Reaktor-Neubau Atom-Comeback bringt Deutschland in Nöte
Hamburg - Es war eine historische Entscheidung: 1980, wenige Monate nach der Kernschmelze im US-Reaktor Harrisburg, beschloss Schweden als erstes Land der Welt den Ausstieg aus der Atomkraft. Per Referendum stimmten die Bürger gegen die Risiko-Energie, der Bau neuer Anlagen war in dem skandinavischen Land fortan verboten.
Ebenso historisch ist nun die Entscheidung der Stockholmer Regierung vom Donnerstag: Knapp 30 Jahre nach dem Votum des Volkes kehrt Schweden zur Kernkraft zurück. "Das Gesetz zum Atomausstieg wird revidiert", sagte Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt. Nach einem Beschluss der Mitte-Rechts-Koalition sollen die zehn verbliebenen Reaktoren des Landes nun durch neue ersetzt werden.
Für die Bundesregierung ist die Kehrtwende der Schweden ein Desaster: In der Europäischen Union steht Deutschland nun völlig isoliert da. Nur Belgien fährt noch einen offenen Anti-Atom-Kurs. Alle großen EU-Staaten bekennen sich dagegen zur Kernenergie: Italien hat seinen früheren Ausstiegsbeschluss gekippt, Frankreich errichtet mindestens einen neuen Reaktor in der Normandie, Großbritannien will gleich acht bauen.
Auch kleinere Länder setzen voll auf Uran: In Finnland wird aktuell bereits ein neues Kernkraftwerk errichtet. Osteuropäische Regierungen wollen sogar alte, bereits abgeschaltete Reaktoren wieder ans Netz nehmen - um sich so unabhängiger von russischem Gas zu machen.
Der deutsche Siemens-Konzern mischt im Atomgeschäft ebenfalls kräftig mit. Gerade erst hat das Unternehmen eine engere Zusammenarbeit mit Russland bekannt gegeben. Das Ziel: Der Neubau von Atomreaktoren. Siemens spricht von einem "weltweit wachsenden Markt". Allein China will in den kommenden Jahren massenweise Kernkraftwerke errichten.
Dass nun auch noch Schweden auf die Pro-Atom-Seite wechselt, hat hohen symbolischen Wert: Der Ausstiegsbeschluss von 1980 galt stets als Vorbild für Deutschland - auch wenn die Schweden tatsächlich nur zwei Reaktoren abgeschaltet haben. Stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung nun ebenfalls einknicken wird.
Atom-Comeback schon in diesem Herbst?
Offiziell hält die Große Koalition am Kurs der rot-grünen Vorgängerregierung fest. Doch hinter den Kulissen gärt es gewaltig: CDU und CSU drängen gemeinsam mit den Energiekonzernen massiv auf längere Laufzeiten für die verbliebenen 17 deutschen Reaktoren.
Die Entscheidung der Schweden sei ein "klares Signal", dass Kernkraft als fester Bestandteil zum Energiemix dazu gehöre, sagt denn auch CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Und Bayerns CSU-Umweltminister Markus Söder ergänzt: Im Falle eines Wahlsiegs im Herbst werde man den Atomausstieg rückgängig machen. Schon im vergangenen Jahr hatte die Union beschlossen, mit der Forderung nach längeren Atomlaufzeiten in den Bundestagswahlkampf zu ziehen.
Ebenso deutlich hält die SPD dagegen: "Wenn CDU/CSU das machen, wird es zu massiven Auseinandersetzungen in der Gesellschaft kommen, und alte Konflikte um Risiken und Alternativen werden neu aufbrechen", sagt Michael Müller, Staatssekretär im Umweltministerium. Er hält der schwedischen Regierung eine "völlig kurzsichtige Politik" vor. Wie man auch zur Kernenergie stehe, es sei unbestritten, dass die Zukunft bei erneuerbaren Energien und Effizienztechnologien liege.
Damit ist klar: Die Atomfrage wird eines der Top-Themen im Superwahljahr 2009. SPD und Grüne werden sich mit einer simplen Botschaft an die Bürger wenden: Wer CDU/CSU oder FDP wählt, der bekommt ein Comeback der Atomkraft.
Die Schweden befeuern den deutschen Wahlkampf
Öffentlich fordern die bürgerlichen Parteien zwar nur eine Verlängerung der Laufzeiten für bestehende Kraftwerke. Tatsächlich lässt sich ein Reaktorneubau aber nie ganz ausschließen - wie das Beispiel Schweden zeigt. Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) sagte schon im Februar 2006, es sei schwierig, immer nur über alte Atomkraftwerke zu reden. Die Frage von Neubauten "steht im nächsten Jahrzehnt an". Ein Zitat, das Sozialdemokraten und Grüne im Wahlkampf 2009 gerne aufwärmen werden.
Union und FDP wiederum werden die Vorzüge der Kernkraft preisen, und da geht es vor allem ums Geld. Denn Atomstrom aus bestehenden Anlagen ist vergleichsweise günstig. Gerade in Zeiten teurer Energie ist dies ein wichtiges Argument: Sollten die bürgerlichen Parteien "Billigstrom dank Atom" versprechen, wäre dies für viele Wähler ein verlockendes Angebot.
Die neue Politik der Schweden dürfte den deutschen Wahlkampf sogar noch befeuern. Denn in der zweiten Jahreshälfte übernimmt die Regierung in Stockholm die EU-Ratspräsidentschaft - und Ministerpräsident Reinfeldt machte bereits deutlich, wo er seine Prioritäten sieht: Die schwedische Energiestrategie sei "ein Vorbild für die ganze Welt".
"Ich tue das um meiner Enkel willen"
Ironie der Geschichte: Die Atombefürworter argumentieren ausgerechnet mit dem Umweltschutz - vor wenigen Jahren noch undenkbar. Tatsächlich stoßen Kernreaktoren kein CO2 aus, damit sind sie im Vergleich zu Kohle oder Öl klimafreundlicher (siehe Kasten).
Für die schwedische Regierung war dies der entscheidende Punkt: Bis 2020 will sich das Land komplett unabhängig von Öl machen. Dafür soll zwar auch die Windkraft ausgebaut werden. Doch ohne Kernkraft, so das Kalkül in Stockholm, ist das Ziel nicht erreichbar. "Ich tue das um meiner Kinder und Enkel willen", begründet Wirtschaftsministerin Maud Olofsson von der Zentrumspartei ihr Ja zur Kernenergie.
Mit einer breit angelegten PR-Kampagne unterstützt die Industrie diese Politik. Motto: Atomkraft bedeutet Klimaschutz. Auch in Deutschland fährt die Kernkraftlobby eine ähnliche Linie.
Vor-/Nachteile der Energieträger
Die Energiewirtschaft befindet sich im Umbruch - SPIEGEL ONLINE zeigt die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Energieträger.
Plus:
Minus: Der Ölpreis ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen - und mit ihm der Spritpreis. Autofahrer mussten zeitweise mehr als 1,50 Euro für Benzin zahlen. Die deutsche Volkswirtschaft verliert dadurch Milliardenbeträge, denn das Land ist fast völlig von Importen abhängig. Weltweit liegen die meisten Ölvorkommen in politisch heiklen Regionen wie dem Nahen Osten, Russland, Venezuela oder Nigeria. Versorgungskrisen kann man daher nicht ausschließen. Darüber hinaus ist Erdöl ein endlicher Rohstoff: Die bekannten Vorkommen gehen langsam zur Neige. Große neue Felder wurden in den vergangenen Jahren kaum entdeckt - und wenn, dann nur in schwierig zu erschließenden Gebieten wie der Arktis. Hinzu kommt die CO2-Problematik: Wenn Öl verbrannt wird, entsteht das Klimagas
Plus:
Minus: Weltweit verfügen nur wenige Länder über Gasvorkommen. Entsprechend groß sind die Abhängigkeiten - Deutschland bezieht rund 40 Prozent seines Erdgases aus Russland. Problematisch ist außerdem die noch immer weit verbreitete Bindung an den Ölpreis: Je teurer Erdöl wird, desto teurer wird auch Gas. Stromkonzerne klagen bereits, dass sich Gaskraftwerke kaum mehr rentieren. Private Haushalte kennen dasselbe Problem beim Heizen - Gas ist kaum günstiger als Öl. Auch beim Autofahren stellt Erdgas keine Alternative dar: Der aktuelle Preisvorteil gegenüber Benzin und Diesel liegt nur an der steuerlichen Begünstigung.
Plus: Kohle gibt es fast überall auf der Welt - einseitige Importabhängigkeiten wie beim Gas sind deshalb nicht zu befürchten. Auch Deutschland verfügt über nennenswerte Ressourcen: Braunkohle lässt sich ohne Subventionen fördern, für Steinkohle ist dies bei weiter steigenden Preisen zumindest denkbar. Außerdem reichen die Vorräte so lange wie bei keinem anderen fossilen Energieträger: Schätzungen gehen von rund 200 Jahren aus. Kohle eignet sich vor allem zur Stromerzeugung in der Grundlast - rund 50 Prozent des deutschen Stroms stammen aus
Minus: Kein Energieträger ist so klimaschädlich wie Kohle. Bei der Verbrennung entsteht rund doppelt so viel CO2 wie bei Gas. Problematisch könnte dies vor allem dann werden, wenn man bestehende Atomkraftwerke durch neue Kohlekraftwerke ersetzt - oder wenn Elektroautos künftig in großem Stil Kohlestrom tanken. Bedenklich sind außerdem die Arbeitsbedingungen, unter denen
Plus:
Minus: Der größte Nachteil der Atomenergie ist das Risiko eines GAUs. Selbst wenn man dafür eine geringe Wahrscheinlichkeit unterstellt - der Schaden wäre enorm. Die Katastrophe in
Plus: Die
Minus: In Deutschland ist das Potential der Wasserkraft so gut wie ausgeschöpft. Fast jeder Fluss hat ein Kraftwerk, ebenso fast jeder See. Im Ausland wiederum ist die Wasserkraft zum Teil in Verruf geraten: Riesenprojekte wie der Jangtse-Staudamm in China zerstören die Natur in großem Stil.
Plus: Von allen erneuerbaren Energien ist die
Minus: Kritiker halten Windräder für eine Verschandelung der Landschaft. Außerdem weht der Wind sehr unzuverlässig: Bei einer starken Brise wird das deutsche Stromnetz überlastet, bei Flaute muss Strom aus dem Ausland hinzugekauft werden. Praktikable Speicher für Windenergie gibt es bisher nicht. Ein weiterer Nachteil: Starker Wind bläst vor allem in Norddeutschland, die großen Verbrauchszentren liegen aber im Süden und Westen. Um den Strom abzutransportieren, sind zahlreiche
Plus: Die Sonne ist nach menschlichen Maßstäben eine
Minus: Die Sonne hat den gleichen Nachteil wie der Wind - ihre Energie lässt sich nicht zu jeder Uhrzeit nutzen. Das größte Problem ist jedoch der Preis: Solarstrom
Plus: Holz, Stroh, Mais - beim Verbrennen dieser Stoffe wird nur so viel CO2 freigesetzt, wie die Pflanzen vorher der Atmosphäre entzogen haben.
Minus: In jüngster Zeit gerät die Bioenergie massiv in die Kritik. Denn die Pflanzen benötigen enorme Anbauflächen - und treten damit in direkte Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion. Gerade bei
Plus: Die Wärme im Erdinneren steht rund um die Uhr zur Verfügung. Sie lässt sich sowohl zum Heizen als auch zur Stromerzeugung nutzen. Gäbe es keine Probleme mit der Bohrtechnik, könnte die
Minus: In Deutschland muss man Hunderte oder gar Tausende Meter tief bohren, um ein ausreichendes Temperaturniveau zu erreichen. Die Kosten der Geothermie sind deshalb sehr hoch. Mancherorts gibt es außerdem Probleme mit dem Grundwasser. Andere Länder sind hier aus geologischen Gründen in einer besseren Position: Island zum Beispiel deckt seinen Energiebedarf zum Großteil mit der Wärme aus dem Erdinneren.
Neuen Schwung hat die Atomdebatte außerdem durch den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine erhalten. Nie wurde deutlicher, wie abhängig Europa von russischen Energie-Importen ist. Mit Kernkraftwerken, so die Hoffnung, könne man diese Abhängigkeit reduzieren. Gerade Schweden sieht die geplante Ostsee-Gaspipeline von Russland nach Deutschland äußerst skeptisch - da bietet die Kernkraft eine willkommene Alternative.
Allerdings haben auch die Atomgegner gute Argumente auf ihrer Seite: Das Risiko eines Super-GAU kann niemand sicher bestimmen. Und die Frage der Endlagerung von Atommüll ist nach wie vor ungelöst (siehe Kasten).
Die Stromindustrie spürt Aufwind
Gerade in Schweden weiß man, wie anfällig Kernkraftwerke für Störungen sind: In den vergangenen Jahren gab es mehrere Pannen in den Reaktoren Ringhals und Forsmark. Auch in Deutschland sorgten die Kraftwerke Brunsbüttel und Krümmel für Negativschlagzeilen - betrieben werden sie ausgerechnet vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall.
Konzernchef Lars Josefsson macht nun trotzdem Druck: Er hält es für "sehr wahrscheinlich", dass Vattenfall in Schweden schon in zwei bis vier Jahren Neubauprojekte beschließen werde.
Und auch in Deutschland spürt die Stromindustrie Aufwind: Der Präsident des Deutschen Atomforums, Walter Hohlefelder, sagt: "Wir können zuversichtlich sein, dass es zu einer Laufzeitverlängerung kommt." Nach der Bundestagswahl könnte er Recht bekommen.