REFORMHÄUSER Raus aus der Oase
Der Münchner Ernährungswissenschaftler Werner Kohlmorgen wähnt eine seit Jahrzehnten florierende Branche kurz vor dem Kollaps: »Wenn die Grasfresser nicht näher an den Verbraucher gehen«, so Kohlmorgen, »sind sie bald tot.«
Die Grasfresser, von denen der Ernährungsfachmann spricht, sind seit 1930 genossenschaftlich organisierte Reformhäuser, die sich unter dem gemeinsamen »Neuform«-Siegel vereinten. Aus den Fabriken von 72 Herstellern wird ihnen »naturbelassene« Ware geliefert, die ein eigens von der Reform-Fachakademie in Oberstedten bei Bad Homburg eingerichtetes Labor prüft.
Denn den Gesundheitskostjüngern gilt künstliche Düngung oder Nahrungsmittelchemie als Teufelswerk, gegen das sie »naturhafte« Margarine, Vollkorn-Spaghetti oder Bohnensalat in »biologischer Zusammensetzung« aufbieten und zur Schönheitspflege durch Kräuter-Kosmetik rufen.
Die Reformjünger verkaufen ihre »Gesundkost« und »Vollwertnahrung« seit neunzig Jahren nach den Ernährungstheorien aus dem vergangenen Jahrhundert und behaupten steif, die reine Lehre vom gesunden Leben zu verkünden.
Seit Mitte 1976 aber florieren die »Neuform«-Genossen nicht mehr so gut. Im Jahr davor brachten die Deutschen den Reformhäusern noch ein Plus von elf Prozent oder 650 Millionen Mark, neuerdings jedoch stagniert der Umsatz.
Als Verursacher machten die Reformgenossen unter anderem den Diätkost-Hersteller »Schneekoppe« ("eine Tochtergesellschaft von Mutter Natur") aus, die ihre Diät-Ware in Supermärkten und in ganz gewöhnlichen Einzelhandelsläden verkaufen läßt -- Saft- und Kraftprodukte« die, wie der Kölner Drogerie-Dienst »DDD« monierte, »mit dem geschützten Begriff Reform nicht allzuviel zu tun« haben.
»Wir leben nicht in einer Oase«, hatte »Neuform«-Vorstand Erich Alt schon vor sechs Jahren erkannt und ne Genossen beschworen, »es bestehen klare Versorgungslücken -- da müssen wir rein«. Auch die Reformwaren-Hersteher, weitgehend vom Wohlwollen der konservativen Reformgenossen abhängig, drängten auf bessere Nutzung der Marktchancen.
Gemeinsam mit dem Neuform-Aufsichtsratsvorsitzenden Arnulf Wiegand Raiss, Reformjünger der dritten Generation, präsentierte Alt der Branche sein Genesungsrezept: Auch Drogerien und Apotheken sollten nun verstärkt mit Neuform-Depots ausgerüstet werden, in denen 250 der insgesamt rund 2500 Neuform-Artikel feilzubieten seien.
Die murrende Basis, die den Bestand der über 1400 genossenschaftlichen Reformhäuser langfristig durch die Depot-Strategie gefährdet sah, beruhigte Raiss: »Wir fassen die Verträge so ab, daß sich niemand drum reißen wird.«
Da aber hatte er sich geirrt. Trotz hoher Investitionskosten (rund 12000 Mark) und dreiwöchiger Rohkostschulung auf der Neuform-Fachakademie meldeten sich allein 1500 Drogisten, um mit der Neuform-Zentrale handelseinig zu werden. Immerhin rechneten sie sich einen jährlichen Depotumsatz von durchschnittlich 70 000 Mark aus.
Dieser unerwartete Run verschreckte die Reform-Genossen schwer. Eilig setzte die Basis deshalb beim Vorstand durch, die Anträge der Apotheker und Drogisten »restriktiv zu behandeln« -- auch gegen den Druck der Hersteller.
So bekamen denn auch nur 550 Antragsteller bis jetzt den begehrten Depot-Vertrag. Der Rest wurde abgelehnt oder schreckte vor den hohen Anforderungen der Reform-Ideologen zurück.
Einer aus dem Rest der Abgeschmetterten zieht nun vors Münchner Landgericht. Der Aldro-Drogist Erhard Heintz aus dem oberbayrischen Landsberg will die Richter klären lassen, ob Neuform eine marktbeherrschende Stellung einnimmt und -- wenn ja -- zur Kooperation mit den Drogisten gezwungen werden könne.
Das Bundeskartellamt allerdings hat die Frage bereits verneint: Die mit dem Neuform-Siegel markierten Artikel seien dem Gesamtmarkt der Diät- und Reformwaren zuzurechnen. Also sei es auch Sache der Neuform« wie sie ihren Absatz strukturiere.
Neuformer Alt bleibt deshalb stur. Verhandlungen mit dem Bundesverband Deutscher Drogisten hat er erst einmal aufgeschoben. Alt: »Solange ein Drogist gegen uns klagt«. Aber lange wird er seine stramme Haltung wohl kaum durchstehen können. Je länger nämlich der Umsatz stagniert, desto eher sind Reformkost-Produzenten geneigt, sich auch woanders ihren Markt zu suchen, wie das etwa die Achimer Simonsbrot-Fabrik bereits getan hat: Sie beliefert auch den normalen Lebensmittel-Handel. Ähnliches ist vom Hannoveraner »Natura-Werk« zu hören: »Wir liefern auch ohne Neuform-Zeichen.«
Noch wollen die Neuformer aus eigener Kraft den Markt beleben. Alte und schlecht geführte Läden sollen modernisiert, neue eingerichtet werden. Sollte das nicht gelingen, mutmaßt der Düsseldorfer Branchen-Dienst »Markt intern«, könnte das gesamte Reformwaren-Sortiment langfristig in den Lebensmittelhandel abgleiten -- für Neuform und Genossen wäre dann kaum noch Platz.