Reform-Streit Weise gegen Schwarz-Rote

Gefährlich, widersprüchlich, kontraproduktiv - die fünf Wirtschaftsweisen gehen mit der Politik der Großen Koalition hart ins Gericht. SPIEGEL ONLINE hat verglichen: Das fordern die Experten - das plant die Regierung.

Berlin - Das Papier steckt voller Tadel und Ermahnungen. In ihrem Herbstgutachten kritisieren die fünf Wirtschaftsweisen die Große Koalition scharf: Die Regierung habe den Aufschwung nur unzureichend für weitere Reformen genutzt. Stattdessen drohten "richtige und wegweisende Reformen konterkariert, wenn nicht sogar zurückgedreht zu werden".

Dass die Reform-Rückschritte die derzeitige Konjunktur gefährden könnten, glauben die Wissenschaftler zwar nicht. Gefahr sehen sie jedoch für die Zukunft: "Ihre hemmende Wirkung wird sich im nächsten Abschwung zeigen und diesen dadurch länger und tiefer ausfallen lassen."

Kein Wunder also, dass FDP-Chef Westerwelle das Gutachten als eine "schallende Ohrfeige" für die Große Koalition bewertete.

Die SPD, deren Vorschläge im Zentrum der Kritik stehen, reagierte empört: Was die Wirtschaftsweisen empfehlen, sei "eine Politik ohne Herz", sagte SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler SPIEGEL ONLINE.

Unions-Fraktionsvize Michael Meister befand: "Sie haben gesagt, dass unsere Reformpolitik gut und richtig war". Die Regierung müsse jetzt aber aufpassen, "nicht falsche Weichen zu stellen". Die Warnung der Ökonomen komme "zur rechten Zeit".

SPIEGEL ONLINE hat verglichen: Was die Wirtschaftsweisen fordern - und was die Koalition plant. Klicken Sie auf eine der folgenden Überschriften, um alle Details zu den Streitpunkten zu erfahren:

Verlängerung von Arbeitslosengeld I

Wirtschaftsweise: Die deutliche Belebung am Arbeitsmarkt sei nicht zuletzt auf die Verkürzung des Arbeitslosengeldbezugs zurückzuführen, schreiben die Wirtschaftsweisen. Empirische Untersuchungen belegten, dass weniger die Höhe der Unterstützungsleistung, sondern in erster Linie die Dauer der Bezüge zu einer längeren Verweildauer in der Arbeitslosigkeit führten. "Wenn in Verkennung des Risikoversicherungscharakters der Arbeitslosenversicherung nach der CDU nun die SPD mit dem Verweis 'Die Kassen geben es her' die Bezugsdauer für ältere Arbeitslose wieder deutlich erhöhen will, mag dies als ein Symbol von sozialer Gerechtigkeit wählerwirksam sein", heißt es in dem Gutachten. In der Sache läge bei diesem Vorschlag aber eine Ausweitung versicherungsfremder Leistungen der Arbeitslosenversicherung vor.

Koalition: Die Regierungsparteien SPD, CDU und CSU halten an dem Ziel fest, das Arbeitslosengeld I von derzeit maximal 18 Monaten auf maximal 24 Monate zu verlängern. Es handele sich dabei um ein "Zeichen des Respekts" gegenüber der Lebensleistung älterer Arbeitnehmer, argumentieren Vertreter beider Seiten. Die SPD spricht auch von einer "Reformdividende", die die Menschen nach Jahren der Einschnitte verdient hätten. Strittig ist aber noch die Finanzierung: Die SPD will zusätzliche Mittel bereitstellen, die CDU will bei jüngeren Arbeitnehmern kürzen. Letzteres lehnt jedoch die CSU ab. Um eine kostenneutrale Lösung zu erreichen, will die CSU den befristeten Zuschuss zum ALG II kürzen, der bisher in Härtefällen beim Übergang von ALG I in ALG II gezahlt wird.

Erhöhung des Arbeitslosengelds II

Wirtschaftsweise: Gegen die Erhöhung des Arbeitslosengelds II bringen die Wirtschaftsweisen fiskalische Argumente vor. Sollten jedoch die derzeit in der Politik diskutierten Vorschläge unter anderem einer "Erhöhung des Regelsatzes von Arbeitslosengeld II ganz oder teilweise umgesetzt werden, wird der im Rahmen der Prognose ermittelte Haushaltsüberschuss infolge zusätzlicher Ausgabensteigerungen verfehlt werden".

Das Ziel der Politik, Geringverdienern durch ergänzende Zahlungen ein ausreichendes Auskommen zu sichern, halten die Wirtschaftsweisen im Prinzip für richtig. Allerdings stelle der Erwerbstätigenzuschuss einen Systembruch dar, denn Arbeitslosengeld II sei ebenfalls eine Art Kombimodell: Mit der Zahlung der Grundsicherung seien nämlich Hinzuverdienstmöglichkeiten verknüpft. "Kurzum, da der Erwerbstätigenzuschuss in sich widersprüchlich, teuer und kaum zur Stimulierung der Beschäftigung tauglich ist, sollte er schnell wieder von der politischen Agenda zurückgezogen werden." Handlungsbedarf beim Nebeneinander von Arbeitslosengeld II und Erwerbseinkommen gebe es zwar durchaus, "der richtige und überlegene Ansatzpunkt ist aber eine Reform der Hinzuverdienstmöglichkeiten des Arbeitslosengeld II."

Koalition: Das Kabinett hatte im Sommer einen Prüfauftrag erteilt, ob die ALG-II-Sätze auf Grund der steigenden Lebensmittelkosten angehoben werden sollen. Arbeitsminister Müntefering (SPD) ist nun zu dem Schluss gekommen, dass eine Erhöhung der Regelsätze ebenso wie des Schonvermögens nicht nötig ist. Die SPD will stattdessen zusätzliche Mittel für arme Kinder bereitstellen. Auch fordert sie einen Erwerbstätigenzuschuss für Arbeitnehmer, die mit ihrem Einkommen nicht das Existenzminimum erreichen. Letzteren lehnt die Union ab: Das sei nicht finanzierbar.

Ausnahmen bei der Rente mit 67

Wirtschaftsweise: Die Experten lehnen jegliche Aufweichung der Rente mit 67 ab. Die in der ersten Hälfte der Legislaturperiode beschlossene Reform verbuchen sie auf der Habenseite der Regierungsarbeit. Sie leiste einen erheblichen Beitrag dazu, das Rentensystem auf Dauer zu finanzieren. Hinzu komme die positive Wirkung für den Arbeitsmarkt, speziell vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels. Erfahrene Mitarbeiter, so das Kalkül der Experten, könnten so zwei Jahre länger zum Volkseinkommen beitragen. Auch das Argument drohender Einkommensverluste im Alter lassen die Forscher nicht gelten. Die private Vorsorge werden zunehmend zur Sicherung des Lebensstandards im Alter beitragen, schreiben sie. "Die wachsende Inanspruchnahme insbesondere der Riester-Rente und der Betrieblichen Altersversorgung sind ermutigenden Entwicklungen für einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung."

Koalition: Die SPD will Ausnahmen für körperlich anstrengende Berufe bei der Rente mit 67 durchsetzen. Auch soll der flexible Übergang in die Rente über Altersteilzeit und Teilrente ab dem 60. Lebensjahr erleichtert werden. Die Union lehnt solche Nachbesserungen ab.

Mindestlöhne

Wirtschaftsweise: Die Einführung weiterer branchenspezifischer Mindestlöhne werde das Wachstum der betroffenen Wirtschaftszweige spürbar bremsen, warnen die Weisen. Negative Auswirkungen befürchten sie insbesondere für weniger qualifizierte Arbeitnehmer, deren Beschäftigungschancen spürbar sinken würden. Speziell im Fall des Post-Mindestlohns dränge sich überdies der Verdacht auf, dass Konkurrenten der Post vom Markt ferngehalten werden sollten. Sichtbarer Ausdruck für dieses Motiv sei das Bedauern der Post über einen aus ihrer Sicht zu niedrigen Tarifvertrag: Die Post hatte beklagt, dass der dort vereinbarte Mindestlohn noch unterhalb des betreffenden Haustarifs liege. "Klagen über zu niedrige Tariflohnabschlüsse kamen bisher in der Regel von Seiten der Arbeitnehmer", sticheln die Wirtschaftsweisen. Der Post-Mindestlohn sei daher "strikt abzulehnen".

Koalition: Die Koalition hatte sich auf der Kabinettsklausur in Meseberg darauf verständigt, die Briefträger ab 1.1.2008 in das Entsendegesetz aufzunehmen und so einen verbindlichen Mindestlohn in der Branche einzuführen. Nach den Vorstellungen der SPD soll als Basis der Tarifvertrag gelten, den der Post-Arbeitgeberverband kürzlich mit der Gewerkschaft Ver.di geschlossen hat. Damit läge der Mindestlohn je nach Lohngruppe zwischen acht Euro und 9,80 Euro. Die Union bezweifelt jedoch, dass dieser Tarifvertrag die Hälfte aller Briefzusteller in Deutschland erfasst. Letzteres ist die Voraussetzung dafür, dass ein Tarifvertrag für allgemein gültig erklärt werden kann. Ein Ausweg soll nun durch eine genauere Definition der Briefzusteller gefunden werden - Zeitungsboten etwa, die gelegentlich einen Brief zustellen, sollen nicht erfasst sein. Arbeitsminister Müntefering begründet den Post-Mindestlohn formal damit, dass die Tarifpartner mit dieser Forderung an ihn herangetreten sind.

Eingrenzung der Leiharbeit

Wirtschaftsweise: Energisch wenden sich die Wirtschaftsweisen gegen Pläne, die Flexibilisierung der Leiharbeit "wieder auf breiter Front zurückzudrehen". Die Deregulierung der Leiharbeit durch das Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt habe erheblich zur Zunahme der Erwerbstätigkeit beigetragen, begründen die Experten ihr Veto. Unternehmen könnten möglicherweise schneller bereit sein, Arbeitsplätze zu schaffen, weil ihre finanziellen Risiken bei Leiharbeit geringer ausfielen.

Koalition: Die Leiharbeitsbranche ist die nächste Branche, in der die SPD einen Mindestlohn einführen will. Auch sollen Leiharbeiter nach einem Beschluss des SPD-Parteitags nach sechs Monaten in einem Unternehmen der Stammbelegschaft gleichgestellt werden. Damit soll Missbrauch verhindert werden. Zu häufig würden Leiharbeiter benutzt, um reguläre Arbeitsplätze zu ersetzen und die Löhne zu drücken, argumentiert die SPD. Die Koalition wird sich aber wohl erst im Frühjahr nach den Landtagswahlen in Niedersachsen, Hessen und Hamburg damit beschäftigen. Die Union lehnt die SPD-Forderungen bislang ab.

Begrenzung ausländischer Staatsfonds

Wirtschaftsweise: Die Angst vor einem Ausverkauf deutscher Unternehmen ausländische Staatsfonds etwa aus China oder Russland halten die Forscher für unbegründet. Dass es durch Übernahmen tatsächlich zu Beeinträchtigungen von Gemeinwohlinteressen kommen könnte, sei zwar nicht auszuschließen; dies wäre allerdings unabhängig davon, wer der Investor sei. Um der Gefahr einer unerwünschten Dominanz zu begegnen, reichten die bereits existierenden Regeln dagegen völlig aus, heißt es in dem Gutachten.

Der Schaden eines gesetzlichen Schutzes vor Staatsfonds sei jedenfalls größer als der Nutzen. Deutsche Investoren engagierten sich in großem Ausmaß im Ausland. Man müsse deshalb ein ausgeprägtes Interesse an offenen Kapitalmärkten haben.

Die Experten können sich aber eine Ergänzung des Kartellrechts vorstellen, die die Marktmacht einzelner Konzerne speziell auf dem sensiblen Energiesektor wirksamer zu begrenzen hilft.

Koalition: Das Finanzministerium von Peer Steinbrück (SPD) arbeitet derzeit an der Einrichtung eines deutschen Schutzfonds, der Übernahmen wichtiger deutscher Unternehmen durch ausländische Groß-Anleger verhindern soll. Der Fonds müsste nach Expertenmeinung mit 20 Milliarden Euro privaten Kapitals von deutschen Geld-Instituten und Versicherungen ausgestattet sein. Er soll Sperrminoritäten in ausgewählten deutschen Unternehmen erwerben. Im Kanzleramt wird der Plan skeptisch gesehen.

Mitarbeit: Björn Hengst

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