzeuge" erhalten, um in Krisenfällen einzugreifen. So soll die staatliche Übernahme bedrohter Banken vereinfacht werden. Bisher liegt diese Autorität ausschließlich bei der US-Einlagensicherungsbehörde FDIC.
- Das Weiße Haus wird international darauf drängen, seine Maßahmen "über die Grenzen hinweg" zu koordinieren.
Besonders kontrovers dürfte die Aufwertung der Fed zum Top-Aufsichtsorgan sein. Das sei, "als gäben die Eltern dem Sohn, der gerade den Familienkombi kaputtgefahren hat, eine größeres und schnelleres Auto", warnte der Finanzprofessor Mark Williams von der Boston University. Selbst Fed-Chef Ben Bernanke gab neulich zu bedenken: "Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Fachkenntnis weiter vergrößern, damit sie den Problemen und Herausforderungen entspricht."
Unter Aufsicht der Fed will das Weiße Haus "höhere Maßstäbe" einführen und dabei vor allem die Kapital- und Liquiditätsvorgaben "für alle Institutionen" verschärfen - also nicht nur für Banken. Je größer und vernetzter die Firma, desto schärfer die Bedingungen. Parallel soll ein beim Finanzministerium angesiedeltes "Gremium aus Regulatoren" breitere Fragen der "Verantwortung im Finanzsystem" regeln - quasi als eine Art Ethikrat für die Wall Street.
Dahinter steckt die Hoffnung, dass Katastrophen wie der Kollaps des weltgrößten Versicherers AIG oder der traditionsreichen Investmentbank Lehman Brothers künftig rechtzeitig identifiziert und abgewendet werden können. In beiden Fällen hatten sich die Firmen wild verspekuliert, ohne dass dies einem zentralen Wachorgan aufgefallen wäre.
Das Gerüst aus alten US-Finanzbehörden, das über die letzten 150 Jahre hinweg geradezu organisch gewachsen ist, soll unter der Schirmherrschaft der Fed im Prinzip weiterbestehen - nur verschlankt. Einige Obama-Berater und demokratische Abgeordnete hatten ursprünglich für die Verschmelzung aller Ämter zu einem einzigen Kontrollorgan plädiert. Doch in intensiven Diskussionen wurde diese Idee fallengelassen.
Kritiker: "Zu groß für die Regierung"
Das Office of Thrift Supervision (OTS) - die US-Sparkassenaufsicht - soll als "schwächstes Glied" in der Kette aufgelöst werden. Das OTS hatte die Probleme der ersten großen Geschäftsbanken, die ins Wanken gerieten (Washington Mutual, IndyMac), nicht bemerkt.
Auch Hedgefonds "und andere private Kapital-Pools" sollen stärker beaufsichtigt und in ihren Geschäften "transparenter" als bisher werden. Mit all diesen Maßahmen hofft Obama zu verhindern, wie er am Dienstag sagte, "dass sich eine solche Krise jemals wiederholt".
Obama gab am Dienstag auch bereits einen Vorgeschmack auf den scharfen Ton seiner Rede. Das jetzige System sei nicht länger tragbar, da von "Mangel an Aufsicht" und "wilder Risikobereitschaft" geprägt. Das habe nicht nur die gesamte US-Wirtschaft gefährdet, sondern "auch einen tiefgreifenden Rezessionseffekt auf die ganze Weltwirtschaft" gezeigt.
Experten monieren jedoch schon die Enormität dieser Eingriffe in das komplexe System. Das Problem, schrieb das "Wall Street Journal", "könnte zu groß für die Regierung sein".
So oder so, es dürfte ein interessanter Gang durch den Kongress werden - zumal ähnliche Ambitionen über die Jahrzehnte hinweg schon oft gescheitert sind. Zwar hieß es aus dem Finanzministerium, dass die führenden Politiker im Senat und im Repräsentantenhaus "mit uns übereinstimmen". Doch lässt das Weiße Haus dem Kongress nur noch wenig Spielraum, um eigene Ideen in das Reformbündel zu schreiben - was schnell zu Verstimmung führen kann.
Obama wird es noch diese Woche merken. Die erste Anhörung ist bereits für Donnerstag im Finanzausschuss des Repräsentantenhauses anberaumt - gefolgt von mehr als einem Dutzend weiterer allein in den nächsten vier Wochen. Man hoffe, sagte der zur Information der Reporter abgestellte Regierungsvertreter, "mit all dem dieses Jahr fertig zu werden".