Streit über Inflationsrate Erdoğan entlässt Chef der Statistikbehörde

Die Inflation in der Türkei galoppiert. Nach Kontroversen, wie prekär die Lage ist, hat Erdoğan den Chefstatistiker ersetzt. Zudem droht er Medien mit weiteren Maßnahmen gegen »schändliche« Inhalte.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Pressekonferenz im Januar

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Pressekonferenz im Januar

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ADEM ALTAN / AFP

Nach einer Debatte über den rasanten Anstieg der Inflationsrate in der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Leiter der nationalen Statistikbehörde entlassen. Erdoğan ernannte am Samstag den früheren Vizechef der türkischen Bankenaufsicht, Erhan Cetinkaya, zum Nachfolger des bisherigen Behördenchefs Sait Erdal Dinçer.

Dinçer war Anfang Januar in die Kritik geraten, nachdem seine Behörde einen Anstieg der Inflationsrate um gut 36 Prozent im Vorjahresvergleich bekannt gegeben hatte. Dies war der höchste Wert seit mehr als 19 Jahren. Bereits im November 2021 hatte die Inflationsrate rund 21 Prozent erreicht. Erdoğan warf Dinçer Berichten zufolge vor, das Ausmaß der wirtschaftlichen Krise in der Türkei übertrieben dargestellt zu haben.

Dinçer hingegen rechtfertigte die von ihm angegebenen Zahlen. »Ich habe eine Verantwortung gegenüber 84 Millionen Menschen«, sagte der entlassene Chefstatistiker der Wirtschaftszeitung »Dünya«. Es sei nicht möglich, andere Inflationszahlen zu veröffentlichen als jene, die von seiner Behörde festgestellt wurden.

Die Inflation hat sich zu einem der wichtigsten Themen der türkischen Politik entwickelt. Hauptgrund für die Teuerung ist der starke Verfall der Landeswährung. Der Kurs der Lira zum Dollar hat binnen einem Jahr um 45 Prozent nachgegeben. Die Türkei ist stark abhängig von Importen, vor allem von Rohstoffen und von Energie. Als Folge der Inflation waren die Strompreise auf staatliche Anordnung zum Jahreswechsel dramatisch gestiegen.

Neue Welle der Zensur?

Erdoğan warnte am Samstag außerdem die Medien, dass seine Regierung härter gegen die Veröffentlichung von Inhalten vorgehen werde, die mit »moralischen und nationalen Werten nicht vereinbar« seien. Es sei »erforderlich«, die Menschen in der Türkei vor »schädlichen Einflüssen« der Medien zu schützen, um eine »zerstörerische Wirkung« auf die Gesellschaft, auch auf Kinder und Jugendliche, zu minimieren, sagte er.

Türkische Medien stehen zum Großteil unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung, auch die Kontrolle über Inhalte im Internet wurde immer weiter verschärft. 2020 hatte das Parlament ein Gesetz verabschiedet, mit dem Twitter, Facebook und andere soziale Medien strikter kontrolliert werden können.

Kritiker befürchten eine weitere Verschärfung der Zensur. »Das in der Verfassung garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung darf nicht zerstört werden. Die Richtlinie hat keine Rechtsgrundlage, aber in der Praxis bedeutet sie mehr Druck/Zensur«, schrieb der Rechtsanwalt Veysel Ok auf Twitter. Er hat einige namhafte Journalisten bei Prozessen in der Türkei vertreten, unter ihnen Ahmet Altan und »Welt«-Journalist Deniz Yücel, und war 2019 selbst zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.

Der Medien-Ombudsmann Faruk Bildirici warf Erdoğan vor, er beschwöre einen »Ausnahmezustand« gegen die Medien herauf. Menschenrechtsgruppen beklagen häufig, dass regierungskritische Medien in der Türkei zum Schweigen gebracht würden, vor allem seit dem gescheiterten Putsch gegen Erdoğan im Juli 2016.

Am Samstag trat außerdem der seit 2017 amtierende Justizminister der Türkei, Abdulhamit Gul, zurück. Erdoğan ersetzte Gul durch den früheren Vizeministerpräsidenten Bekir Bozdağ aus seiner Regierungspartei. Bozdağ, der zwischen 2013 und 2017 Justizminister war, dankte Erdoğan auf Twitter für das Amt.

irb/AFP/dpa
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